Félicitations, Jean Tirole!

Monika Bütler und Urs Birchler

Mit Jean Tirole hat heute nicht nur ein brillanter Forscher den Wirtschaftsnobelpreis zuerkannt bekommen, sondern auch ein toller Lehrer und ein äusserst liebenswürdiger Mensch.

Wir haben beide unabhängig voneinander Kurse von Jean Tirole im Studienzentrum Gerzensee besucht. Beeindruckt waren wir von Jeans Flair, komplizierte Sachverhalte zunächst auf einfache Modelle zurückzuführen. Dies braucht Mut: mit der Abstraktion macht sich ein Forscher auch angreifbar gegen den Vorwurf übermässiger Vereinfachung. Uns schien eine andere Gefahr wichtiger: Vieles kommt bei Jean Tirole derart elegant daher, dass es fast trivial aussieht. Aber wehe: Wer glaubt, das Gehörte an der Prüfung oder im eigenen Unterricht locker wiedergeben zu können, kann eine böse Überraschung erleben! Wir sprechen aus Erfahrung.

Jean Tiroles Forschung ist ein Musterbeispiel für den Umgang mit ökonomischen Modellen. Einerseits: Ohne Modell sieht der Ökonom genause wenig wie der Kurzsichtige ohne Brille. Je einfacher das Modell, desto schärfer die Brille. Andererseits: Das richtige Modell hängt vom Zweck ab, wie Jean Tirole auf dem Gebiet der Industrieökonomik immer wieder gezeigt hat.

Am meisten freut uns, dass mit Jean Tirole ein Ökonom geehrt wurde, der mit ungeheurem Einsatz an Arbeit und völlig ideologiefrei wichtige Fragestellungen angegangen ist.

BR Schneider-Ammanns fromme Wünsche

Wer batz.ch regelmässig liest, weiss: Bundesrat Schneider-Ammanns Wünsche zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie nach der Annahme der MEI sind hochwillkommen. Wir haben uns vermehrt zu den negativen Arbeitsanreizen des schweizerischen Steuer- und Subventionssystems geäussert, zuletzt unmittelbar nach der Abstimmung vom 9. Februar hier. Wenn die Zweitverdienerin effektiv fast das gesamte zusätzliche Einkommen in Form von Steuern und Betreuungskosten abgeben muss, die Schulstruktur keine geregelte (Teil-)Zeitarbeit zulässt, so ist es nicht verwunderlich, dass die Beschäftigung der Frauen in der Schweiz gemessen in Vollzeitäquivalenten relativ tief ist. Siehe dazu unsere Beiträge: Wie der Schweizer Mittelstand vom Arbeiten abgehalten wird, Familienartikel: Umbau der antiquierten Schulstruktur!, Kinderkrippen helfen gegen Lohnungerechtigkeit, und viele mehr.

Nur: Blauäugig ist, wer von den Massnahmen – selbst wenn sie sofort umgesetzt werden könnten – eine schnelle Wirkung erwartet. Die meisten Familien haben angesichts des heute vorherrschenden Schul- und Betreuungsangebot geplant. Will heissen: viele Frauen haben bewusst Berufe gewählt, die eine relativ geringe Teilzeitarbeit zulassen. Darunter hat es Ärztinnen und vielleicht sogar die eine oder andere Ingenieurin. Aber für viele der „stillgelegten“ Fähigkeiten dürfte sich die Nachfrage in Grenzen halten. Um es etwas böse auszudrücken: Aus den nun wenig beschäftigten Kunsthistorikerinnen werden nicht über Nacht Hausärztinnen, aus den Ethnologinnen keine Informatikerinnen.

Die Ursache für die hohe Nachfrage nach ausländischen Fachkräften liegt eben nicht nur in der Unterbeschäftigung von Frauen, sondern auch in der schweizerischen Bildungslandschaft. Heute sind 60% und mehr der Schüler(innen) an den Mittelschulen weiblich. Problematisch ist selbstverständlich nicht der hohe Anteil Mädchen, sondern die Tatsache, dass wir vielen intelligenten aber eher technisch-naturwissenschaftlichen Kindern die Schule vermiesen und ihnen teilweise den Weg zu einer Universitätsausbildung verbauen. Darunter sehr viele Buben, aber auch Migrantenkinder, die sich mit dem Überhang an sprachlichen Fächern und der Wichtigkeit (schwierig beurteilbarer) soft skills schwer tun. So sehr ich den dualen Bildungsweg für eine grosse Stärke des schweizerischen Ausbildungssystems halte: Chirurgen und Physiker gibt es kaum über diesen Weg. Diese Leute, die wir eventuell selber hätten ausbilden können, importieren wir später aus dem Ausland.

Um Missverständnisse auszuräumen: Ich begrüsse die angekündigten Massnahmen selbstverständlich. Die Unterbeschäftigung der Frauen in der Schweiz ist sehr teuer. Der sogenannte Gender Employment Gap – der Unterschied in Vollzeitäquivalenten zwischen Männern und Frauen – beträgt rund 40%, gleich hoch wie in der Türkei und deutlich höher als der OECD Durchschnitt von 30%. Gelänge es, diesen Gender Employment Gap nur schon auf den OECD Durchschnitt zu senken, könnten wir uns ein ganzes Jahr Erhöhung des Rentenalters eigenfinanzieren – für Mann und Frau, notabene.

 

Steuer-Salat

Urs Birchler

Letzte Woche traf ich eine Kollegin in einem populären vegetarischen Restaurant Nähe Bundeshaus Bern. Bei der Selbstbedienung am Buffet hat der Kunde als erstes die Wahl zwischen Teller und Plasticschachtel. Konservativ wähle ich ersteren. Ein paar Tische weiter hat sich ein Gast für Plastic entschieden, gerät aber darob in eine Diskussion mit dem Personal. Die nehmen’s aber ernst mit dem Stil, denke ich zuerst, aber Irrtum: Est geht nicht um Stil, sondern um Steuer. Der Teller ist für’s Essen im Restaurant oder an den Tischen draussen (MWSt-Satz: 8%). Der Plastic ist für’s Take-Away (MWSt-Satz: 2.5%).

Der Wirt ist auch Steuereintreiber. Meine Bekannte, Juristin, klärt mich auf: Liesse er die Gäste im Restaurant aus der Plastic-Schachtel speisen, so würde er sich der Steuerhinterziehung schuldig machen. Das Beispiel zeigt: Mit jeder Differenzierung entstehen versteckte Kosten wie im vorliegenden Fall eine Verstimmung des Gastes durch einen bloss ehrlichen Wirt.

Am einfachsten wäre also wohl der Einheitssteuersatz — alles zu 8%. Aber einfach ist nichts. Auch bei einem Einheitssteuersatz lauert im Hintergrund der Satz von null: Was ist überhaupt eine steuerpflichtige Leistung? Die Betreuung alleinreisender Kinder im Flughafengebäude? (JA). Der Vertrieb von Anteilen an kollektiven Kapitalanlagen, die unter schweizerischem Recht stehen? (NEIN, grob gesagt). Das volle Salatbuffet findet sich auf der MWSt-Seite der Eidg. Steuerverwaltung (die auch nichts dafür kann). Servez-vous!

Barbezug des PK Vermögens? Teil 2

Monika Bütler

Schon seit mehr als 10 Jahren beschäftige ich mich mit der Wahl zwischen Rente und Kapital (aus der beruflichen Vorsorge) bei der Pensionierung. Diese individuelle Entscheidung ist auch aus wissenschaftlicher Sicht interessant. Erstens handelt es sich – neben Partnerwahl, Familienplanung und Hauskauf – um eine der grössten wirtschaftlichen Entscheidungen im Leben. Immerhin geht es in der Schweiz im Durchschnitt um einen Betrag von rund 400‘000 Franken. Zweitens spielen sowohl „rationale“ wie auch psychologische Faktoren eine Rolle bei der Wahl. Zu den psychologischen Faktoren gehören „framing“ (wie wird die Wahl zwischen Kapital und Rente dargestellt – framed eben), „peer effects“ (man orientiert sich an Kollegen) oder „default“ (man nimmt die Standardoption, die einem präsentiert wird).

Zu den ökonomisch rationalen Gründen für Kapital oder Rente gehören die Berücksichtigung von Lebenserwartung, Familiensituation, Investitionsmöglichkeiten, Steuern, der Umwandlungssatz oder – lange Zeit vergessen – andere Sozialversicherungen, die einen im Notfall auffangen können. Ergänzungsleistungen (EL) zum Beispiel. Schon sehr lange habe ich auf die Gefahr hingewiesen, dass die EL zum Kapitalbezug verleiten könnten. Weil eben diese staatlichen Gelder die Lücke füllen zum Existenzminimum, wenn die PK Gelder aufgebraucht sind. Ganz lange wollte niemand etwas davon wissen – und nun plötzlich alle.

Die Versuchung ist durchaus real: Wer monatlich 2000 Franken AHV bezieht und 1000 Franken aus der BV kann sich deutlich besser stellen, wenn er das Kapital bezieht (in diesem Falle etwas 175‘000 Franken), es langsam oder schneller aufbraucht und später die Lücke mit EL deckt. Mit den EL kommt er nämlich ebenfalls auf 3000 Franken pro Monat. Niemandem sei hier bösartiges Verhalten unterstellt. Selbst wenn jemand sehr vorsichtig plant, ist die Chance gross im fortgeschrittenen Alter auf EL angewiesen zu sein.

Nun schlägt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) angesichts der stark ansteigenden EL Kosten Alarm und möchte den Kapitalbezug einschränken. Der Pensionskassenverband ASIP hingegen sieht keinen Beweis dafür, dass Barbezüge des Pensionskassenkapitals ursächlich für den Anstieg der EL Kosten verantwortlich seien. Wer hat nun recht?

Zuerst einmal eine Warnung: Es wird kaum je möglich sein, ökonometrisch sauber die Ursachen-Wirkungskette zwischen Barbezug und EL Leistungen zu beweisen. Vergleiche zwischen Pensionskassen mit unterschiedlichen Optionen und oder über die Zeit wären wohl möglich (seeeeehr langfristig), wären aber ebenfalls nicht 100% zuverlässig, die Kausalkette zu identifizieren.

Wir, Kim Peijnenburg, Stefan Staubli und ich, haben daher einen anderen Zugang zu einer möglichen Erklärung zwischen EL und Kapitalbezug versucht: Für rund 30‘000 Individuen haben wir die getroffenen Entscheidungen zwischen Rente und Kapital verglichen mit den „optimalen“ Entscheidungen eines Simulationsmodells mit und ohne EL. Bei diesem handelt es sich um ein sogenanntes Lebenszyklusmodell, welches den optimalen Konsum- und Sparplan eines Individuums ausrechnet mit und ohne Kapitalbezug, mit und ohne EL. Die optimale Entscheidung ist dann diejenige Option – Kapital oder Rente –, welche dem Individuum den grösseren Nutzen bringt. Wobei der Nutzen nicht einfach Geld ist (dann wäre es fast immer optimal, das Kapital zu wählen), sondern auch einen möglichst gleichmässigen Konsum in der Rentenphase. Also beispielsweise die Vermeidung eines Konsumeinbruchs im hohen Alter.

Wir finden, dass die von uns auf Grund des Modells prognostizierten individuellen Entscheidungen im Durchschnitt sehr gut mit den beobachten Werten übereinstimmen (in der untenstehenden Graphik markiert als „data, non-parametric regression). Aber nur, wenn die EL mitberücksichtig werden („simulation with MTB“, wobei MTB = means tested benefits = EL). Falls die Individuen keinen Zugang zu EL hätten, würden sie ihr Kapital viel häufiger verrenten und höchstens einen kleinen Teil des Kapitals in bar beziehen („simulation without MTB“). Je grösser das angesparte Kapital  bei der Pensionierung, desto weniger sind die EL für die individuellen Entscheidungen relevant und desto eher wird die Rente gewählt. Das gilt im Simulationsmodell wie auch bei den Beobachtungen. Natürlich ist das kein eigentlicher Beweis. Nur bin ich gespannt auf alternative Erklärungen. Kim, Stefan und ich haben vieles probiert, und nichts gefunden.Bild1Die EL als Rückversicherung sind teuer. So fallen bei einem angesparten PK Vermögen von 300‘000 Franken (aber ohne sonstiges Privatvermögen) im Durchschnitt rund 77‘000 Franken EL an, im Falle einer Barauszahlung, aber nur 3000 Franken im Falle einer Verrentung des Kapitals. Die Pflegekosten sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Natürlich würde eine BVG Rente von 1700 Franken pro Monat (dies entspricht der Rente aus 300‘000 Franken PK Kapital), nicht zur Finanzierung der Pflege reichen. EL müsste diese Person so oder so haben. Bei einer zweijährigen Pflegezeit muss der Staat im Falle einer Kapitalauszahlung rund 40‘000 mehr berappen als bei einem Rentenbezug.

Auf den ersten Blick scheint die Sache somit klar: Der Kapitalbezug müsste verboten werden, mindestens so, dass mit der Rente der durch die EL gedeckte Existenzbedarf gedeckt wird. Allerdings leiden darunter eher die weniger vermögenden Versicherten und diejenigen mit einer kürzeren Lebenserwartung. Es gibt auch sanftere Wege, die EL Leistungen aufgrund des Kapitalbezugs zu reduzieren. Zum Beispiel durch einen erschwerten Zugang zu EL. Heute werden 37‘500 Franken Freibetrag beim Bezug von EL, auch das darüber hinausgehende Vermögen wird nur zu 1/10 (im Heim: 1/5) zum Einkommen gerechnet. Würden diese Freibeträge deutlich gesenkt – zum Beispiel auf die Vermögens Freibeträge bei Sozialleistungen, müsste der Staat erst später mit EL einspringen. Wir haben zudem berechnet, dass strengere Zugangsbedingungen für EL einige Individuen dazu bringen könnten, sich die Leistungen der PK doch als Rente auszubezahlen. Was die EL Kosten weiter senken würde.

 

Barbezug des PK Vermögens? Teil 1

Monika Bütler

Schon seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit den möglichen Auswirkungen eines Barbezugs der angesparten Kapitals bei der Pensionierung (Nein, es geht hier nicht um den Vorbezug zum Erwerb von Wohneigentum). Meine bereits vor 10 Jahren geäusserten (und durch unsere wissenschaftliche Untersuchungen gestützte)Befürchtungen, dass der Barbezug zu erhöhten Ausgaben in der EL führen könnte, ist nun auch in der politischen Diskussion angekommen. Zeit, das Ganze etwas zu beleuchten.

Zu Beginn eine Warnung: Es ist unheimlich schwierig, eindeutig zu beweisen,  dass jemand wegen der Möglichkeit der EL seine PK Gelder in bar bezieht. Oder dass der Barbezug der PK Gelder eine wichtige Ursache für den starken Anstieg der EL in den letzten Jahren ist. Unsere Untersuchungen zeigen aber immerhin, dass ein Teil des Barbezugs der PK Gelder mit der Erklärung „EL als Rückversicherung“ kompatibel ist. Dazu mein nächster Beitrag (hoffentlich morgen, wer sich nicht gedulden kann, muss das wissenschaftliche Papier lesen). Heute einfach ein paar Grundlagen (gekürzter und bearbeiteter Auszug aus unserer Studie zu EL für Avenir Suisse).

Ein Arbeitnehmer ohne Vermögen und kurz vor der Pensionierung erwartet eine AHV Rente von 2‘000 Franken pro Monat. Er hat 400’000 Franken in der Pensionskasse. Dies entspricht bei einer vollständigen Verrentung des Kapitals rund 27’000 Franken pro Jahr. Wählt er diese Option, hat er ein Renteneinkommen von rund 4‘200 Franken pro Monat. Er wird Ergänzungsleistungen erst dann beantragen müssen, wenn er aussergewöhnlich hohe Pflegekosten im hohen Alter zu begleichen hat.

Er hat jedoch noch eine andere Option. Beispielsweise kann er sich das Kapital auszahlen lassen und den Kindern überschreiben. Das ihm verbleibende Einkommen liegt nun deutlich unter den für die Ergänzungsleistungen massgeblichen Einkünften. Anrecht auf Ergänzungsleistungen hat er dennoch nicht, denn das verschenkte Kapital wird ihm als fiktives Einkommen angerechnet.

Hätte der Versicherte hingegen dasselbe Kapital für sich selbst ausgegeben – beispielsweise für eine Weltreise oder die Renovation des Hauses – darf ihm das Kapital nicht mehr als Einkommen angerechnet werden, womit er Anrecht auf Ergänzungsleistungen hat. Bereits dieses fiktive Beispiel zeigt, dass von den Ergänzungsleistungen ein starker Anreiz ausgeht, sein Altersguthaben als Kapital zu beziehen. Natürlich ist eine luxuriöse Weltreise nach der Pensionierung nicht alltäglich, die angenommenen Zahlen sind jedoch ziemlich nahe an den durchschnittlichen Einkommen aus AHV und PK. Das Bundesgericht hat diese Praxismit dem wegweisenden Bundesgerichtsentscheid 115 V 352 gestützt (siehe Schluss des Textes).

Bei der regulären oder vorzeitigen Pensionierung kann sich der Versicherte einen Teil des angesparten Altersguthaben in bar auszahlen lassen. Dieser Anteil kann im obligatorischen Teil zwischen 25 und 100 Prozent betragen, im Überobligatorium zwischen 0 und 100 Prozent. Die Mindestauszahlung von 25 Prozent im Obligatorium ist erst seit der ersten BVG Revision 2007 bindend; davor stand es den Kassen frei, den Kapitalbezug gar nicht zuzulassen. Traditionell bieten die Versicherungen eine volle Kapitalauszahlung, ebenso kleinere Kassen.

Natürlich ist der geschilderte Fall – Kapital beziehen, rasch aufbrauchen und dann Ergänzungsleistungen beantragen – in den meisten Fällen übertrieben. Dennoch bilden die Ergänzungsleistungen auch dann einen deutlichen Anreiz zum Kapitalbezug, wenn eine sparsamere Verwendung der aus der PK bezogenen Gelder geplant ist. Bewusstes Ausnützen der Sozialversicherungsleistungen kann dann kaum unterstellt werden, hingegen werden Ergänzungsleistungen als «Rückversicherung» zumindest einkalkuliert.

Ökonomisch kann aus Sicht des Versicherten vom einem Zielkonflikt zwischen einem möglichst hohen Lebenseinkommen und einem möglichst glatten Konsum gesprochen werden. Der Barbezug maximiert in jedem Fall das Lebenseinkommen, führt aber unter Umständen dazu, dass ein spürbarer Rückgang des möglichen Konsums nach dem Aufbrauchen dieses Vermögens in Kauf genommen werden muss. Für kleine Vermögen aus der Beruflichen Vorsorge bringt der Barbezug den grösseren Nutzen. Ab einer gewissen Schwelle jedoch überwiegt der Nutzen eines gleichmässigen Konsums über die ganze Rentenzeit den Nutzen aus einem möglichst grossen Bezug von EL. Bei welchem Niveau genau dieser Effekt eintritt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Neben den individuellen Präferenzen sind dies auch die Lebenserwartung, der Zeitraum, indem das Vermögen aufgebraucht wird sowie makroökonomische Faktoren wie Zinssätze und Inflationsraten.

Die Ergänzungsleistungen zur AHV bilden eine wichtige Komponente in der Absicherung eines Mindesteinkommens im Alter, das durch die AHV alleine nicht erreicht werden kann. Sie reduzieren aber erstens auch den Anreiz, selbst zu sparen oder durch Erwerbseinkommen die(vorzeitige) Pensionierung aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Ergänzungsleistungen bilden zweitens einen Anreiz, angesparte Gelder aus der Pensionskasse bar zu beziehen und die Existenzsicherung im hohen Alter nicht mit einer Rente aus der beruflichen Vorsorge, sondern über die Ergänzungsleistungen zu «versichern».

Bundesgerichtsentscheid 115 V 352 vom 2. November 1989

Eine Arbeitnehmerin erhielt zum Zeitpunkt ihrer Pensionierung anfangs Oktober 1985 ein Kapital von insgesamt 88’597 Franken ausbezahlt, das sie innerhalb von 15 Monaten für die Bezahlung von Steuern sowie für mehrere Flugreisen und einen neuen Bodenbelag ausgab. Anschliessend stellte sie Antrag auf EL.

Bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen berücksichtigte die zuständige Durchführungsstelle aber nicht das tatsächlich vorhandene Vermögen, sondern bezog sich auf den Vermögensstand von Anfang Oktober 1985 und akzeptierte nur Vermögensminderungen im Umfang der Steuern von 20‘000 Franken. Für darüber hinausgehende Ausgaben sah die Durchführungsstelle keine objektive Notwendigkeit und war deshalb nicht bereit, diese Kosten indirekt über die Ausrichtung von Ergänzungsleistungen mitzutragen.

Gegen dieses Vorgehen erhob die Rentnerin Beschwerde, welcher das Bundesgericht stattgab. Es führte in seinem wegweisenden Entscheid aus, dass nicht vorhandenes Vermögen nur dann als hypothetisches Vermögen angerechnet werden könne, wenn für die Vermögenshingabe keine adäquate Gegenleistung erbracht wurde.

 

 

 

Skandal: Bankenprofessor beim Betteln erwischt

Urs Birchler

Bettler

Bild: Silke Declerck

Nicht jeden Tag erwischt man einen Bankenprofessor (und dann noch von der Uni Zürich) beim Betteln. So geschehen vergangenen Sonntag in Baden-Baden vor der Aufführung von „Geld und Glück“, der letzten Folge der Trilogie des Geldes. Wenn ich schon mitwirken durfte, dann wollte ich doch die Erfahrung der Mikro-Sponsorensuche einmal selber machen.

Finanzieller Erfolg: Gut 13 Euro in einer Stunde (wobei einzelne Passanten den Theaterbettler durchschauten und gerne etwas springen liessen). Erkenntnisgewinn: Am ehesten gibt, wer selber gerade Glück hatte (Parklücke gefunden; attraktive Partnerin am Arm). Am knausrigsten waren die Betrachter der Auslage der Juweliergeschäfte (auch ein Brillant beginnt mit einem Cent). Und niemand schaut einem Bettler ins Gesicht. Aber ausgestossen sein macht auch stark: Buchen Sie bei mir eine Probelektion in Betteltherapie® (Platzzahl beschränkt).

Mindestlohn: Weshalb 22 Franken pro Stunde und 4000 Franken pro Monat nicht dasselbe sind

Monika Bütler

Als unsere Kinder noch kleiner waren, hatten wir während gut zweier Jahre eine Haushälterin mit einem 80% Pensum. Aus verschiedenen Gründen kehrten wir wieder zum alten System zurück; zu einer Haushälterin im Stundenlohn mit einem geringeren Pensum. Obwohl wir nun einen deutlich höheren Stundenlohn zahlen, kostet uns das Ganze nur noch etwa die Hälfte. Dies bei einem nur minim höheren eigenen Arbeitsaufwand.

Vor der Mindestlohninitiative hätten wir uns in beiden Fällen nicht fürchten müssen. Die ungelernte 80% Haushälterin verdiente rund 24.50 pro Stunde (bei einem 100% Pensum wäre der Monatslohn etwas über 4400 Franken gelegen), die neue Haushälterin verdient rund 32 Franken pro Stunde. Dennoch: Für die neue Haushälterin dürfte es trotz deutlich höherem Stundenlohn gar nicht so einfach sein, denselben Monatslohn wie ihre Vorgängerin zu erreichen, weil die Arbeit mit mehreren Haushalten viel zerstückelter ist. Die Arbeit ist zudem anstrengender, ruhige Perioden seltener.

Weshalb erzähle ich dies überhaupt? Der Ersatz von Stellen im regulären Monatslohn durch Stellen im Stundenlohn dürfte wohl eine der wichtigsten Anpassungsmechanismen bei einer Annahme der Mindestlohninitiative sein. Auch wenn es bei uns nicht Kostengründe waren, die zum Systemwechsel führten. Für ein kleines Restaurant sieht das anders aus. Es wird sich eventuell das Servicepersonal im Stundenlohn noch leisten können, aber nicht mehr im Monatslohn. Unter dem Strich wird dann die (fast) gleiche Arbeit unter grösserem Stress mit kleineren Sicherheiten für die Arbeitnehmer geleistet. Unter Einhaltung des Mindestlohnes zwar – besser gestellt ist damit aber niemand, im Gegenteil. Vielleicht haben die Initianten sogar recht, wenn sie denken, dass sich der Abbau an Stellen in Grenzen hält. Wesentlich wahrscheinlicher ist, dass gute Stellen im Monatslohn (meist mit Aussicht auf höhere Löhne nach einiger Zeit) durch schlechtere Stellen im Mindestlohn-kompatiblen Stundenlohn ersetzt werden.

Andere Anpassungsmechanismen könnten sein, allfällige Lohnnebenleistungen (Spesen, Beiträge ans Essen) nicht mehr separat auszuweisen. Wer früher 3800 Franken verdiente und 200 Franken in anderer Form, erhält neu einfach 4000 Franken pro Monat ohne Nebenleistungen (und muss unter Umständen erst noch mehr Steuern bezahlen). Wer nun sofort böse Arbeitgeber wittert, dem empfehle ich einmal in grenznahen Gebieten (im St. Galler Rheintal zu Beispiel) einen Nachmittag mit dem Velo oder Auto herumzufahren. In diesen Gebieten haben schon heute Restaurants und andere kleine Dienstleister die grösste Mühe mit der Konkurrenz ännet der Grenze mithalten zu können. Dies obwohl schon heute die Preise aus der Zürcher Konsumentenperspektive traumhaft tief sind.

Die Internationale Erfahrung hat uns gezeigt, dass ein rigiderer Arbeitsmarkt zu einer grösseren Anzahl von prekären Stellen und ineffizienten Umgehungsmechanismen führt. Gerade weil die Schweiz bisher einen relativ liberalen Arbeitsmarkt hat, kommen schon ganz junge und unerfahrene Menschen in den Genuss von Festanstellungen im Monatslohn mit den dazu gehörenden Sicherheiten. Die allermeisten, die mit einem Lohn unter 4000 Franken beginnen, werden nach relativ kurzer Zeit darüber entlohnt.

Damit ich nicht missverstanden werde. Ich teile die Meinung der Initianten, dass einem in Vollzeit tätigen Arbeiter der Gang zum Sozialamt erspart werden müsste. Nur ist der Mindestlohn als Massnahme zur Unterstützung der Working Poor schrecklich ungeeignet. Erstens lebt nur eine Minderheit von Tieflohnbezügern in Armutsgefährdeten Haushalten. Zweitens garantiert auch ein Mindestlohn nicht, dass eine Arbeiterin (mit Kindern zum Beispiel) genug zum Leben hat.

Was wären dann die Alternativen? Zuerst einmal muss das Existenzminimum von Einkommensteuern befreit werden, wie ich hier auch schon ausgeführt habe. Dem Argument, dass auch auf dem Existenzminimum Steuern bezahlt werden müssten, um den Leuten die Kosten staatlicher Leistungen vor Augen zu halten, kann ich nicht folgen (hier nachzulesen). Um die Lücke zwischen Einkommen und Existenzsicherung zu garantieren sollte die Schweiz ein System einer negativen Einkommenssteuer für Niedrigverdiener einführen. Dabei werden kleine Einkommen bis zu einer gewissen Grenze subventioniert. Das System hat sich in den USA sehr bewährt und hat gerade vielen Frauen aus der Armut geholfen – und ihnen den ungeliebten Gang zum Sozialamt erspart.

Keine Spekulation — kein Wasser

Urs Birchler

São Paulo geht das Wasser aus, und die Regierung mag (im Hinblick auf bevorstehende Wahlen) nicht rationieren. Die WM-Fussballer werden also vielleicht weder kalt noch warm duschen können.

Weshalb mitten in der Regenzeit das Wasser knapp wird, mögen die Meteorologen oder Klimatologen beantworten. Die Ökonomie lehrt aber, wie man mit Knappheit am besten umgeht: Indem man die knappe Ressource dem Markt, d.h. — jawoll! — der Spekulation überlässt.

Markt heisst natürlich nicht, dass an die Stelle des Staates ein Mafia-Monopol tritt. Markt heisst, dass Wasser gehandelt werden kann. Der bei drohender Trockenheit ansteigende Preis zwingt dann zu frühzeitigem Sparen. Auch den Armen ist am besten geholfen, wenn das Wasser nicht von den Bessergestellten zu Tiefpreisen in Swimming Pools und bei der Autowäsche verschleudert wird. Ein Existenzminimum kann und soll der Staat durch Gutscheine oder Gratisabgaben sicherstellen. Und wer unbedingt im Juli Wasser braucht, kann es bereits im März auf Termin kaufen. So könnte der mit allen Wassern gewaschene Othmar Hitzfeld seinen Torschützen eine richtige Dusche versprechen.

Verdrängung

Monika Bütler

Der heutige Tagesanzeiger titelt: Ausländer ziehen in die Stadt, Schweizer aufs Land. Im Artikel wird eine CS Studie besprochen, die zeigt, dass die neuen Wohnungen in den Städten vollumfänglich von ausländischen Zuwanderern absorbiert werden. So weit so gut. Weiter geht es dann wie folgt: „Gleichzeitig verdrängt dieser Siedlungsdruck Schweizer in ländlichere Wohngebiete.“ Oder wie es später heisst: Die Schweizer rücken näher zusammen.

Wirklich? Das mit der Verdrängung ist nur eine mögliche Interpretation der Daten.  Es könnte – wie so oft – auch umgekehrt sein. Die Schweizer ziehen freiwillig aufs Land. Weder die eine noch die andere Interpretation der Daten lässt sich nämlich zweifelsfrei beweisen. Auf meine Nachfrage reichte der Autor des Artikels, Michael Soukup, freundlicherweise die sehr schlanke Studie der CS nach. Er begründete zudem (auf Twitter) die Verdrängungsthese mit dem Hinweis auf die Megatrends Re-Urbanisierung und Landflucht, die gegen meine alternativen Hypothese „freiwillig aufs Land“ sprächen.

Klar ist: Der Erhöhung des Wohnungsangebots stehen drei Veränderungen in der beobachteten Belegung der Wohnungen gegenüber: Eine Erhöhung der Zahl ausländischer Mieter, ein leichter Rückgang der Anzahl einheimischer Mieter und ein leichter Rückgang des durchschnittlich beanspruchten Wohnraums (was ja schon mal good News ist). Von „Bedarf“, übrigens, kann nicht die Rede sein. Der lässt sich gar nicht beobachten. Wir sehen in den Daten lediglich die effektive Belegung der Wohnungen.

Nun zur Interpretation: Dass die Ausländer die Schweizer verdrängen, lässt sich anhand dieser Daten nie und nimmer zeigen. Es ist eine mögliche Interpretation – und wohl diejenige, die in der momentanen Stimmung die meisten Likes generiert. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie die richtige ist.

Dass die Schweizer näher zusammenrücken ist schon gar nicht in den Daten drin. In den Daten steht lediglich, dass die Mieter in der Stadt näher zusammenrücken. Das könnten aber genau so gut die Ausländer sein. Es ist sogar möglich, dass sich die Schweizer platzmässig ausdehnen, während sich die Ausländer viel dünner machen. Oder noch wahrscheinlicher: Das Zusammenrücken hat mit der Demographie zu tun. Die Stadt wird nachweislich jünger. Und die jüngeren wohnen in der Regel noch dichter. Viele urbane Junge ziehen später freiwillig aufs Land. Es könnte daher genauso gut sein, dass die Schweizer in der Familienphase freiwillig aufs Land ziehen und dass die Ausländer daher eher in der Stadt fündig würden. Auf jeden Fall sind mir keine Fälle bekannt, bei denen Schweizer zu Gunsten von Ausländern bei der Wohnungsvergabe diskriminiert wurden.

Meiner alternativen Interpretation stünden die Megatrends Re-Urbanisierung und Landflucht gegenüber. Ich bin nicht überzeugt. Die Re-Urbanisierung ist nur unter einem relativ kleinen, jungen, gut ausgebildeten und gut verdienenden Teil der Bevölkerung auszumachen. Für einen grossen Teil der Bevölkerung bleibt der Traum eines Häuschens auf dem Land auch in der heutigen Zeit bestehen. Die Re-Urbanisierung beschränkt sich zudem auf die In-Quartiere. Gerade in diesen Quartieren ist der Anteil der Schweizer aber nicht gesunken sind. Stadtgärtnern in Schwamendingen ist noch nicht angesagt.

Auch meine Interpretation lässt sich selbstverständlich nicht beweisen. Unplausibel ist sie aber nicht. Gerade in der heutigen aufgereizten Stimmung hätte es dem Artikel gut getan, alternative Erklärungen zuzulassen. Verdrängt werden leider nicht (nur) die Schweizer, sondern auch das Denken über den Mainstream hinaus. Ob rechts oder links spielt schon gar keine Rolle mehr.

Full disclosure. Die Autorin ist begeisterte re-urbanisierte Stadtgärtnerin und ehemaliges Landei (erst noch aus dem Aargau). Sie wohnt auf leicht unterdurchschnittlich vielen Quadratmetern in einem aufstrebenden Quartier. Und sie weiss – wie viele andere – wie verzweifelt die Suche nach der passenden Wohnung in Zürich sein kann.

 

Weiterwursteln nach Plan B

Monika Bütler

(Kurzkommentar zum Abstimmungsresultat über die Masseneinwanderungsinitiative der SVP, publiziert in der Weltwoche vom 13. Februar 2014)

Die Schweiz leistet es sich, junge Frauen sehr gut auszubilden, um sie später mit fehlenden Tagesschulen, steuerlichen Fehlanreizen und Vorurteilen aus dem Arbeitsmarkt zu ekeln. Nur knapp lehnte der Souverän eine explizite Belohnung des zu Hause-bleibens ab. Die Schweiz leistet es sich auch, intelligenten künftigen Ingenieuren und vollzeitarbeitenden Ärzten die Schule zu vermiesen mit einer Pädagogik, die weiche Faktoren höher gewichtet als Mathematik und Naturwissenschaften. Über eine längere Beschäftigung älterer Menschen denken wir schon gar nicht mehr nach. Für weniger ehrgeizige und produktive Junge ist Sozialhilfe ohnehin viel attraktiver. Damit sich die Anstrengung auch für die oben unerwähnten nicht lohnt, bietet der Staat Wohnraum und Betreuung einkommensabhängig an.

Die Lücken füllten motivierte Einwanderer. Und nun?

Wir sollten die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wenigstens zum Anlass nehmen, über die Verschwendung einheimischer Ideen und Fähigkeiten nachzudenken. Meine Vermutung: Am Schluss kommt doch Plan B zur Anwendung. Niemand wagt, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Gesuchte Fachkräfte kommen nach wie vor – einfach unter undurchsichtigen, teuren Kontingenten. Plan B, B für Bürokratie.