Zürich spart

Urs Birchler

Wie die Presse meldet, hat Zürich kein Geld, um die Wanderwege am Uetliberg zu unterhalten. Erste Zweifel keimen aber bereits am Fuss des Zürcher Hausbergs, genauer: bei der Tramschleife Laubegg. Diesen Sommer war diese — mit Budget-Mischung besät — vielleicht die schönste Tramschleife Zürichs (erstes Bild). Leider war dies offenbar zu billig. Nach mehrwöchigen Bauarbeiten prangt die Schleife (zweites Bild) in neuem Schmuck aus Kies und vorbereiteten Mini-Pflanzbeeten, das Ganze umrahmt mit einer Reihe von Steinen, die zwar offenkundig nicht von Zen-Mönchen gesetzt wurden, aber dennoch auch auf der Rechnung stehen dürften.

Ästhetisch dürfen wir nicht vor nächstem Sommer urteilen. Polit-ökonomisch vermuten dürfen wir bereits jetzt: Die Sparübung am Uetliberg riecht nach Alibi. Verwaltungen versuchen ihre Gesetz-(und Geld-)geber gerne unter Druck zu setzen, indem sie dort sparen, wo es sichtbar ist und weh tut, damit das Geld für weniger Nützliches weiter sprudelt.

Überhaupt: Wollte die Stadt nicht Gemüse in die Tramschleifen pflanzen? Die Kiesschleife Laubegg sieht jedenfalls nicht danach aus. Drum suchte ich im Internet. Und fand Unerwartetes: Meinen Suchbefehl „grün zürich gemüse tramschleifen“ beantwortete Google mit einer poetischen Gegenfrage: „Meinten Sie ‚grün zürich gemüse traumschleifen‚?“

In diesem Sinne: Gute Nacht!

LaubeggVor
LaubeggNach

Mehr als Bratwurst und Cervelat

Monika Bütler

Die gestrige SF (Abstimmungs-)Arena zu den Tankstellen war ja ziemlich bedrückend. Bundesrat Schneider-Ammann wirkte total eingeschüchtert (weshalb hat man denn dem armen Mann nicht noch eine zweite Stimme zur Seite gestellt?). Mindestens hatte er gut argumentierende Hinterbänkler. Die Tankstellenchefin Susanna Gubelmann war grandios; bodenständig und schlau: „Wie um Himmels Willen erkläre ich jemandem, dass er zwar 7 Weggli aber keinen Zopf kaufen darf?“.

A propos: Himmels Wille ist offenbar, dass Sonntags- und Nachtarbeit für die Kirche edel, für alle anderen hingegen pfui ist und deshalb verboten werden muss. So etwa die Kurzfassung der gegnerischen Argumentation. Gelernt habe ich auch, dass es offenbar zwei Arten von Menschen gibt: Arbeiter und Konsumenten (oder neudeutsch: Arbeitende und Konsumierende). Oder, etwas anders interpretiert, dass mein arbeitendes ich vor meinem konsumierenden ich per Gesetz geschützt werden muss. Fragt sich nur, wer genau den Schutz bestimmt. Die Gegner der Vorlage wussten es.  Das mit der Kirche als moralischen Kompass hatten wir übrigens früher schon mal. (Bevor ich böse emails erhalte: Ich habe gar nichts gegen die Kirche, ich stamme aus einer katholischen Grossfamilie, zu der auch die erste Schweizer Heilige gehörte).

Es geht zwar in der Vorlage nicht um Sonntags- oder Nachtarbeit, sondern um die Korrektur einer ziemlich unsinnigen Einschränkung des Angebots in der Nacht. Es ist aber durchaus angebracht, den grösseren Kontext der Vorlage anzuschauen. Leider hat dies Bundesrat Schneider-Ammann versäumt. Die Diskussion über die Länge der Ladenöffnungszeiten und die Rolle des Sonntags (als Ruhetag) ist wichtig. Und entgegen aller Vorurteile sind nicht einfach alle Ökonomen partout für unbeschränkte Öffnungszeiten der Läden. Ich erinnere mich an den Vortrag meines Berliner Kollegen Michael Burda (übrigens amtierender Präsident des Vereins für Socialpolitik, des Vereins der deutschsprachigen Ökonom(inn)en). Er wollte eigentlich zusammen mit seinem Brüsseler Kollegen Philippe Weil zeigen, dass die Einschränkung der Ladenöffnungszeiten – songenannte Blue Laws – volkswirtschaftliche Kosten hat.

Herausgekommen ist etwas differenzierteres: Die Blue Laws reduzieren zwar (a) die relative Beschäftigung in einer Volkswirtschaft, erhöhen aber (b) auch die Löhne der Beschäftigten und deren Produktivität und führen (c) erst noch zu tieferen Verkaufspreisen.

Auch andere Studien nehmen sich der Blue Laws an. So finden Yu und Kaffine, dass die Aufhebung des Verbots, am Sonntag Alkohol kaufen zu können, die Alkohol-bedingten Unfallzahlen nicht beeinflusst hat. Hingegen finden Gerber, Gruber und Hungermann, dass die Aufhebung des Verkaufsverbots am Sonntag zu einem doch recht starken Rückgang der Kirchenbesuche führt. Honi soit qui mal y pense. Die Vertreter der Kirche und der linken Parteien haben bestimmt einen viel edleren Grund, das Sonntagsverkaufsverbot beizubehalten: die Sorge um die Stimmbeteiligung. Gerber, Gruber und Hungermann finden nämlich, dass die Stimmbeteiligung unter den Sonntagsverkäufen litt (über den weniger häufigen Kirchenbesuch). Womit wir wieder bei den Abstimmungen wären.

Sparsocken

Unser Jüngster spielt Fussball bei den E-Junioren. Nach dem letzten Match entspann sich folgende E-Mail-Korrespondenz (Namen geändert, Text original):


Liebe Eltern
befindet sich in einer Club-Tasche Antons zweite grüne Stulpe sowie darin eine schwarze Angry Birds-Socke?


Hallo
Boris vermisst folgendes:
– Trainingsjacken
– Stulpen
– Trainings-T-Shirt


Carlo vermisst:
– grüne kurze Club-Hose (ohne Namen).
Carlo hat übrig:
– Club-Regentrainerjacke (ohne Namen).


Der real existierende Realtausch ist offensichtlich selbst dann mühsam, wenn die Bedürfnisse eigentlich gegenseitig übereinstimmen müssten (double coincidence of wants).

In den Wirtschaftslehrbüchern wird mit der Mühsal der Tauschwirtschaft gerne die Existenz des Geldes als Tauschmitel erklärt. Wie kommt — ohne Geld — der Friseur zu seinem Braten, wenn der Metzger kahl ist? Oder die Socke wieder zur Stulpe?

Jetzt bin ich plötzlich nicht mehr sicher. Im vorliegenden Fall würde Geld als Tauschmittel wenig nützen. Seine Stärke liegt daher wohl eher in der Wertaufbewahrung. Dazu eignet es sich besser als eine gebrauchte Angry Birds-Socke. Drum ist der stabile Geldwert so wichtig. Und drum haben Währungen, die morgen alles oder nichts wert sein können, wie die Bitcoins keine wirkliche Chance. Jedenfalls nicht gegen stabile Währungen. Wenn natürlich die grosse Hyperinflation kommt, dann liegt die Währung von morgen vielleicht heute schon in Mutter Shaqiris Sockenschublade.

Banking Union in der Schweiz

Ich war am Montag nicht in erster Linie wegen des (Wintermantels) in Wien, sondern für ein Referat bei Erste Bank zum Thema „European Banking Union — a Swiss Perspective“. Dazu wurde sogar ein Trailer gedreht:

Hier die Kurzfassung:

In der Schweiz sind die politische Union (1848) und die Währungsunion (1848: Münzen; 1907: Banknoten) zuerst erfolgt. Anschliessend folgte über einen längeren Zeitraum (1834-2011) verteilt die „Bankenunion“ (zentrale Aufsicht, einheitliches Sanierungsrecht, harmonisierte Einlagenversicherung). Das Beispiel Schweiz zeigt, dass für eine erfolgreiche Bankenunion nicht nur das Konzept stimmen muss, sondern, dass der Erfolg im Detail liegt.

Wichtig für die EU-Staaten wären insbesondere das Konkursprivileg für Bankeinlagen und die Möglichkeit zur Zwangssanierung einer Bank unter Einbezug der Aktionäre und Gläubiger. Die diesbezügliche Gesetzgebung in der Schweiz bietet zahlreiche Anhaltspunkte, wie die Bestimmungen im einzelnen gestaltet werden müssten.

Zollunion CH-EU

Urs Birchler und Monika Bütler

Erster Akt. Flughafen Wien Schwechat, Terminal 3. Zwei Stunden bis zum Abflug nach Zürich. Im Handgepäck mein neuer Wintermantel. Da wir immer brav verzollen, möchte ich auch die „Detaxe“ (offiziell: Mehrwertsteuer-Rückerstattung) geltend machen. Darf man aber erst nach erfolgtem Check-in. Check-in ist weiter kein Problem, ausser dass ich den Koffer nicht abgeben darf, bevor die Steuerrückerstattung geregelt ist. Der Hinweis, dass ich die „Ware“ (ein fades Wort für meinen dunkelblauen Mantel) im Handgepäck habe, sticht nicht. Der Koffer muss zum Zollschalter und geht dann von dort direkt weiter nach ZRH.

Zweiter Akt. Am Zollschalter stehen zwei Dutzend nahöstliche Familien mit Bergen von Gepäck in der Warteschlange. Der Beamte, mit einer Hand am Telefon, stempelt geduldig ganze Bündel von Kaufquittungen. Nach 20 Minuten trotzdem noch kein Zentimeter weiter. Monika, als fast einzige Frau unverschleiert, macht ein besorgtes Gesicht. Daher Plan B: Im Terminal 1 hat’s auch einen Zollschalter.

Dritter Akt. Am Schalter in Terminal 1 kommen wir gleich dran. Nur: Hier können wir den Koffer nicht lassen, da er von Terminal 1 nicht nach ZRH kommt. Es gebe aber einen Zollschalter auch nach der Passkontrolle. Daher Plan C: Zurück zum Terminal 3, den Koffer halt doch einchecken und mit dem Handgepäck an den Zoll-Schalter hinter der Passkontrolle. Bis zum Einsteigen bleiben immer noch 30 Minuten. Sicherheitskontrolle mit Fehlalarm bei Monika. Bitte dahin stehen, gnädige Frau. Bitte Arme heben, etc. Zollschalter zwei Treppen höher.

Vierter Akt. Ein Beamter in bester Laune (er durfte grad frisch von der Nahost-Schlange an den ruhigeren Schalter wechseln) drückt den begehrten Stempel aufs Formular: Gleich nebenan erhalten Sie das Geld. Voreilig beglückt warten wir, bis am Auszahlungsschalter die Dame mit dem Kollegen auf Ungarisch fertig geredet hat. Immer noch 20 Minuten bis zum Einsteigen. Bis alles kontrolliert ist, bleibt Zeit, die Wechselkurstabelle zu studieren: Zwischen An- und Verkauf klafft eine Differenz von rund 30 Prozent. Zum Glück sind wir nicht zum Wechseln hier. Dachten wir jedenfalls. Die Dame will uns nämlich Schweizer Franken oder US-Dollars auszahlen: In Euro hätten sie eine Cash-Limite. Ist der Euro nicht offizielles Zahlungsmittel in Österreich? Bloss: Wie sollen wir das Recht auf Euro einklagen, ohne den Flieger zu verpassen? In der Zwischenzeit ist’s nämlich noch zehn Minuten bis zum Einsteigen. Gutschrift auf Kreditkarte? Ja, gerne. Nur dauert das weitere 5 Minuten.

Vierter Akt. Endlich ausbezahlt möchten wir gerne zum Gate. Jetzt platzt die Bombe: Da müssen Sie wieder aus der Flughafenzone raus und nochmals durch die Sicherheitskontrolle. Und wo lang bitte? Da zwei Treppen runter. Nichts wie los, nur leider Sackgasse. Zum Glück treffen wir auf eine Beamten. Wie kommen wir zu den F-Gates bitte, Einsteigen ist in 5 Minuten? Das können Sie gleich vergessen!

Fünfter Akt. Nach einem weiteren Fehlalarm bei der Sicherheitskontrolle (diesmal piepst’s bei mir) haben wir den Flieger im Schweisse nicht nur des Angesichts noch erwischt. Zum Glück wurden wir nicht als Schmuggler entlarvt, denn streng genommen hatte ich doch beim vorübergehenden Verlassen der Flughafenzone meinen neuen Wintermantel, ohne ihn zu verzollen, für kurze Zeit zurück nach Österreich eingeführt.

Per Saldo: 13% österreichische MWst gespart, 8% Schweizer Zoll bezahlt, für die esparten 5% (und das gute Gewissen) eineinhalb Stunden herumgeirrt, dass selbst Franz Kafka gestaunt hätte, und schliesslich noch fast den Flieger verpasst. Dazu die Arbeitszeit all derer, durch deren Hände die Formulare gehen. Volkswirtschaftlich ein sicheres Verlustgeschäft. Schmuggeln wäre billiger!

Drum unsere Folgerung: Zollunion mit der EU! Für Artikel bis 2’000 Franken am besten sofort. Die Schweiz übt sich dumm und dämlich, um mit der EU bezüglich Abgeltungssteuern auf verwalteten Vermögen oder einen Informationsaustausch ins Reine zu kommen, sie hofft auf ein Dienstleistungsabkommen, sie übernimmt laufend Regulierungen — aber das Einfachste geht vergessen: Ein Schengen-Abkommen nicht nur für Personen, sondern auch für Güter.

Batz.ch erteilt deshalb dem Bundesrat ein Verhandlungsmandat. Mal sehen, ob mein Wintermantel den Abschluss noch erleben wird.

Büchsenravioli

Monika Bütler und Urs Birchler

Wir sind beide in kulinarisch eher bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Kochen war – um es einmal vorsichtig auszudrücken – nicht die Stärke unserer Mütter. Suppen aus dem Beutel (machte man damals so), keine Auswahl, kaum Abwechslung (immer der gleiche Wochenplan), nie Restaurants (schon gar keine im Ausland, da waren wir ohnehin nie (Monika) oder nur auf dem italienischen Zeltplatz (Urs)). Etwas Kompensation brachte, dass alle Gemüse, Früchte und Eier bei Monikas Familie aus eigenem Anbau stammten. Doch „biologisch“ macht die nach 30 Minuten aus dem Wasser gezogenen Kohlrabi auch nicht viel schmackhafter. Kein Wunder hatten wir eine Lieblingsspeise gemeinsam: Büchsenravioli.

Ganz anders unsere Söhne. Sie essen – meist mit Vergnügen – nicht nur die uns damals unbekannten Auberginen, Artischocken und Rucola, sondern auch Barba dei Frati, Trevisano und wie die südlichen Gemüsearten alle heissen. Die Buben kennen nicht nur mehr Tiere aus der freien Natur, sondern auch auf dem Teller (so zum Beispiel Meerschweinchen in Peru). Die Japanische und Thailändische Küche ist ihnen genau so bekannt wie die Schweizerische. Wir gehen zwar in Zürich fast nie ins Restaurant, auf unseren Reisen dafür umso mehr. Und zu guter Letzt bilden wir uns Eltern ein, dass wir einigermassen kochen können. Mindestens tun wir dies oft, gerne und mit frischen Zutaten (teilweise wieder aus eigenem Anbau).

Und dann dies: Als wir uns kürzlich wieder in einer Nostalgiephase an die Büchsenravioli erinnerten, entschieden wir uns, einen Test zu machen. Das Urteil der Söhne war vernichtend: Megafein.

Die obligaten „Learnings“ aus der Geschichte: Vielleicht sind unsere Kochkünste doch bescheidener als wir dachten. Oder – für uns etwas vorteilhafter – die kulinarische Beeinflussbarkeit der Kinder durch die Eltern ist bescheidener als wir dachten. Wir werden uns entsprechend mit Büchsen ausrüsten. Als Notvorrat getarnt.

„Armut“

Urs Birchler und Monika Bütler

Die Ferien sind vorbei, aber der Schock wirkt nach. Die Schlagzeile „Jeder 7. Schweizer von Armut bedroht“ erreichte uns in den Anden auf 3’500 müM. In Zürich hätte man gedacht: „Ach, schon wieder“, und hätte umgeblättert. Aber in Peru gelesen löst die Meldung Schreikrämpfe aus.

Monika hat in einem früheren Beitrag gezeigt, dass die international gebräuchliche relative Messung der Armut (z.B. die ärmsten 10 Prozent) absurd ist. Die Zielsetzung, die Armut zu halbieren erinnert deshalb an den Mathematiklehrer, der sagt: Ich möchte, dass möglichst viele in der besseren Hälfte der Klasse sind.

Das BFS misst die Armut ergänzend auch absolut, ausgehend von einem Existenzminimum. Dieses umfasst allerdings auch Versicherung, Kinobillette und selbstverständlich Fernsehen. Nicht berücksichtigt wird allerdings der Lebenszyklus (bereits gebatzt): Als Studenten waren wir gemäss BFS-Definition beide arm (und hatten es trotzdem lustig). Ebenfalls nicht berücksichtigt wird das Vermögen. Ein Rentner, der das Pensionskassenkapital anstelle einer Rente bezogen hat, wird dabei sofort „arm“. Wer sich einer brotlosen Kunst verschreibt, weil er eine Erbschaft erwartet, zählt ebenfalls als arm.

Wir haben hoch in den Anden und tief am Amazonas Menschen getroffen, die knapp ein Dach über dem Kopf haben, einige wenige Kleidungsstücke und grad genug zu Essen. Von einer Versicherung oder einem Kinobillet haben sie kaum je gehört, und die Schule wäre ein bis zwei Tage entfernt. Und jeder siebte Schweizer soll am Rande der Armut stehen!?

Weshalb nur brauchen wir solche eingebildeten Schreckmümpfeli? Ist das Leben in der Schweiz sonst zu langweilig? Oder kultivieren wir in der Schweiz eine „Insel der Angst“? (Siehe dazu den Beitrag über Ariel Magnus, ebenfalls im batz.ch).

Dass die Organisationen, die von der Armutsbekämpfung (bzw. von den zu diesem Zweck gespendeten Geldern) leben, unbelehrbar sind, ist noch verständlich. Aber warum nehmen die Medien (mit Ausnahme der BAZ) nicht zur Kenntnis, dass Armut in der Schweiz im wesentlichen eine statistische Fabel ist?

Service Privé

Monika Bütler und Urs Birchler

Reisen in der Schweiz. Da und dort trifft man auf den stillen Abbau des Service Public. Wir möchten (nur mit Rucksack) von Arosa nach Davos wandern und dann mit der Bahn weiter nach Muottas Muragl. Eine Tasche mit Reservekleidern soll schon mal per Bahn voraus. Nur befördert die RhB Reisegepäck nicht mehr zur Muottas Muragl Bahn (weder Berg- noch an die RhB-Talstation Punt Muragl); ja nicht einmal mehr zum Bündner Bahnknotenpunkt Filisur.

Samedan wäre im Angebot. Nur: die kurze Umsteigezeit erlaubt dort kein Abholen. Da springt der Bahnhofvorstand von Samedan grosszügig ein und offeriert, die Tasche aufs Perron zu bringen. Man müsse dann nur kurz vorher anrufen. Das macht die geplante Reise wieder möglich. Als der Zug verspätet ist, ruft der Stationsvorstand seinen Kollegen bei der Muottas-Muragl-Bahn an, es käme eine Familie etwas knapp, man möge doch notfalls mit der Abfahrt eine Minute warten.

Auf dem Rückweg hätten wir die Tasche gerne über Nacht am Bahnhof Filisur eingestellt. Doch: Der nur noch halb-bemannte Bahnhof (bei dem sich immerhin drei Linien kreuzen) bietet keine Gepäckaufbewahrung mehr. An Stelle des Service Public tritt aber wiederum ein freiwilliger Service Privé: Die Betreiberin des Bahnhofcafé, die auch die Billete verkauft, erlaubt uns, den Koffer eine Nacht neben dem Kühlschrank zu lagern.

Die private Flexibilität und der Sinn für pragmatische Lösungen kompensieren Lücken im offiziellen Angebot. Vielleicht ist es — so der Schluss aus unserer Wanderung — dieser Service Privé, der die Schweiz im innersten zusammenhält. Wieviel Abbau des Service Public er verträgt, bzw. kompensieren kann, ist allerdings die andere Frage.

Jedenfalls: Danke an die RhB, den Bahnhof Samedan (insbesondere Herrn Marco Kollegger) und ans Bahnhofcafé Filisur — mit den gemütlichen Tischen unter dem romantischen Vordach allein schon die Reise wert. (Ab ZH stündlich in 2h24, inbegriffen die Fahrt über den Landwasser-Viadukt).

Gaat oi nüüt aa

Monika Bütler

Mit etwas Verspätung hier meine letzte NZZ am Sonntag Kolumne, publiziert am 14. Juli 2013 unter dem Titel: „Die Privatsache der andern geht uns nichts an: Es geht uns allen am besten, wenn wir uns nicht gegenseitig unsere Freiheit beschneiden.“

Unser Jüngster, durchaus kommunikativ und umgänglich, wird einsilbig wenn er uns etwas über die Schule erzählen soll: „Das gaat oi nüüt aa!“, heisst es dann. Lange vor Edward Snowdens Enthüllungen verbat er sich jede Form von Überwachung. Wer seinen Schulthek auch nur von weitem ansieht, kriegt Ärger. Erzählt er sporadisch doch etwas, dann eher über eine zweckentfremdete Schere im Werken (zum gegenseitig Haare schneiden) als über den Mathetest.

Solange Reklamationen der Schule ausbleiben und seine Noten ungefähr seinem Potential entsprechen, lassen wir unseren Junior in Ruhe. Leistungsauftrag heisst das heute. Dass er dieselbe Informationspolitik – geht Euch nichts an – auch in seinen Aufsätzen zum Thema „Mein Wochenende“ verfolgt, geht uns dann nichts mehr an.

Des Buben Sinn für Nichteinmischung mag etwas ausgeprägt sein, er ist uns aber allen angeboren. Jugendliche wehren sich für mehr Freiräume, gegen die Bevormundung der Eltern, die Einmischung und Überwachung durch Schule und Staat. Sogar die Ökonomen – sonst über vieles uneinig – sind für einmal einer Meinung: Es geht uns allen am besten, wenn der Staat sich nur dann einmischt, wenn dritte – Kinder, die Umwelt, die Steuerzahler – sonst wehrlos zu Schaden kommen. Vorschriften, die in private Abmachungen eingreifen sind im besten Fall unnütz, meistens schädlich und immer teuer.

Schade nur, dass uns dieser Freiheitssinn so schnell abhanden kommt wenn es um andere geht. Die Freiheit der andern ist zwar OK, nur nicht grad im konkreten Fall – bei der Höhe der Fenstersims, in der Buchhaltung der Firma, bei der Zulassung des Kinderbetreuers. Über Politiker und Bürokraten zu schimpfen, greift allerdings zu kurz. Die Vorschläge zur Beschränkung der Löhne, zum Beispiel die 1:12-Initiative, stammen aus der Basis. Genau genommen aus Kreisen, die Freiraum für sich selber lautstark fordern. „Binz bleibt!“ hiess es bis vor kurzem in unserer Nachbarschaft. Den Unternehmen wird ihre legale Binz jedoch aberkannt obwohl wir alle davon profitieren. So ärgerlich sie sind, überrissene Löhne sind Privatsache, solange sie nicht über Steuern teilweise mitfinanziert werden. Beispielsweise in Firmen und Branchen, die direkt oder indirekt vom Staat unterstützt werden. Man wünschte sich, die Jusos würden mit derselben Verve für eine bessere (Finanzmarkt-)Regulierung kämpfen. Eine, die wirklich verhindert, dass sich eine Minderheit auf Kosten der Allgemeinheit Vorteile verschafft.

Die Freiheit der andern ist immer ein Problem. So verschwindet scheibchenweise die Freiheit aller. Widerstand gegen Eingriffe in private Entscheidungen regt sich nicht einmal mehr, wenn eine vorgeschlagene Massnahme direkt fast jeden trifft und niemandem wirklich nützt. So ist die von Bundesrat Berset vorgeschlagene Erhöhung des Mindestrentenalters im BVG von 58 auf 62 Jahre eine starke Einmischung in eine im Grunde rein private Abmachung zwischen Firma/Pensionskasse und den Angestellten. Verliert eine 59-jährige ihre Arbeit, wird sie nur schwer eine neue Stelle finden. Statt der Person einen grösstenteils selbstfinanzierten Rücktritt in Würde zu ermöglichen, generiert die Vorschrift eine individuelle Tragödie, verbunden mit sehr viel höheren Kosten für die Allgemeinheit. Ohne die Möglichkeit zur Frühpensionierung bleiben der Entlassenen nur die IV (wenn sie Glück hat) oder – unter Verlust eines Teils der Versicherungsleistung – ALV und später Sozialhilfe.

Viele Eingriffe in private Entscheidungen mögen für sich alleine genommen klein sein. Zusammen sind sie nicht mehr harmlos. Und mit jeder neuen Einschränkung wächst gerade bei Firmen die Angst, dass in der Zukunft noch mehr kommt. Umso erstaunlicher, wie leichtfertig wir anderen und letztlich gemeinsam uns selber den Ast der Freiheit absägen. Hätten wir doch öfter den Mut wie unser Bengel zu sagen: Das gaat oi nüüt aa!