Im falschen Film

In der neuesten Ausgabe der Weltwoche erreicht die Hetze gegen die Nationalbank und ihren Präsidenten Philipp Hildebrand einen neuen, für mich bisher unvorstellbaren Höhepunkt. Kurzfassung: Chefredaktor Roger Köppel möchte den Präsidenten des Direktoriums absetzen. Der Artikel geht sogar so weit, Hildebrand zu vergleichen mit Jérôme Kerviel, der wegen unrechtmässig erzielter Verluste für seine Bank Société Générale zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde (in zweitletzter Instanz).

Es wäre verlockend, jetzt in den Nahkampf einzusteigen und im einzelnen zu zeigen, wie verdreht Köppels Vorwürfe allesamt sind. Sie sind es jedoch nicht wert, daher nur ein einziges Beispiel: Der Weltwoche ist es offenbar unwohl mit Ihrer Schlagzeile „La crise n’existe pas“, die sie wenige Tage vor der notwendigen Rettung der UBS durch Bund und Nationalbank publizierte. Sie will jetzt aber doch recht gehabt haben, da im Frühjahr 2010 alles schon wieder besser ausgesehen habe. Dass die Lichter in der Schweizer Wirtschaft aber nicht ausgegangen sind, liegt gerade daran, dass die Verantwortlichen bei Bund, FINMA und Nationalbank die Krise nicht geleugnet, sondern bekämpft haben. Zweimal falsch gleich richtig, rechnet die Weltwoche.

In der Schweiz darf man die Notenbank und ihre Exponenten ungestraft mit publizistischem Giftschlamm abspritzen. Die Unabhängigkeit der Presse ist ein hohes Gut. Ein ebenso hohes Gut ist die Unabhängigkeit der Nationalbank. Sonst würden nämlich Notenbankpräsidenten abgesetzt, weil sie der Politik oder der Presse nicht passen. So geschehen letztes Jahr in Argentinien, weil die Regierung kurzerhand dringend die Währungsreserven „brauchte“. Die Unabhängigkeit der Nationalbank hat uns über hundert Jahre eine Währung beschert, um die uns die Welt beneidet, und die den Grundstein unseres Finanzplatzes darstellt.

Gerade jetzt ist die Unabhängigkeit der Nationalbank besonders wichtig. Die Nationalbank hat an vorderster Front für eine Lösung des „Too big to fail“-Problems gekämpft. Nicht bei allen Bankvertretern ist dies populär. Daher die Angriffe unter allen Gürtellinien auf Präsident Hildebrand. „Er hat bewiesen, dass er es nicht kann“, zitiert die Weltwoche einen „der erfahrensten und intelligentesten Bankiers des Landes“. Anonym, selbstverständlich. Es gibt aber eine wachsende Zahl von Bankenvertretern, die verstehen, dass Staatshilfe den Finanzplatz langfristig untergräbt. Für sie wäre es höchste Zeit für ein „coming out“ — zugunsten der Unabhängigkeit der Nationalbank.

Die IV mit Burn-Out

Vor einigen Jahren dominierten „Scheininvalide“ die Diskussion um die schweizerische Invalidenversicherung IV und deren Finanzierung. Mit der 5. IV Revision sowie der generellen Verschärfung der Beurteilungspraxis in der IV drehte der Wind. Die Anzahl der Neurentner sank massiv, die „Scheininvaliden verschwanden aus der Diskussion. Heute steht die IV am Pranger. Der Chef der IV, Stefan Ritler, musste sich vergangene Woche nach einem Interview mit dem Tagesanzeiger harsche Kritik gefallen lassen („Ein Zyniker als oberster IV Chef“, „Nationalsozialistisches Gedankengut“), weil er sachlich Fragen zur Rentensprechung bei psychischen Leiden und Scheudertraumatas beantwortete.

Der Tagesanzeiger goss allerdings auch Öl ins Feuer, indem er das Interview mit „Arbeit ist die beste Ablenkung vom Schmerz“ betitelt hat. Dies hat Herr Ritler so natürlich nicht gesagt. Die kritischen Passagen lauten (Achtung: Zitat ;-)):

Tagesanzeiger: Gibt es das Schleudertrauma aus Ihrer Sicht gar nicht?
Ritler: Zum Schleudertrauma möchte ich Folgendes sagen: In der Westschweiz gibt es diese Diagnose praktisch nicht. Im umliegenden Ausland auch nicht, weil damit keine Versicherungsleistungen bezogen werden können. Die Diagnosen kommen vor allem im Grossraum Basel-Zürich vor, wo die sogenannten Geschädigtenanwälte ihre Büros haben. Auch ich weiss von Menschen, die nach einem Schlag auf die Halswirbelsäule bei gewissen Belastungen Schmerzen haben. Meine Feststellung ist aber auch hier: Die Rente nimmt diesen Schmerz nicht. Es stellt sich aber die Frage, ob die Betroffenen medizinisch adäquat behandelt worden sind.

Tagesanzeiger: Aber mit diesem Schmerz kann man unter Umständen nicht arbeiten.
Ritler: Das schliessen wir nicht grundsätzlich aus. Wir stellen uns aber zuerst die Frage, was kann jemand gegen die Schmerzen unternehmen? Leute mit Schmerzen sagen doch oft: Die Arbeit ist die beste Ablenkung von meinem Schmerz. Wenn man sich zu Hause in sozialer Isolation immer mit seinen Schmerzen beschäftigt, wird es noch schlimmer.

Die Aufgabe der Invalidenversicherung ist keine einfache: Psychische Krankheiten und somatoforme Störungen (Schmerzen ohne organische Ursache) stellen viel höhere Anforderungen als körperliche. Sie sind oft mit der Arbeits- und Lebenssituation der Betroffenen verzahnt. Ihre Diagnose ist schwierig – trotz Früherkennungsmassnahmen. Internationale Studien zeigen, dass Fehlerquoten bei den Invalidenversicherungen hoch sind. Dabei geht es nicht nur um „Scheininvalide“. Strenge Screenings führen nachweislich dazu, dass vielen tatsächlich Kranken Leistungen zu Unrecht verweigert werden – in den USA bis zu einem Viertel der Kranken.

Mehr dazu in meinem Artikel in der NZZ von heute. Wer die NZZ abonniert hat: Der meinem Beitrag gegenüberliegende Artikel von Jürg Krummenacher ist übrigens sehr interessant, auch wenn ich nicht alle seine Ansichten teile. Übrigens: Reaktionen sind auch schon eingetroffen – allerdings noch nicht 211 wie beim Interview mit Stefan Rittler.

PS: Die im Artikel zitierte Arbeit von Low und Pistaferri findet sich hier.

Best of Economics

Die führende Fachzeitschrift American Economic Review feiert ihr 100-Jahr-Jubiläum. Sie hat deshalb Rückschau gehalten und ihre 20 besten Artikel aus diesem Zeitraum gekürt (die Jury bestand aus: Kenneth J. Arrow, B. Douglas Bernheim, Martin S. Feldstein, Daniel L. McFadden, James M. Poterba and Robert M. Solow).

Zu den 20 Arbeiten gehört auch der Aufsatz von Modigliani und Miller aus dem Jahr 1958, der zeigt, dass eine eine Unternehmung ihre Finanzierungskosten nicht einfach dadurch beeinflussen kann, dass sie an der Mischung zwischen Eigenkapital und Fremdkapital schraubt. Der Aufsatz sollte Pflichtlektüre sein für alle, die auch im Jahre 2011 noch ohne genaueren Nachweis behaupten „Kapital ist teuer“. Dieser Irrtum ist vor allem in Bankkreisen noch immer verbreitet (und löst sogar gelegentlich Umzugsphantasien aus). Ich habe im Batz schon darüber geschrieben; wer’s von seriösen Ökonomen lesen möchte, klickt hier. Aber eigentlich ist es einfach: Kapital ist nicht teuer — Risiko ist teuer.

Querpass von iconomix

Schon lange wollten wir unsere Freunde von iconomix einmal grüssen. Wir finden es beachtlich, dass die Schweizerische Nationalbank mit dem Blog iconomix ein Gefäss bereitstellt, in dem die Autoren auch unkonventionelle Ideen und Themen diskutieren dürfen oder sogar sollen, und wir finden, die Kollegen machen einen Super-Job.

Aber warum gerade heute? Ganz einfach: iconomix berichtet, unter dem Titel Geldliga des Fussballs, dass Manchester City, der Lieblingsverein unseres Mit-Batzers Marius, den Sprung in die finanzielle Champions League geschafft hat. Die Folgerung im iconomix-Artikel, wonach „sportlicher Erfolg kein Garant für wirtschaftlichen Erfolg“ ist, möchten wir noch etwas präzisieren mit Hinweis auf zwei Studien, welche am Beispiel der deutschen Bundesliga die Faktoren des finanziellen Erfolgs (jedenfalls der Zuschauerzahlen) empirisch schätzen. Die eine stammt von Rottmann und Seitz, die andere von Frick. Rottmann und Seitz finden durchaus einen Zusammenhang zwischen dem Tabellenplatz einer Mannschaft und der Zuschauerzahl. Negativ auf die Zuschauerzahl wirkt sich hingegen die geografische Distanz zwischen den Stadien der gegnerischen Clubs aus, was aus zürcherischer Sicht erwähnenswert ist.

Finanzausgleich als Steuerwettbewerbs-Lusthemmer

Die erste Vierjahresperiode des neuen Finanzausgleichs (NFA) läuft Ende 2011 ab. Das Parlament ist derzeit daran, allfällige Systemänderungen für die Periode 2012-2015 zu diskutieren. In diesem Zusammenhang verlangt der Kanton Zug, dass Transfers künftig in den Fällen zu beschränken seien, wo die Steuerbelastung eines Nehmerkantons die durchschnittliche Steuerbelastung der Geberkantone unterschreitet (s. NFA Vernehmlassungsbericht, S. 18). Zug befürchtet, dass sich andere Kantone (sprich: Luzern) mittels Transferzahlungen aus dem NFA-Topf – und somit auf Zuger Kosten – aggressive Steuersenkungen finanzieren. Dieses Szenario, wonach der Finanzausgleich den Steuerwettbewerb anheizt statt ihn abzukühlen, scheint eher unrealistisch, wie im Batz bereits erläutert.

Nun kann ich dazu auch noch eine wie mir scheint aussagekräftige Grafik liefern: eine simple Überlagerung der Abbildungen 3 und 4 aus dem jüngsten NFA-Wirksamkeitsbericht. Die horizontale Achse stellt den Zuwachs des kantonalen Pro-Kopf-Steuersubstrats zwischen 2010 und 2011 dar (im Jargon: „standardisierter Steuerertrag pro Kopf“, SSE). Je höher diese Zahl, desto stärker ist die berechnete Zunahme des Steueraufkommens. Diesem Wachstum stellt die vertikale Achse den Betrag gegenüber, welcher entweder zusätzlich in den Finanzausgleich einbezahlt werden muss (orange Linie) oder weniger aus dem Finanzausgleich einkassiert werden kann (blaue Linie). Dargestellt sind nur die vier Kantone an den jeweiligen Endpunkten der zwei Linien für Geber- und Nehmerkantone, aber die übrigen Kantone liegen ziemlich präzis entlang der beiden Geraden.

Das Wichtigste an dieser Grafik sind die Steigungen der Geraden. Sie zeigen auf, wie viel Rappen pro zusätzlichem Steuerfranken via den Finanzausgleich wieder verloren gehen. Für die Geberkantone beträgt diese „Abschöpfungsrate“ 17%. Das heisst, pro zusätzlichem Steuerfranken kommen dem Kanton 17 Rappen durch höhere Einzahlungen in den NFA-Topf wieder abhanden. Die Abschöpfungsrate für die Nehmerkantone liegt mit 80% viel höher: pro zusätzlichem Steuerfranken verlieren diese Kantone 80 Rappen infolge tieferer Auszahlungen aus dem NFA-Topf.

Der Finanzausgleich schwächt somit die Anreize zum Steuerwettbewerb für alle Kantone, denn zusätzlich angelockte Steuerquellen ziehen höhere Einzahlungen oder tiefere Auszahlungen nach sich. Die Abschöpfung allfälliger Steuerwettbewerbsgewinne ist jedoch signifikant schärfer für die Nehmerkantone als für die Geberkantone. Somit hemmt der NFA die Lust zum Steuerwettbewerb für ressourcenschwache Kantone (wie Luzern) um einiges stärker als für ressourcenstarke Kantone (wie Zug). Zugs Einwand scheint also erst recht unbegründet.

Nun mag es verwundern, dass die meisten Kantone auch nach der Einführung des NFA im Jahr 2008 noch Steuersenkungen vorgenommen haben. Dies ist grösstenteils nicht wegen sondern trotz der Anreizwirkungen des Finanzausgleichs geschehen. Gute Konjunktur und Nationalbank-Manna machten es möglich. Damit dürfte vorderhand Schluss sein. Somit könnte sich auch der interkantonale Steuerwettbewerb etwas abkühlen.

Der Schweizer Aktionär – eine bedrohte Spezies?

Titelseite Aktienbesitz in der Schweiz 2010Das Institut für Banking und Finance der Universität Zürich publizierte heute Morgen die Aktienbesitzstudie 2010. Die Studie präsentiert die Resultate einer mit Unterstützung der SIX Group und SIX Exchange Regulation durchgeführten repräsentativen Umfrage zum Thema „Aktienbesitz in der Schweiz“ zusammen. Die Aktienbesitzstudie wird seit dem Jahr 2000 im Zweijahresrhythmus durchgeführt.

Hier die Schlagzeilen: Mehr aktienlose Millionäre – Finanzkrise: Vorsicht ist modern – Junge Wilde: zurück an die Börse? – Wie sich Anleger informieren?

Interessierte finden hier weitere Information:

Korrigendum zum Artikel in der Finanz und Wirtschaft, 13. Ausgabe, 16. Februar 2011: Autor des Artikels „Der Publikumsaktionär – ein Auslaufmodell?“ ist nicht alleinig René Hegglin, sondern Urs Birchler, Rudolf Volkart, Daniel Ettlin und René Hegglin.

Frühling für CoCos

Heute hat die CS die Ausgabe sogenannter CoCo (Contingent Convertible) Bonds angekündigt. Dies sind Schuldverschreibungen, die sich automatisch in Eigenmittel verwandeln, wenn die Kapitalisierung des Emittenten, hier: der Bank, unter ein bestimmtes Niveau sinkt.

Die Bank passt sich damit an die von der Expertengruppe des Bundes vorgeschlagenen Regeln an. Vor allem aber setzt sie einen Gedanken in die Praxis um, der in der oft als Elfenbeinturm belächelten akademischen Sphäre entwickelt worden ist. Die Idee der CoCos geht zurück auf den Vorschlag der Reverse Convertible Notes in Doherty, N., and Harrington, S. (1997) “Managing Corporate Risk with Reverse Convertible Debt” (Working Paper, Wharton).

Von Vertretern der CS wurde die Idee aufgenommen durch P. Calello und W. Ervin in “From bail-out to bail-in” im Economist vom 28. Februar 2010. Für die Schweiz habe ich die CoCos propagiert in meiner Antrittsvorlesung an der Uni Zürich vom April 2010 und später, zusammen mit meinem Team, im Gutachten zuhanden von SP Schweiz. Anschliessend übernahm sie die Expertengruppe des Bundes. Jetzt will die CS mit der Emission von CoCos Ernst machen.

Fazit: Es gibt eben doch nichts praktischeres als eine gute Theorie.