Der ungeborene Bericht

Die Behörden verwarfen eine ordentliche Behandlung der Credit Suisse (konkret: eine Zwangssanierung) mit der Begründung, dies wäre nicht möglich gewesen. Ein Blick in die Berichte der FINMA wecken Zweifel.

Unter dem Titel „Notfallplanung bei systemrelevanten Banken“ berichtete die FINMA im Jahresbericht 2020 (S. 66): Die FINMA beurteilte die Notfallpläne der beiden Grossbanken von 2020 als umsetzbar. Die Credit Suisse erfüllt die gesetzlichen Vorgaben wie bereits im Vorjahr vollständig. Im Folgejahr heisst es unter demselben Titel im Jahresbericht 2021 (S. 58): Die FINMA beurteilte die Notfallpläne der Schweizer Einheiten von UBS und Credit Suisse im Jahr 2021 als umsetzbar. Die Credit Suisse erfüllte die gesetzlichen Vorgaben wie bereits in den Vorjahren vollständig.

Die Recovery-(Rettungs)-Pläne waren also ok. Die CS hat sogar für die gute Umsetzung einen Rabatt bekommen. Bei den Resolution-(Auflösungs-)Plänen fehlte anscheinend auch nicht viel. Im Resolution-Bericht der FINMA vom März 2021 liegt die CS bei den meisten Anforderungen im grünen Bereich, Tendenz sogar noch aufwärts (Bild unten).

Was hat denn noch gefehlt, fragt man sich, damit die CS weitestgehend aufgrund ordentlichem Rechts, d.h. den bankengesetzlichen Regeln zur (Zwangs-)Sanierung hätte gerettet werden können? Waren die beiden verbleibenden gelben Felder so entscheidend? Und hätte die dort vorhandenen Probleme nicht mit viel weniger Notrecht gelöst werden können?

Die Antwort stünde in dem aktuell fälligen neuen Resolution-Bericht der FINMA. Angesichts der neuesten Ereignisse ist dieser noch nicht erschienen. Er liegt aber mit Sicherheit vor, vielleicht sogar in der bis letzte Woche vermeintlich definitiven Fassung. Dieser Bericht wäre von grösstem Interesse. Er würde zeigen, wie die FINMA die Resolutionspläne der CS bis vor einer Woche beurteilte, was noch fehlte und warum. Dies würde uns helfen zu verstehen, warum die notrechtliche Zwangsübung vom 19. März gewählt wurde. Wenn die FINMA Zivilcourage zeigen will, veröffentlicht sie deshalb den endgültigen Bericht zusammen mit der bis dahin (also am 18. März) gültigen Entwurfsversion.

Credit Suisse: Ist die Löschung der AT1-Bonds unfair?

In diesen Tagen wird immer wieder diskutiert, ob es fair war, die sogenannten AT1-Bonds zu löschen, während die Aktien geschont werden [AT1 = zusätzliches Tranche-1-Kapital]. Deshalb hier in aller Kürze ein Versuch, die Frage zu entschärfen.

Naheliegend ist die Interpretation, Aktienkapital sei das erste Verlustpolster einer Unternehmung. Erst danach kämen die Schulden, beginnend mit nachrangigen, dann „normalen“, dann privilegierten. Die AT1-Bonds, als Schulden gesehen, kämen dann tatsächlich erst nach den Aktien „zur Kasse“.

Richtiger ist es jedoch, AT1-Bonds als Versicherung zu sehen. Wenn das versicherte Ereignis eintritt, zahlt die Versicherung. Anders als be einer normalen Versicherung ist die Versicherungssumme schon zum voraus ausbezahlt. Der Grund: Wenn die Bank falliert, will die Aufsichtsbehörde nicht den Versicherern nachrennen müssen, um das Geld einzutreiben.

Das Geld liegt also schon bei der Bank, aber die Versicherer haben eine „Quittung“ (den AT1-Bond) erhalten: Tritt während der Laufzeit das versicherte Ereignis nicht ein, bekommen sie gegen diese Quittung ihr Geld zurück.

Interpretiert man die AT1-Bonds als Versicherung, wird klar, dass es nicht unfair ist, dass die Versicherung zahlen muss, bevor die Aktien gelöscht werden. Brennt das Bankgebäude nieder, kommt auch niemand auf die Idee, die Aktionäre und Aktionärinnen müssten zuerst bezahlen und erst danach die Feuerversicherung.

Soweit relativ einfach. Nur, wie immer bei einer Versicherung, lautet die entscheidende Frage: Was ist das versicherte Ereignis? Feuer und Hagelschlag sind einigermassen objektiv feststellbar. Nicht so, die Veränderungen im Zustand einer Bank. Ein Unterschreiten der Eigenmittelquote von x Prozent? Hängt von der Bewertung von Tausenden von Positionen durch die Bank, das Revisorat und die Aufsicht ab? Ausserordentliche Liquiditätshilfe durch die Notenbank? Ist beobachtbar, aber kein exogenes Ereignis. Dito eine Sanierungsmassnahme der Aufsicht. Schlitzohrige Behörden könnten durch ihre Massnahmen die Löschung der AT1-Bonds aktiv auszulösen.

Kurz: Das Problem ist nicht die (in den Emissionsprospekten klar vorgesehene) Löschung der AT1-Bonds bei Schonung des Aktionariats. Das Problem, und einiges Juristenfutter, liegt in der Definition des „Triggers“, der die Löschung auslöst.

Mein Medientagebuch zur Credit Suisse

Die vergangenen Tage war ich vollauf beschäftigt, Medienanfragen zum Thema Credit Suisse zu beantworten. Hier die Zusammenstellung:

Das Lohngefüge im öffentlichen Dienst steht schief

Monika Bütler

Meine NZZaS Kolumne vom 19. März 2023 („Einige Staatsangestellte verdienen zu viel, andere zu wenig – und das ist ein Problem“) in etwas ausführlicherer Form

Die Stadt Zürich erhält von einem grosszügigen Gönner 500 Millionen Franken. Einzige Auflage: die Mittel müssen für jene Angestellten eingesetzt werden, die in unentbehrlichen Berufen arbeiten und am Arbeitsplatz am meisten unter Stress stehen.

Der Gemeinderat beschliesst darauf: Die wöchentliche Arbeitszeit der Angestellten mit Schichtarbeit wird während vier Jahren auf 35 Stunden reduziert – bei gleicher Entlöhnung. In den Genuss kommen Mitarbeitende in Pflege und Betreuung, in der Reinigung, bei der Stadtpolizei und den Verkehrsbetrieben. Mit der Spende werden die zusätzlich notwendigen rund 1200 Vollzeitstellen finanziert. Der Versuch wird wissenschaftlich begleitet.

Den edlen Spender gibt es natürlich nicht. Alles andere jedoch entspricht genau der Realität, genauer: dem Mitte März 2023vom Zürcher Gemeinderat vorgeschlagenen Pilotversuch, eingeschlossen dessen vom Stadtrat geschätzten Kosten und der geplanten wissenschaftlichen Begleitung.

Als Gedankenexperiment hat der vorgeschlagene Pilotversuch auch ohne Gönner einen gewissen Charme. Er legt den Finger, wohl eher unbeabsichtigt, auf einen wunden Punkt. Bei den Anstellungsbedingungen öffentlicher Angestellter stimmt nämlich etwas nicht, nicht nur bei der Stadt Zürich: Das Lohngefüge im öffentlichen Dienst steht schief und dies schadet nicht nur dem Gemeinwesen, sondern auch der Gesamtwirtschaft.

Nicht erst seit der Pandemie wissen wir, dass die Belastung an der “Front”, d.h. in Bereichen wie der Pflege, der Polizei, der Müllabfuhr und den Verkehrsbetrieben hoch ist. Viel höher als bei administrativen Berufen, bei denen es – so mindestens lassen es viele Stimmen in den Medien vermuten – möglich wäre, die bisherige Leistung in weniger Zeit zu erbringen bei erst noch viel flexibleren Arbeitszeiten.

Aussagen über zu grosszügige Gehälter beim Staat sind deshalb teils verständlich, aber vor allem zu pauschal. In einigen Bereichen hat der Staat Mühe, Fachkräfte zu finden. In anderen, zum Beispiel bei gewissen Stabstellen, erhält der Bund dermassen viele Bewerbungen, dass selbst hochqualifizierte und genau aufs Profil passende Leute nicht einmal in die zweite Runde kommen.

Die einen verdienen zu wenig, die anderen zu viel – dies wäre meine lapidare Einschätzung als Ökonomin. Bei der öffentlichen Hand bestimmt hängt der Lohn tatsächlich in den allermeisten Fällen von zwei Dingen ab: von den geforderten (nicht den schwierig messbaren vorhandenen!) Kompetenzen und von der Ausbildung. Gleichzeitig berücksichtigen die Funktionsstufen der staatlichen Organisationen vieles nicht: Die unterschiedliche körperliche und psychische intensive Belastung nur am Rande, die Knappheit der verschiedenen Berufe gar nicht und den Nutzen für die Bevölkerung noch zuallerletzt.

Diese Verzerrungen haben ihren Preis. Die Angestellten in den unentbehrlichen Front-Bereichen, von der Kehrichtabfuhr bis zur Notfallaufnahme, müssen immer mehr leisten. Jene in den – sogenannt direkt produktiven – Dienstleistungsbereichen wie Betreuung oder Reinigung müssen immerhin mitansehen, wie administrative – sogenannt indirekt produktive – Berufe unter viel besseren Anstellungsbedingungen arbeiten: Der Job-Magnet Bürokratie funktioniert, weil die Verwaltung selber Stellen schaffen kann auf Kosten der Leute an der Front, die dies nicht können.

Die schiefen öffentlichen staatlichen Lohnstrukturen wirken weit über den Staat hinaus. Marktblinde Vergütungssysteme verzerren nicht nur die Studien- und Berufswahl. Zahlt der Staat „zuviel“, entweder direkt oder über eine geringere Arbeitsbelastung, fehlen dem Privatsektor die Fachkräfte. Oder sie sind zu teuer. Die internationale Konkurrenz limitiert die Löhne in den Privatfirmen stärker als die immer noch passiven privaten Steuerzahler die Löhne beim Staat. Dazu kommt noch, dass der Anteil der Steuerzahler aus der Privatwirtschaft dauernd abnimmt gegenüber jenem aus dem stark wachsenden öffentlichen Sektor.

Bei aller Kritik am vorgeschlagenen Zürcher Pilotversuch: Es ist richtig und wichtig, über die Arbeitsbedingungen von Pflege, Polizei und ähnlich gelagerten Diensten mit Schichtbetrieb zu diskutieren und Verbesserungen anzubringen. Aber welche? Hat jemand die Beschäftigten gefragt? Der Zürcher Vorschlag mit seinem Einheitsguetsli, einem höheren Stundenlohn via eine geringere Arbeitszeit, scheint reichlich paternalistisch. Vielleicht würde die eine Fachfrau Betriebsunterhalt oder der andere Flughafenpolizist lieber die ursprüngliche Arbeitszeit beibehalten, aber mehr verdienen. Oder ein bisschen von beidem.

Das Verstecken der Lohnerhöhung hinter einer verkürzten Arbeitszeit für einen Teil der Angestellten hat möglicherweise einen tieferen Grund. Der Pilotversuch riecht nach Trojanischem Pferd. Für einmal bedienen nämlich die Initianten aus linken Kreisen nicht primär die eigene Klientel – scheinbar. Dass dies nämlich kaum so bleiben wird, zeigt die Reaktion des Zürcher Finanzvorstandes Daniel Leupi: «Wir wollen auf keinen Fall den Lohnfrieden gefährden», meint er: eine 35-Stunden-Arbeitswoche nur für Angestellte im Schichtbetrieb würde das Gebot der Gleichbehandlung aller städtischen Angestellten verletzen. Als gäbe es sonst keine Ungleichbehandlungen …

UBCS — Einsprache, Hochwürden

In der Presse überstürzen sich die Meldungen, der Bundesrat orchestriere eine Übernahme der Credit-Suisse durch die UBS. Diese Idee wäre dermassen schlecht, dass ich wenigstens vor der Zwangsheirat noch Einsprache erheben will — nach dem Motto der Hollywood-Filme, in denen der Priester sagt: „Wenn jemand etwas gegen diese Verbindung einzuwenden hat, möge er jetzt sprechen oder auf ewig schweigen.“

Eine Übernahme der CS als Ganze oder in grossen Teilen, wäre zunächst ein Riesenlupf für die UBS selbst. Das weiss sie selber natürlich auch. Aber der Reiz, Retter zu sein, kann die Sinne vorübergehend trüben. Ich erinnere mich, als ich kurz nach der UBS-Rettung beim Nachtessen in der Jugendherberge Figino (TI) gefeiert wurde, als jemand aus einen welschen Unihockey-Team hörte, ich arbeite [damals] bei der Nationalbank. „Amis, il ya un de la BNS!“ schrie jemand, und dann wurde Schnaps aufgefahren. Trotzdem wäre die Integration der CS in die UBS tatsächlich eine Schnapsidee. Die Schweizer Banken haben nicht mehr die Rentabilitätsversicherung des Bankgeheimnisses in alter Form und den Komfort eines eher lahmen Wettbewerbs. Eine Bank wie die UBS hat im scharfen internationalen Wettbewerb selber genug zu kämpfen, ohne sich mit einem chronisch kranken Notfallpatienten abzumühen.

Eine Grossbank UBCS hätte in der Schweizer Bankenszene eine Sonderstellung als XL-Too-Big-To-Fail. Eine künftige Krise wäre noch schwieriger zu lösen. Ferner stünde eine solche Bank dauernd unter der Lupe der Politik. Handelt sie umweltfreundlich, genderneutral, angestelltenfreundlich im Sinne der Work-Life-Balance und nimmt sie auch ja kein Geld von jenen, die irgendwann als die Bösen gelten werden? Und wenn es etwas zu retten gibt: Die UBCS hat doch Geld. Alles recht und gut, aber es gibt auch die Ertrags-Kosten-Balance, ohne die alles andere auch nichts wird.

Was wäre denn mit dem Wettbewerb im inländischen Kreditgeschäft und auf dem Hypothekarmarkt. Bei der Fusion UBS-Bankverein im Jahr 1997 formulierte die Wettbewerbskommission immerhin eine Liste von Bedingungen, die den Wettbewerb schützen sollten. Und wollen wir eine Super-GrossBank, die fast zwangsläufig zur Marktführerin im Hypothekargeschäft würde, deren Zinssetzung also die Znssätze der anderen Banken mit sich zöge.

Vor allem ist eine Rettung durch die UBS — wenn wir den Behörden glauben durften — gar nicht notwendig. Die TBTF-Regulierung wurde in mehreren Schritten verschärft und verbessert. Heute kann eine Bank — mindestens ihre inländischen Teile — im Prinzip ohne Konkurs saniert werden. Bei der CS und ihren systemrelevanten Konkurrentinnen gibt es erstens die gesetzlichen Eigenmittel, die offenbar noch vorhanden sind. Zweitens gibt es zwei Tranchen von Anleihen, die automatisch von Schulden zu neuen Eigenmitteln werden, die erste bei Eigenmittelknappheit, die zweite bei einer Zwangssanierung unter Regie der Finma. Drittens gibt es die Konkursprivileg und Einlegerschutz für die „kleinen“ Einleger (bis 100’000 CHF). und last but not least, hat die Finma weitreichende Kompetenzen, eine Bank zu restrukturieren und notfalls entlang der „Sollbruchstellen“ aufzuteilen. Diese Architektur soll sicherstellen, dass Banken bei laufendem Betrieb saniert werden kömnnen und dass die Verluste von den Aktionären getragen werden, also von jenen, denen in einer Marktwirtschaft Gewinne und Verluste gehören.

Diese Regeln gehen letztlich auf die Bankenkrise der frühen 1990er Jahre — vor allem den Untergang der S+L Thun — zurück. Damals zeigte sich, dass es in der Schweiz bei einem Bankenproblem nur zwei „Lösungen“ gab: Konkurs mit Scherbenhaufen oder Rettung durch eine Gotte. Dreissig Jahre, ein Dutzend Expertengruppen sowie ein paar Gesetze später sind wir angeblich wieder am selben Punkt: Die Gotte UBS muss uns vor dem Scherbenhaufen retten.

Wenn das stimmt, sind wir einem Wolkenkuckucksheim — der Sanierung einer TBTF-Bank ohne öffentliche oder private Gönnerschaft — aufgesessen. Et mea culpa: Ich habe einen grossen Teil meines beruflichen Engagements in diese angebliche Illusion investiert. Und ich habe der Finma und der SNB geglaubt, dass der Werkzeugkasten in einer Krise angewendet und funktionieren würde. Und jetzt machen sie ihn nicht einmal auf.

Der Bundesrat sei daran erinnert, dass in vielen Ländern Banken auch einmal vorübergehend verstaatlicht wurden, bevor sie dann mit der notwendigen Geduld wieder in die Marktwirtschaft ausgewildert wurden.

Schlussbemerkung: Ich habe diesen Beitrag unter Zeitdruck, den Umständen entsprechend unvollständiger Information und im Schock über die Idee der UBCS-Fusion geschrieben. Für beruhigende Kritik bin ich äusserst dankbar.

Rationierung statt Ratio?

[Meine Kolumne in der NZZaS vom 19. Februar 2023, ohne die kleinen Kürzungen, die notwendig waren, um die 4600 Zeichen Limite einzuhalten.] 

Meine Mutter strich die Butter nicht, sie legte sie – zur Verwunderung von uns Kindern – in Zentimeter dicken Scheiben aufs Brot. Auch während zahlreicher Diätversuche zum Abnehmen und zur Senkung ihres zu hohen Cholesterolspiegels. 

Der Grund: Wie viele andere Lebensmittel, war Butter von 1939 bis 1948 auch in der Schweiz rationiert. Dies alleine hätte noch nicht gereicht, Mutters nie endendes Nachholbedürfnis zu erklären. Ihre eigene, früh verwitwete Mutter war gezwungen gewesen, die Buttermarken gegen andere notwendige Güter wie Schuhe für die noch kleinen Kinder einzutauschen. Obwohl meine Mutter den Sinn von Rationierungen im Krieg durchaus einsah, fürchtete sie sich ihr ganzes Leben vor weiteren solchen Einschränkungen. Ihr späterer Butterkonsum war ihre Waffe gegen diese Angst.

Und nun: Die Rationierungsidee ist zurück als eine der Strategien zur Bewältigung des Klimawandels. Etwas versteckt wie bei der Forderung, Flugreisen nur noch für Geschäftsreisen und Familienbesuche zuzulassen. Oder sogar als Leitidee in Ulrike Herrmanns „Ende des Kapitalismus“: eine Art Kriegswirtschaft mit Kern einer Rationierung von Gütern mit CO2-Hintergrund: Privatautos und Flugreisen (keine mehr), Nahrungsmittel wie Fleisch (ein paar Gramm pro Woche), Wohnraum, eigentlich fast alle Güter. 

Ganz gleich ist die Ausgangslage nicht: Ging es während der Kriege primär um eine einigermassen gerechte Zuteilung knapper lebensnotwendiger Güter, dienen die neuen Rationierungsideen dem erzwungenen Verzicht auf „schädliche“ Güter, deren Nachfrage momentan „zu hoch“ ist. Und das macht die Rationierungs-Strategie tückisch. Eine Rationierung und Ausschaltung des Preismechanismus ist das schlechteste Mittel, den Verbrauch fossiler Energien einzuschränken. 

Wer festlegt, in welcher Form der CO2-Ausstoss noch erfolgen darf, tut dies unter totaler Ausblendung der individuellen Präferenzen und der menschlichen Fähigkeit, sinnlose Restriktionen zu umgehen und durch Innovationen bessere Lösungen zu finden. Und vergisst dabei die Interdependenzen zwischen den Gütern und die internationalen Verflechtungen. Das Handy wird man den Menschen kaum wegnehmen. Doch was ist dann mit Netflix? 

Rationierung funktioniert prima mit den am letzten Tag einer Bergtour knapp gewordenen Lebensmitteln. Wer durch eine grössere Stadt flaniert, muss den Grössenwahnsinn einer umfassenden, der Umerziehung dienenden Rationierung sofort spüren. Selbst die geradezu einfach anmutenden Rationierungen im zweiten Weltkrieg mussten begleitet werden durch eine Vielzahl von Erlassen und ständiger Nachjustierung und Kontrollen.

Genau so wichtig: WER entscheidet, WIE die noch zugelassene Energie auf die Güter verteilt wird und zu welchem Preis diese an die Bevölkerung verteilt werden. Dies fängt schon bei den bescheidenen Formen der Rationierung an: Wer entscheidet nach welchen Kriterien, was ein genehmer, d.h. flugbegründender Familienbesuch ist? Und wer stellt sicher, dass keine zusätzlichen CO2-Schleudern (Rinder, Bitcoin-Farmen) aufgestellt werden?

Selbstverständlich spricht nichts gegen eine deutlich sparsamere Verwendung der Ressourcen – im Gegenteil: Doch der effizienteste, unbürokratischste und letztlich gerechteste Weg geht noch immer über den Preis. Zum Beispiel über eine – an die Bevölkerung zurückerstattete! – Lenkungsabgabe auf Energie in Abhängigkeit des CO2-Ausstosses. (Bitte jetzt keine Hinweise, dass die Schweiz zu klein sei, die Welt alleine zu retten; das stimmt selbstverständlich, gilt aber auch für die Rationierung.)

Die Anhängerinnen einer Rationierung scheiden diesem Mechanismus allerdings nicht zu trauen, er sei nicht wirksam. Damit argumentieren sie genau wie die Alkohol- und Tabaklobby im Widerstand gegen Lenkungsabgaben auf schädliche Substanzen. Und liegen genauso falsch. Wenn Lenkungsabgaben selbst bei Suchtmitteln funktionieren, gibt es keinen Grund anzunehmen, sie wirkten bei der Energie nicht. Wird beispielsweise der Flugpreis verdreifacht, bleibt der Flug sehr viel teuer als die Bahn, selbst wenn die ganzen Einnahmen an die Bevölkerung zurückerstattet werden. 

Es ist ohnehin naiv zu glauben, Rationierung, die Mutter der Korruption, würde den Markt ausschalten. In den Kriegswirtschaften gab es Sekundärmärkte, obwohl die Regierungen versuchten, diese durch sehr aufwändige Kontrollmechanismen zu verhindern. Und blühende Schwarzmärkte sind geradezu typische Ausprägungen aller Planwirtschaften mit festgelegten Mengen und Preisen. 

Das Problem dieser „Märkte“ ist, dass sie nicht mehr Angebot und Nachfrage widerspiegeln, sondern die Machtverhältnisse der Gesellschaft in unterschiedlichen Formen: Zugang zu den (klandestinen) Produzenten oder Händlern knapper Güter, die Nähe zu Beamten und zu Informationen. Wir können uns nur ausmalen, wie sehr diese Umgehungen spielen, wenn es nicht nur nicht nur um die Zuteilung knapper Güter geht wie in den Kriegen, sondern um eine obrigkeitliche Beschränkung durchaus vorhandener Güter. Darunter leiden würden diejenigen, die weder die Zeit noch das Wissen haben, in solchen Märkten mitzutun. Leiden, nicht nur unter dem künstlichen Mangel, sondern unter administrativer Demütigung.

Wie vor 80 Jahren meine Grossmutter: Mehr zugesetzt als die fehlende Butter hat meiner Mutter nämlich zeitlebens das Gefühl der Ohnmacht, Verwandten und Bekannten ausgeliefert gewesen zu sein, die die Notlage der vaterlosen Familie ausnutzten.

50 Jahre und kein bisschen weiter?

Am 23. Januar 1973, einem trübkalten Dienstag, um 08.30 Uhr fand in der Schweiz ein Staatsstreich statt – mehr oder weniger unfreiwillig, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, und nur als provisorisch gedacht. Putschistin contre coeur war die Schweizerische Nationalbank. Nach kurzer Rücksprache mit dem Bundesrat teilte sie den Banken mit, dass sie “heute darauf verzichtet, ihre Interventionen am Dollarmarkt aufzunehmen. Sie wird sich vom Markte fernhalten, bis eine Beruhigung eingetreten ist.” 

Die Nationalbank zog damit die Notbremse: Die Notenbankgeldmenge hatte allein am Vortag um fast vier Prozent zugenommen; dies bei einer Inflationsrate von bereits über sieben Prozent pro Jahr. Sie wollte deshalb den Kurs des amerikanischen Dollars vorläufig nicht weiter durch Dollarkäufe stützen, zumal Präsident Nixon schon 1971 den Dollar vom Gold abgekoppelt hatte.

Indem die SNB die Fessel der vom Bundesrat festgelegten Goldparität (und – indirekt – Dollarparität) sprengte, mutierte sie – salopp gesprochen – von einem passiven Währungskiosk zu einer mündigen Notenbank. Sie übernahm erstmals in ihrer Geschichte die Kontrolle über die von ihr geschaffene Geldmenge. 

Die anderen Europäischen Notenbanken folgten der Pionierin kurz darauf und lösten ihre eigenen Währungen vom Dollar. Dies bedeutete, wie im Artikel von Thomas Fuster in der gestrigen NZZ nachzulesen ist, das Ende der Währungsordnung von Bretton-Woods (an der die Schweiz offiziell nicht einmal beteiligt war).

Aus dem “vorläufig” wurde ein “dauernd”: So begann im Januar 1973 das Zeitalter der flexiblen Wechselkurse – der Verantwortung der Nationalbank für Inflation oder Deflation. Die Währungen der wichtigen Länder wurden zu FIAT-Money, zu Geld, das allein in der Hand der einzelnen Notenbank liegt.

Der Ausstieg aus der Dollar-Parität bedeutete auch das Ende der Finanzierung von Staatsdefiziten (konkret: der Kosten des Vietnamkriegs und der amerikanischen Sozialpolitik) durch die Notenbanken der Partnerländer. Den meisten Notenbanken gelang es in der Folge, ihre Politik am Ziel der Preisstabilität auszurichten und von den Finanzbedürfnissen des Staates zu lösen.

Doch knapp vierzig Jahre später stand das FIAT-Geld auf dem Prüfstand. In der Finanzkrise von 2007-08 und der darauffolgenden Eurokrise von 2011 mussten die FIAT-Währungen beweisen, dass sie die Wirtschaft vor einem Absturz in die Deflation bewahren können – anders als das “barbarische Relikt” des Goldes in den 1930er Jahren. Dies gelang eindrücklich, doch wie die Katze durch den offenen Türspalt, schlich sich eine alte Bekannte ein: Die Finanzierung von Staatsdefiziten durch die Notenbanken.

Im Juli 2012 versprach der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, alles zu tun, was es brauchen würde, um den Euro zu retten. Dazu musste er den Anstieg der Risikoprämien auf italienische und griechische Staatsanleihen auf unbezahlbare Höhen wieder rückgängig machen. Er übersetzte “FIAT money“ von “Es werde Geld” in “Es werde beliebig viel Geld”. Draghi löste damit die Ankerleine des Euro, genauso wie der amerikanische Präsident Nixon 1971 den goldenen Anker des Bretton-Woods-Systems versenkt hatte. 

Mit seinem “all in” hat Präsident Draghi seine riskante Wette fürs erste gewonnen: Der Euro überlebte vorerst ohne Austritte. Doch ob die EZB und die anderen Notenbanken aus dem Gravitationsfeld der Staatsschulden wieder auf einen konsequenten Kurs der Preisstabilität zurückfinden werden, scheint 50 Jahre nach 1973 – mit viel grösseren Staatsschulden und mit viel grösseren Geldmengen als damals – noch offen. Die damals errungene Autonomie muss erneut verdient werden.

Auch dieser Beitrag beruht auf dem “Das Einmaleins des Geldes” (hep-Verlag, Sommer 2023)

Kann die Nationalbank Pleite gehen?

Dieser Beitrag beruht auf dem
im Sommer 2023 erscheinenden
Buch das Autors

“Das Einmaleins des Geldes” (hep-Verlag)

Der Rekordverlust der SNB im Jahr 2022 hat die Frage aufgeworfen: Kann die Nationalbank Pleite gehen? Die Medien — z.B. Handelszeitung, Blick und NZZ — sind sich weitgehend einig: Nein. Doch die Sache ist komplizierter. Zunächst umschreibt “Pleite” mehrere unterschiedliche Tatbestände:

Das Pleiten-Vokabular

Illiquid ist, wer fällige Schulden nicht zahlen kann. 
Wenn Bill Gates in der SAC-Hütte übernachtet hat, und am Morgen merkt, dass er auf der Wanderung sein Portemonnaie verloren und in der Hütte keinen Handy-Empfang hat, ist er illiquid. Insolvent ist er aber keineswegs.

Insolvent ist, wer mehr Schulden hat als Vermögen.
Wenn ein Student bei der Grossmutter 100‘000 Franken borgt und mit der Hälfte eine Party schmeisst, ist er insolvent, aber mit 50‘000 Franken in der Tasche (einstweilen) noch liquid.

Konkurs (von concursus creditorum, dem Zusammenlaufen der Gläubiger) ist ein gerichtliches Verfahren, in welchem die Ansprüche der Gläubiger festgestellt (Kollokation) und die Verwendung der verbliebenen Vermögensteile (Konkursmasse) geregelt werden. Die Bank Lehman Brothers fiel 2007 in Konkurs, nachdem die Zeitlimite für eine Rettung verstrichen war. Für die Schuldnerin ist der Konkurs eigentlich eine Wohltat: Die Gäubiger erhalten den vorhandenen Rest des Vermögens; die Schuldnerin wird die Schulden los. Dies spiegelt sich in der Herkunft des Begriffs “Pleite” aus Hebräisch und später Jiddisch: “Rest, Überbleibsel; Entrinnen, Rettung, Flucht (vor den Gläubigern)”.

Bankrott ist wie Pleite ein umgangssprachlicher Begriff, der sowohl Illiquidität, Überschuldung oder Konkurs meinen kann. In Deutschland beinhaltet Bakrott auch ein Element der Strafbarkeit.

Die Begriffe Illiquidität, Insolvenz und Konkurs hängen zusammen: Illiquid heisst: Ich kann jetzt nicht zahlen. Insolvent heisst: Ich werde nach aller Voraussicht früher oder später nicht mehr zahlen können. Gelingt es nicht, Illiquidität oder Insolvenz zu beheben, z.B. durch eine Sanierung (Einschuss frischen Kapitals oder Verzicht von Gläubigern), folgt in der Regel ein Konkursverfahren.

Anwendung auf die SNB

Klar ist: Die Nationalbank kann nicht illiquid werden. Sie kann nämlich Geld drucken.

Wer für 50 Rappen pro Stück Tausendernoten drucken kann, sollte auch nicht insolvent werden. Doch der Eindruck täuscht. Die Nationalbank verbucht nämlich die ausgegebenen Banknoten als Schulden. Dies kommt aus der Zeit, da die Banknoten noch in Gold konvertibel waren. Die Nationalbank kann also buchhalterisch gesehen wie jede andere Aktiengesellschaft insolvent werden. Wenn sie mehr Schulden hat als Vermögen, ist sie überschuldet. Wenn sich der Jahresverlust von 2022 noch ein oder zweimal wiederholen sollte, wäre dies der Fall. 

Tatsächlich hatte die Nationalbank in den 1970er Jahren mehrmals, wie sie es nannte, ein “negatives Eigenkapital”. Grund war die damals starke Aufwertung des Frankens gegenüber dem amerikanischen Dollar. Der Bund “rettete” die Nationalbank, indem er (mit Billigung des Parlaments) eine unverzinsliche Schuld gegenüber der SNB einging. Die SNB tilgte diese später aus ihren Gewinnen (zum Teil durch Auflösung der massiven stille Reserven auf dem Goldbestand hatte, den die SNB damals zur offiziellen Parität, d.h. weit unter dem Marktwert bilanzieren musste).

Heute kann die SNB eine Überschuldung auf ähnliche Weise zum Verschwinden bringen: Sie kann den Posten “Reserve für die Gewinnausschüttungen an Bund und Kantone” als negativ ausweisen. Diese Ausschüttungsreserve war tatsächlich schon Ende 2010 und 2013 negativ. Anstatt wie in den 1970er Jahren ein Guthaben beim Bund, weist die SNB also eine negative Schuld bei Bund und Kantonen aus – da minus mal minus plus ergibt, kommt’s auf dasselbe raus: Die Buchhaltung zeigt nie direkt eine Überschuldung an – solange der Bund und allenfalls die Kantone mitspielen und der Nationalbank – als systemrelevanter Institution 😉 – Kredit einräumen.

Ein Konkurs der Nationalbank ist auch bei tiefer Überschuldung kaum möglich. Bei einer normalen Aktiengesellschaft kommt bei Überschuldung ein vom Gesetz definierter Prozess in Gang, der entweder zu einer Sanierung mit neuem Kapital oder Gläubigerverzicht führt oder in eine Konkursliquidation mündet. Bei der Nationalbank ist jedoch kein solcher Prozess vorgesehen. Den Feinschmeckern unter den Juristen sei der Fall überlassen, in dem der Bankrat und/oder die Generalversammlung (d.h. de facto die Kantone) die Jahresrechnung der SNB wegen einer negativen Ausschüttungsreserve in der Jahresrechnung ablehnen würde.

Geldpolitik mit negativem Eigenkapital

Eine Notenbank kann mit negativem Eigenkapital leben. Die tschechische Notenbank beispielsweise war nach 2002 jahrelang buchhalterisch überschuldet. Die australische Notenbank verlor ihr Kapital im Herbst 2022. Notenbanken erholen sich früher oder später, da die Erträge auf ihrem Vermögen langfristig höher sind als die Zinsen auf ihren Schulden. 

Doch ein Problem hat eine überschuldete Notenbank: Eine überschuldete Notenbank verliert Handlungsspielraum. Sie kann einen Teil der geschaffenen Geldmenge nicht mehr abbauen. Sie kann nur so viel Geld zurückkaufen, wie sie auf der Gegenseite Vermögen hat. Der Bestand an Notenbankgeld bekommt eine abbaubare (durch Vermögenswerte gedeckte) und eine nicht-abbaubare (ungedeckte) Komponente. Nicht-abbaubares Geld behindert die Geldpolitik und kann das öffentliche Vertrauen in die Währung gefährden. In der Wirkung ist nicht-abbaubares Geld gleich wie Helikoptergeld, das – einmal abgeworfen – nicht mehr eingesammelt werden kann. Zwar kann eine Notenbank Schuldverschreibungen ausgeben, die nicht als Geld zählen, aber diese haben ein Verfalldatum und schieben das Problem nur auf. Zudem müssen sie von der Notenbank verzinst werden; dadurch bleibt weniger Geld zum Wiederaufbau des Kapitals oder zur Ausschüttung.

Die SNB kann also nicht “Pleite” gehen im Sinne von Illiquidität oder Konkursliquidation. Aber sie kann durch eine Überschuldung ihre geldpolitische Handlungsfähigkeit einbüssen und das Vertrauen in die Währung schädigen. Ein solches Szenario ist vielleicht nicht das wahrscheinlichste. Aber mit einer weit über das längerfristig Vernünftige aufgeblähten Bilanz sind solche Überlegungen auch nicht ganz überflüssig.

Unternehmensteuern: Der zweite Blick lohnt sich

Etwas ausführlichere Version meines Artikels Einnahmen aus Unternehmenssteuern steigen (nzz.ch) vom 27. November in der NZZ am Sonntag mit Links zu den Forschungspapieren.

Unternehmen geniessen in den Medien gegenwärtig wenig Sympathie, ganz besonders die grossen Multinationalen. Übergewinne, vernachlässigte Lieferketten, Steuervermeidung. Gerade die Steuern: Den Staaten fehlt es an Geld, und gleichzeitig sinken die Unternehmenssteuersätze. Kein Wunder, so scheint es zumindest, steigt die Staatsverschuldung überall an.

Doch, was sagt die Statistik. Die OECD lässt in ihrem kürzlich erschienenen Report «Corporate Tax Statistics» Corporate Tax Statistics: Fourth Edition – OECD die Zahlen zu den Unternehmenssteuern sozusagen für sich selbst sprechen. Diese sind in der Tat eindrücklich: Seit 2000 sind die Steuersätze im Durchschnitt um rund acht Prozentpunkte gesunken – in allen Regionen der Welt. Die effektiven Steuersätze sind oft noch tiefer, weil es insbesondere für Aufwendungen in Forschung und Entwicklung Steuererleichterungen gibt.

Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Der gleiche OECD-Report zeigt auch das, was letztlich zählt und zahlt: die Einnahmen aus der Unternehmenssteuern. Und diese sind im gleichen Zeitraum trotz der geringeren Steuersätze nicht gesunken, sondern deutlich gestiegen: von 12.6% auf 15% als Anteil and den gesamten Steuereinnahmen, von 2.6% auf 3.1% als Anteil am BIP, in allen Regionen der Welt mit Ausnahme der USA. In der Schweiz stiegen die Einnahmen des Bundes aus der Unternehmenssteuer seit 2000 um einen Viertel von 2.4% auf 3.1% des BIP.

Der Blick auf die Steuersätze im OECD Bericht ist nicht zufällig. Steuersätze sind einfach messbar und durch die Politik direkt beeinflussbar, und sie stehen auch im Fokus der OECD-Initiativen mit dem Ziel, die Gewinnverschiebungen zwischen den Ländern zu reduzieren. Ein anderes Bild vermitteln, wie erwähnt, die Steuereinnahmen. Im Vergleich zeigt sich auch, dass Zahlen nicht einfach für sich selbst sprechen. Die OECD zeigt die Entwicklung der Steuereinkommen brav in einer Grafik, deren vertikale Achse bei 0 belässt. Die Zunahme der Steuer-Einkommen wirkt daher bescheiden. In der Grafik der Steuersätze schneidet sie den Teil unter 15% ab und macht dadurch den Tubelihang zur Lauberhornabfahrt. Der Trick ist alt und aus Werbung und politischer Propaganda wohlbekannt.

Ob eine Absicht dahintersteckt, sei dahingestellt. Dass der Eindruck der fiskalischen Auszehrung zur Agenda der OECD passt, mag Zufall sein.  Immerhin stellt die OECD die Datenbasis und Hintergrundberichte öffentlich zugänglich zur Verfügung. Sie liefert damit eine sehr willkommene Grundlage für weitere Analysen. 

Nur muss man diese auch ansehen. Ein Blick auf die Forschung zeigt, dass es eben meist komplizierter ist, als der erste Blick suggeriert.

Zuerst ist nicht einmal klar, wer letztlich die Unternehmenssteuer zahlt (die Ökonominnen sprechen von Steuerinzidenz). Es ist eben nicht die Unernehmung als abstraktes Gebilde: Am Schluss zahlen immer Menschen. Aber nur die reichen Kapitaleigner! könnte man einwerfen. Stimmt auch nicht ganz. Wie eine sehr sorgfältig gemachte Studie aus Deutschland Do Higher Corporate Taxes Reduce Wages? Micro Evidence from Germany – American Economic Association (aeaweb.org) zeigt, tragen bei einer Erhöhung des Steuersatzes die Arbeitnehmenden indirekt über tiefere Löhne bis zur Hälfte der Steuerlast. Unter höheren Steuern leiden Geringqualifizierte, Junge und Frauen.

Im Gegenzug führen tiefere Steuersätze nicht einfach zu höheren Steuereinnahmen, wie man aus den OECD-Daten zu den Steuersätzen trug-schliessen könnte. Das musste zum Beispiel der Kanton Luzerns erfahren. Die Halbierung des Steuersatzes finanzierte sich nicht – wie erhofft – selber. The Corporate Elasticity of Taxable Income: Event Study Evidence from Switzerland (econstor.eu) Denn die Steuereinnahmen hängen nicht nur von der Wirtschaftslage ab, sondern auch von der Wettbewerbssituation und der Wirksamkeit von Massnahmen gegen Steuerhinterziehung oder Profit-Shifting. 

Genau um letzteres, der Verschiebung von Gewinnen über interne Verrechnungspreise geht es bei den politischen Vorstössen der OECD. Und das ist ziemlich kompliziert, wie eine Gruppe von ForscherInnen The Race Between Tax Enforcement and Tax Planning: Evidence From a Natural Experiment in Chile | NBER (unter ihnen die Zürcher Professorin Dina Pomeranz und der dezidiert linke Berkeley Professor Gabriel Zucman) am Beispiel Chile zeigte. 

Eine Gesetzesreform verschärfte dort die Informationspflichten der multinationalen Unternehmen über deren internationale Überweisungen Gleichzeitig erhielt die Steuerbehörde mehr Mittel zur Durchsetzung der Verrechnungspreisregeln. Die Reform machte Chile zu einem Musterknaben bei der Umsetzung der OECD-Verrechnungspreisstandards.

Doch die Analyse der qualitativ hochwertigen administrativen Daten zu Unternehmens-Steuern und -Zöllen zeigte ein ernüchterndes Resultat: Die verschärften Regeln erreichten nichts; die Einnahmen aus der Unternehmenssteuer blieben unverändert, ebenso die Preise der Waren; es gab keine Unterschiede zwischen von der Reform betroffenen und nicht betroffenen Firmen. Nur eine Branche profitierte massiv: Die Reform führte zu einem Boom bei der Beschäftigung von Verrechnungspreisexperten in Chile. Ein klassisches Beispiel unbeabsichtigter Folgen einer wirtschaftspolitischen Massnahme.

Solche Studien mit guten Daten sind wichtig für die politische Diskussion. Denn letztlich geht es darum, welche Art der Besteuerung von Unternehmen und Individuen der Gesellschaft am meisten bringt. Das ist nicht nur eine Frage der politischen Einstellung, sondern auch der Qualität der Entscheidungsgrundlagen. Die Politik tut gut daran, empirisch belastbare Grundlagen zu künftigen Vorlagen zu schaffen. Denn, wie das Beispiel der gescheiterten Verrechnungssteuer-Reform zeigt, sind die Stimmbürgerinnen nicht nur kritischer gegenüber Unternehmen geworden, sondern auch gegenüber schlecht dokumentierten Vorlagen. Wirtschaftselixier Verrechnungssteuerreform? | Batz

Bedingungsloses Grundeinkommen nach Räuberart

Dieser Post gehört meinem Sohn Peter (20). Er sah gestern im Zürcher Hauptbahnhof dieses Reklame-Bild und kam aufgebracht nach Hause: „Papa, schau Dir diesen Schwindel an: Robin Hood hat gerade kein bedingungsloses Einkommen geschaffen. Er beraubte die Reichen und gab das Geld den Armen. Das ist doch das genaue Gegenteil von bedingungslos.“

Recht hat er. Drum habe ich mich als bedingungslosen Grundautor zur Verfügung gestellt, um seinem Entsetzen eine öffentliche Stimme zu geben. Den Namen des Verlags haben wir ausgeblendet. Wir hoffen bloss, dass in der Öffentlichkeit nicht zu viele auf die Romantisierung des Grundeinkommens mit dem edlen Räuber hereinfallen. Übrigens, ergänzt Peter: Die moderne Version von Robin Hood heisst, wenn schon, Negative Einkommenssteuer. Auf die Post des real existierenden Robin Hood freut sich Peter schon jetzt: nur zu bald ist wieder Steuererklärung.