Die IV mit Burn-Out

Vor einigen Jahren dominierten „Scheininvalide“ die Diskussion um die schweizerische Invalidenversicherung IV und deren Finanzierung. Mit der 5. IV Revision sowie der generellen Verschärfung der Beurteilungspraxis in der IV drehte der Wind. Die Anzahl der Neurentner sank massiv, die „Scheininvaliden verschwanden aus der Diskussion. Heute steht die IV am Pranger. Der Chef der IV, Stefan Ritler, musste sich vergangene Woche nach einem Interview mit dem Tagesanzeiger harsche Kritik gefallen lassen („Ein Zyniker als oberster IV Chef“, „Nationalsozialistisches Gedankengut“), weil er sachlich Fragen zur Rentensprechung bei psychischen Leiden und Scheudertraumatas beantwortete.

Der Tagesanzeiger goss allerdings auch Öl ins Feuer, indem er das Interview mit „Arbeit ist die beste Ablenkung vom Schmerz“ betitelt hat. Dies hat Herr Ritler so natürlich nicht gesagt. Die kritischen Passagen lauten (Achtung: Zitat ;-)):

Tagesanzeiger: Gibt es das Schleudertrauma aus Ihrer Sicht gar nicht?
Ritler: Zum Schleudertrauma möchte ich Folgendes sagen: In der Westschweiz gibt es diese Diagnose praktisch nicht. Im umliegenden Ausland auch nicht, weil damit keine Versicherungsleistungen bezogen werden können. Die Diagnosen kommen vor allem im Grossraum Basel-Zürich vor, wo die sogenannten Geschädigtenanwälte ihre Büros haben. Auch ich weiss von Menschen, die nach einem Schlag auf die Halswirbelsäule bei gewissen Belastungen Schmerzen haben. Meine Feststellung ist aber auch hier: Die Rente nimmt diesen Schmerz nicht. Es stellt sich aber die Frage, ob die Betroffenen medizinisch adäquat behandelt worden sind.

Tagesanzeiger: Aber mit diesem Schmerz kann man unter Umständen nicht arbeiten.
Ritler: Das schliessen wir nicht grundsätzlich aus. Wir stellen uns aber zuerst die Frage, was kann jemand gegen die Schmerzen unternehmen? Leute mit Schmerzen sagen doch oft: Die Arbeit ist die beste Ablenkung von meinem Schmerz. Wenn man sich zu Hause in sozialer Isolation immer mit seinen Schmerzen beschäftigt, wird es noch schlimmer.

Die Aufgabe der Invalidenversicherung ist keine einfache: Psychische Krankheiten und somatoforme Störungen (Schmerzen ohne organische Ursache) stellen viel höhere Anforderungen als körperliche. Sie sind oft mit der Arbeits- und Lebenssituation der Betroffenen verzahnt. Ihre Diagnose ist schwierig – trotz Früherkennungsmassnahmen. Internationale Studien zeigen, dass Fehlerquoten bei den Invalidenversicherungen hoch sind. Dabei geht es nicht nur um „Scheininvalide“. Strenge Screenings führen nachweislich dazu, dass vielen tatsächlich Kranken Leistungen zu Unrecht verweigert werden – in den USA bis zu einem Viertel der Kranken.

Mehr dazu in meinem Artikel in der NZZ von heute. Wer die NZZ abonniert hat: Der meinem Beitrag gegenüberliegende Artikel von Jürg Krummenacher ist übrigens sehr interessant, auch wenn ich nicht alle seine Ansichten teile. Übrigens: Reaktionen sind auch schon eingetroffen – allerdings noch nicht 211 wie beim Interview mit Stefan Rittler.

PS: Die im Artikel zitierte Arbeit von Low und Pistaferri findet sich hier.

6 thoughts on “Die IV mit Burn-Out

  1. Der Titel im Tages-Anzeiger ist ja völlig richtig, auch wenn Stefan Ritler den Satz so nicht gesagt (sondern nur zustimmend zitiert) hat.

    Ein Ausschnitt aus einem Gespräch mit Dan Ariely, dem grössten Schmerzexperten unter den führenden Verhaltensökonomen:

    Dan Ariely, Sie leiden noch täglich unter Schmerzen. Wie halten Sie das aus?

    Es geht, wenn ich an etwas anderes denke – aber nur dann. Gestern Abend ging ich mit meiner vierjährigen Tochter ins Kino. Sie hielt meine rechte Hand und fragte mich, weshalb ich sie nicht strecken könne. Da wurde mir der Schmerz wieder viel stärker bewusst.

    Können wir lernen, mit Schmerzen zu leben?

    Sicher. In den USA sagen die Sportler: Das Training bringt mich nicht weiter, wenn es nicht schmerzt. Sie beziehen also die Schmerzen in ihr Leben ein. Es gibt allerdings verschiedene Arten von Schmerzen. Meine finde ich leichter auszuhalten, weil ich weiss, woher sie kommen. Schwierig sind Schmerzen im Bauch oder im Kopf, die ein Unheil ankünden, das wir nicht kennen.

    Was raten Sie jemandem, der unter Migräneattacken leidet?

    Ich weiss nur, dass es gegen meine Schmerzen hilft, wenn ich mich ablenke. Viele Menschen mit Migräne ziehen sich in ein dunkles Zimmer zurück und denken nur noch an ihre Schmerzen. Das ist also wohl das Falsche.

    Und noch ein bisschen Empirie:

    Es gab mal ein schönes Porträt eines IV-Rentners (wegen Rückenschmerzen), der auf dem Velo in Frauenfeld herumhetzt und Flaschen aus den Abfallkübeln holt. Er sagte, das sei zwar ein Saustress, aber er spüre dabei seine Schmerzen nicht.

    Und schliesslich noch: Warum schwärmt das Publikum für Helden wie Simon Ammann oder Daniel Albrecht, die nach einem üblen Sturz mit Schleudertrauma zweimal Olympiagold gewinnen oder nach schweren Unfällen zurückkommen, und suhlt sich gleichzeitig in Opfergeschichten von Leuten, die wieder völlig gesund würden, wenn sie nur einen Bruchteil des Aufwands von Albrecht betreiben würden?

    Danke übrigens für den ausgezeichneten NZZ-Artikel als einer der letzten Leuchttürme der Rationalität in dieser Debatte.

  2. Lieber Herr Schär

    vielen herzlichen Dank für die interessanten Ergänzungen. Wie immer nach solchen Beiträgen läuft bei mir die email-box heiss. Und wie immer nach dem selben Muster (etwas zugespitzt natürlich) von zwei Seiten:

    1) Diejenigen, die zustimmen, selber Beispiele kennen, sich aber nicht ge/zu-trauen, dies öffenlich zu sagen auch aus Angst vor Reaktionen (siehe Punkt 2))
    2) Diejenigen, die mir vorwerfen, ich sei unsozial sowie unwissend und würde einfach das and der HSG vorherrschende neoklassische Gedankengut verbreiten.

    Mir liegt die soziale Sicherung sehr nahe – sie ist eine der Grundpfeiler einer modernen Gesellschaft. Damit die knappen Mittel aber wirklich denjenigen zugute kommen, die sie benötigen, braucht es (leider) Anreize und Kontrollen.

  3. Liebe Frau Bütler

    Stefan Ritlers Aussagen mag man wohl als sachlich bezeichnen, (natürlich kann Arbeit von Schmerzen oder anderem Leiden ablenken) – trotzdem sind solche Bemerkungen reichlich realitätsfern: Der freie Arbeitsmarkt ist nun mal keine Therapiestation: Niemand wird eingestellt, «damit er sich von seinem Leiden ablenken kann». Relevant ist einzig, ob die eingeschränkte Arbeitsfähigkeit des Betroffenen für ein Unternehmen überhaupt wirtschaftlich verwertbar ist – und ob derjenige vom dafür ausbezahlten Lohn seine Existenz sichern kann. Die Gleichung «zu gesund für die IV = gesund genug um zu arbeiten» geht eben leider nicht unbedingt auf. Auch wenn das schön einfach wäre.

    Die Wirtschaft sieht hier immer sehr einseitig die gesundheitlich Beeinträchtigten in der Pflicht, die eben einfach ihre «Leistungsbereitschaft» zu erhöhen hätten (also eigentlich einfach «gesünder werden sollten»), dann klappe das auch problemlos mit der Integration in die Arbeitswelt. Die Tatsache, dass sich gewisse Symptome von gesundheitlichen Beinträchtigungen (z.b. Konzentrationsstörungen, schnelle Erschöpfbarkeit, Schmerzen ab einer gewissen Intensität, Nebenwirkungen von Medikamenten u.s.w.) nicht mit dem Willen steuern lassen und auch nicht alles medizinisch «reparierbar» ist, ist für gesunde, 100% leistungsfähige, erfolgreiche Menschen offenbar nur sehr schwer zu akzeptieren. Denn das hiesse ja auch, dass ihre eigenen Leistungen nicht alleine auf harter Arbeit, sondern zu einem gewissen Teil auch schlichtweg auf dem Glück beruhen würden, (mehr oder minder) gesund zu sein und dadurch überhaupt erst die Möglichkeit gehabt zu haben (und immer noch zu haben) das eigene Potential voll ausschöpfen zu können.

    Zur Festigung der eigenen Position (der ganze Erfolg ist natürlich einzig und alleine der eigenen Arbeitsmoral zu verdanken) werden dann diejenigen abgewertet, denen es angeblich an Arbeitsmoral mangle und für die deshalb der Bezug von staatlichen Leistungen besonders «attraktiv sei» und zudem seien sie auch noch zu dumm, um zu merken, dass «Arbeit ihnen eigentlich gut tun würde». Die weitest mögliche soziale Distanz zu dieser Gruppe wird dann auch noch zusätzlich betont, indem ständig darauf hingewiesen wird, dass es sich um «schlecht ausgebildete und in wenig anspruchsvollen und schlecht bezahlten Berufen Tätige» handelt.

    Komplett ausgeblendet wird hierbei die Tatsache, dass vielen IV-Berentungen eine jahrelange Leidensgeschichte vorausgeht, oft mit Kündigungen, diversen Stellenwechseln, krankheitsbedingten Lohneinbussen ect. – besonders eklatant tritt dies bei den von der Politik als «Grund allen Übels» benannten psychischen Erkrankungen zu Tage. Das jährliche Einkommen der psychisch Kranken vor der Berentung liegt (je nach Diagnose) durchschnittlich zwischen 12’000 und 24’000.- (Quelle: Invalidisierungen aus psychischen Gründen, Niklas Baer et al., 2009). Es ist also ganz offensichtlich gerade für Menschen mit psychischen Erkrankungen sehr schwierig bis unmöglich mittels eigener Arbeitsleistung ein existenzsicherndes Einkommen zu generieren. Oftmals liegt dies auch darin begründet, dass viele psychische Erkrankungen sich bereits im Jugendalter manifestieren und Schule, Ausbildung oder den Einstieg in die Arbeitswelt beeinträchtigen oder ganz verunmöglichen. Da bleiben für die Betroffenen nicht mehr allzuviele Handlungsmöglichkeiten, ausser eben die Beantragung einer Invalidenrente.

    Scheinbar stellt man sich unter Gutverdienenden und mit hohem Sozialprestige ausgestatteten Menschen nie die Frage, wie es um die eigene hohe Arbeitsmoral bestellt wäre, wenn der durch die Arbeit erzielte Verdienst nicht einmal mehr das Existenzminimum decken würde und ob man dann nicht auch vernünftigerweise andere Möglichkeiten der Existenzsicherung erwägen würde…?

    Wahrscheinlich gilt das jetzt als typischer Kommentar für die 2. Kategorie obwohl doch «unsozial», «unwissend» oder «neoliberal» gar nicht erwähnt wurden 😉
    Ich gebe aber zu, dass ich durchaus gewisse Zweifel hege über die tatsächlichen Kentnisse der «gesundheitlich, beruflich, sozial und finanziell Privilegierten» über die Lebensrealität derjenigen, die in der Öffentlichkeit immer nur als «anonyme Fälle» abgehandelt werden. Vom «Volk» mit Zuschreibungen bedacht von «scheininvalid» über «arbeitsscheu» bis «Schmarotzer» von Studienverfassern etwas vornehmer als «Bezüger ungerechtfertigter Leistungen» betitelt (was aber schlussendlich auf das selbe herauskommt).

  4. Dan Ariely ist ja nicht nur der grösste Schmerzexperte, sondern auch einer der grössten Kritiker der (neo)klassischen Ökonomie. Seine eigenen schmerzlichen Erfahrungen hat er im Artikel „Painful Lessons“ in wissenschaftlicher Form verarbeitet:

    http://web.mit.edu/ariely/www/MIT/Papers/mypain.pdf

    Und ein grosser Teil dieses Textes ist, zusammen mit der Kritik der Ökonomie, in sein Buch „The Upside Of Irrationality“ / „Fühlen nützt nichts, hilft aber“ eingeflossen. Das müsste im BSV und in den Parlamentskommissionen Pflichtlektüre sein.

  5. Liebe Frau Baumann

    Vielen Dank für Ihren Kommentar. Es geht mir gerade darum, dass denjenigen, die eine solche Leidensgeschichte hinter sich haben, auch wirklich noch geholfen werden kann. Im Übrigen werden Renten wegen psychischen Leiden nicht nur an Menschen mit vormals tiefen Erwerbseinkommen ausbezahlt, sondern auch an sogenannt Privilegierte. Die Renten aus der Beruflichen Vorsorge sind oft so hoch, dass die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt sich nicht mehr lohnt.

  6. Liebe Frau Bütler

    Dass sowohl bei den Pensionskassengeldern wie bei den Ergänzungsleistungen gewisse finanzielle Fehlanreize bestehen, ist unbestritten. Der Punkt ist aber, dass von Ihnen, Gentinetta, Ritler, Burkhalter und diversen anderen diese Fehlanreize immer so dargestellt werden (jetzt mal bewusst etwas überspitzt formuliert ) wie wenn eigentlich alle IV-Bezüger nur deshalb IV-Bezüger wären, weil sie sich eines schönen Tages hingesetzt hätten und sich gesagt hätten: «Ich hab keine Lust mehr zu arbeiten, das lohnt sich ja auch gar nicht, ich lege mir jetzt mal eine IV-Rente zu». Es wird nicht direkt so gesagt, aber das ist das, was ankommt – und was auch ganz bewusst ankommen soll, damit sich Kürzungen und Sanktionen u.s.w. politisch überhaupt rechtfertigen lassen.

    Die IV-Gesetzgebung liest sich mittlerweile zunehmend wie wie ein Disziplinierungsprogramm für arbeitsunwillige Schwerverbrecher. Dass es – wie Sie sagen – darum gehen soll, chronisch kranke und behinderte Menschen «zu unterstützen» ist kaum noch ersichtlich.

    Dazu passt auch, dass mit der neusten IV-Revision die Grundlage geschaffen wurde, einst rechtmässig(!) zugesprochene Renten aufzuheben – absolut ungeachtet des realen Gesundheitszustandes. Eine Regelung, für die sich ja auch Ihre Kollegin Katja Gentinetta einst prominent in der NZZ ausgesprochen hatte. Da ist es dann auch komplett egal, dass sogar im Strafrecht ein Rückwirkungsverbot existiert. Rechtssicherheit für IV-Bezüger hingegen ist etwas, auf das man offenbar in der Schweiz ganz gut verzichten kann. Ein weiteres Zeichen dafür, dass es der Politik und der Wirtschaft (wobei das ja sowieso das selbe ist) gar nicht darum geht, gesundheitlich beeinträchtigte Menschen wirklich zu unterstützen.

    Und es gehr hierbei nicht um Geld. Die Grundlage einer echten Unterstützung wäre der Respekt. Den zeigte man damals nicht, als man gesundheitlich beeinträchtigte (oder auch einfach «schwierige») Mitarbeiter in die IV «entsorgte» meist ohne die Möglichkeit zu einer Eingliederung (selbst dann nicht, wenn die Betroffenen sich dies ausdrücklich wünschten) und den zeigt man auch heute nicht, indem man die IV-Bezüger nun kollektiv verunglimpft, um eine von der Politik genau definierte Anzahl von ihnen wiederrum problemlos aus der IV «entsorgen» zu können.

    Die Reduktion von Leistungen sowie Zwang und Disziplinierung der Betroffenen werden als Königsweg zur Sanierung der Invalidenversicherung (und – um das ganze noch etwas «menschlicher» zu verpacken) zur erfolgreichen Integration propagiert. Man sollte sich mal überlegen, ob Respekt gegenüber den Betroffenen nicht der sinnvollere Weg wäre. Respekt würde auch beinhalten, dass man nicht permanent über die Köpfe der Betroffenen hinweg über die «finanziellen Beweggründe» spricht, die sie (angeblich) am arbeiten hindern, sondern auch mal im direkten Dialog nachprüfen würde, ob das denn überhaupt stimmt. Und welche Unterstützung und Bedingungen die Betroffenen selbst als wichtig für eine erfolgreiche Eingliederung erachten würden.

    Möglicherweise werden die «finanziellen Vorteile» oft auch nur als oberflächliche Ausrede genutzt, weil «die finanzielle Optimierung der eigenen Situation» gesellschaftlich anerkannter ist, als beispielsweise Ängste vor dem Wiederreinstieg in die Arbeitswelt. Und diesen Ängsten (die ich persönlich für sehr verbreitet halte) mit immer noch mehr Druck und Zwängen zu begegnen, kann einfach nicht erfolgsversprechend sein.

    Das sah übrigens auch Herr Ritler so, bevor er IV-Chef wurde und damit die von Politik und Wirtschaft vorgegebene «harte Linie» verteidigen muss: «(…)Ideen, dass Menschen mit Zwang therapiert werden könnten, erinnern stark an die Diskussion über die offene Drogenszene am Letten. Es war nicht der Ruf nach Therapiezwang, der der Drogenproblematik in Zürich ein Ende setzte. Es waren verschiedene Akteure und Institutionen, deren aufeinander abgestimmte Massnahmen die Lebenssituation der Betroffenen verbesserte. Genau mit diesem Ansatz sollte die Invalidenversicherung saniert werden. Keine Zwänge, kein Abschieben zwischen den verschiedenen Akteuren der sozialen Sicherheit, sondern gezieltes und pragmatisches Handeln miteinander.» (Quelle: «Schweizer Personalvorsorge» November 2009).

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