Heimatschutz an Universitäten?

Monika Bütler

Mit etwas Verspätung meine Kolumne in der NZZ am Sonntag vom 24. März 2013. (Dafür bereits mit konstruktiven Reaktionen, u.a.: „Dass Sie einen solchen Dreck in einer Zeitung abdrucken lassen ist ein Skandal.“)

 „Nur deutsche Bewerber für Lehrstuhl an Schweizer Uni eingeladen!“ Dieser Aufschrei geht in regelmässigen Abständen durch die Medien. Es scheint offenkundig: Schweizer werden benachteiligt.

Meine eigene, langjährige Erfahrung mit Berufungen deckt sich nicht mit dem Klagelied; es wird wohl eher zugunsten der Schweizer entschieden. Nur gibt es dazu wenig Gelegenheit. Unbestreitbare Tatsache ist: Um akademische Positionen bewerben sich kaum Schweizer(innen).

Es fehlen eben – so argumentieren die Differenzierteren – einheimische Kandidaten, weil der Nachwuchs vernachlässigt werde. Doch halt: Geben nicht Hochschulen und Nationalfonds jedes Jahr riesige Summen für die Nachwuchsförderung aus? Auch wenn die Treffsicherheit bei der Vergabe manchmal zu wünschen übrig lässt: So unattraktiv können diese Programme nicht sein. An Bewerbern – Schweizern und Ausländern – fehlt es in der Regel nicht. Weiterlesen

Familienartikel: Umbau der antiquierten Schulstruktur!

Monika Bütler

Publiziert in der NZZaS vom 24. Februar unter dem Titel „Die Schulstruktur muss in jedem Fall umgebaut werden. Es braucht bessere Möglichkeiten, um Beruf und Familie zu verbinden.“

Beruf und Familie sind noch immer noch schwer zu verbinden. Die externe Kinderbetreuung ist überreguliert und sündhaft teuer; verbilligte Plätze sind rar und werden intransparent zugeteilt. Wer beim Eintritt der Kinder in den Kindergarten denkt, das Gröbste hinter sich zu haben, erwacht böse. Als wohl einziges Land der westlichen Welt kennt die Schweiz kaum Tagesschulen, die den Namen verdienen. Das Angebot besteht vielmehr aus einem grotesk zersplitterten Mix aus Schule, Hort und Mittagstisch. Unsere gestylten Schulhäuser sind zu schade, um als Verpflegungs- oder Betreuungsstätten entweiht zu werden. Dazu kommen krasse Ungerechtigkeiten: Die Urnerin, die zur Aufbesserung des kargen Bergbauernbudgets extern arbeitet, bezahlt den vollen Krippentarif (112 Franken pro Kind und Tag), die sich selbst verwirklichende, nicht arbeitstätige Zürcher Akademikerin nur einen Bruchteil.

Zeit, dass endlich etwas geschieht. Doch was?

Drehbuch A: Die Schweiz krempelt ihr Schulsystem um und geht über zu einem flächendeckenden Angebot an Tagesschulen für Kinder ab circa 4 Jahren. Blockzeiten, beispielsweise von 9–15 Uhr inklusive kurzer Mittagszeit; eine betreute (freiwillige) Aufgabenstunde am Nachmittag; je nach Schulstufe ein bis zwei freie Nachmittage um den Eltern Wahlmöglichkeiten zu bieten. Abgerundet durch eine kostenpflichtige Randstundenbetreuung (im Schulhaus!) wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu geringen Kosten stark verbessert. Damit auch Mütter mit tiefen Löhnen ihre Berufsfähigkeit erhalten können, wird das Steuersystem angepasst und durch Betreuungsgutscheine (wie in Luzern) ergänzt. Alle Vorschläge sind übrigens in der Praxis erprobt und für gut befunden.

Drehbuch B: Sogenannte Bedarfsanalysen decken Lücken bei Hort und Krippe im bestehenden System auf. Je höher der ausgewiesene Bedarf, desto mehr sorgen staatliche Ämter für angemessene Qualität: vier Quadratmeter pro Kind im Hort und am Mittagstisch – ausserhalb des Schulareals, nota bene; frisch gekochtes Essen zur Überbrückung der viel zu langen Mittagszeit; Rücksicht auf die Heterogenität der Schüler (vegetarisch, schweinefrei, laktosefrei, ponyfrei), Betreuungspersonal mit akademischem Abschluss. Selbstverständlich ist dieser Bedarf mit normalen Löhnen nicht zu finanzieren. Hinzu kommen daher einkommensabhängige Subventionen, welche dann wiederum eine mehr als symbolische Berufstätigkeit für viele Mütter zum unerschwinglichen Luxus machen.

Die hohen Kosten rufen die andere Seite auf den Plan: Mit einem gewissen Recht fordern diejenigen, die ihre Kinder selber betreuen oder sich mit Grosseltern und Kinderfrau helfen, ebenfalls Unterstützung. Schliesslich ist nicht einzusehen, weshalb die Grossmutter mit der knappen Rente nicht auch entlohnt werden soll. Am Schluss bezahlen alle sehr viel höhere Steuern, die sie teilweise in Form von Subventionen und Herd- und Hüteprämien wieder zurückerhalten. Nur: Je mehr eine Mutter arbeitet, desto schlechter der Deal.

Die Leser(-innen) die hier eine Abstimmungsempfehlung für den Familienartikel erwarten muss ich enttäuschen: Es handelt sich hier um eine vorgezogene Abstimmungsanalyse. Nicht jedes NEIN wird von hinterwäldlerischen Ewiggestrigen oder egoistischen Singles stammen. Viele Gegner fürchten, dass ein überholtes Schulsystem künstlich am Leben erhalten wird, wenn der „Bedarf“ an Betreuungsplätzen innerhalb eines nicht mehr zeitgemässen Systems gemessen wird. Umgekehrt wird nicht jedes JA von subventions-maximierenden Etatisten kommen. Viele Befürworter erhoffen sich, dass das Schulsystem endlich keine Eltern mehr daran hindert, ihre beruflichen Fähigkeiten nach eigenem Gutdünken einzusetzen.

Wie die Abstimmung auch ausgehen mag: Es ist Zeit, dass etwas geschieht. Dazu braucht es das richtige Drehbuch. Gefragt sind Ideen und Mut zur Veränderung, nicht Geld.

 

Eierkochinspektoren gesucht

Monika Bütler

Fast hätte ich vergessen, meine NZZaS Kolumne zu verlinken. Geweckt hat mich die Frontseite der „Konkurrenz“ mit ihrem Bericht zur grünen Initiative des Bundes. Mit einem 27 Punkte Plan sollen die Bürger(innen) auf den ökologisch korrekten Weg gebracht werden: Fast ausschliesslich durch Kontrollen, Verbote, Belehrungen, verordnete Dialoge. So weit ist die Bürokratie der EU auch wieder nicht…

Ich habe selbstverständlich nichts gegen eine sparsamere Verwendung der Ressourcen – im Gegenteil: Doch der effizienteste, unbrükratischste und letztlich gerechteste Weg geht noch immer über den Preis.

Hier also meine Kolumne in der NZZaS von heute (27. Januar 2013), veröffentlicht unter dem Titel „Ökostrom-Inspektoren, die prüfen, ob man richtig heizt, sind ein Graus“:

Die Meldung war unscheinbar: Linke Parteien denken über Belegungsvorschriften für subventionierte Wohnungen nach. Damit soll der Bedarf an Wohnfläche wieder reduziert und den «Horrormieten» – sie sind real in 12 Jahren um 10 Prozent gestiegen – zu Leibe gerückt werden.

Das ist natürlich Planwirtschaft. Dennoch: Die Forderung lässt zwei ökonomische Einsichten erkennen. Erstens, es gibt keinen eindeutigen Bedarf an Gütern wie Wohnungen und anderen. Der «Bedarf» wird durch den Preis und andere Faktoren mitbestimmt. So steigt trotz angeblich überteuerter Mieten die durchschnittliche Anzahl Quadratmeter pro Person stetig an, der «Bedarf» an Wohnraum ist vor allem in bestimmten Lagen hoch: Für die ruhige und günstige, aber eher kleine Familienwohnung meiner Schwiegermutter, 20 Zugs- plus 10 Fussminuten vom Zürcher Hauptbahnhof entfernt, war das Interesse gering. Zweite Einsicht: Eine Regulierung der Preise alleine genügt nicht: Damit alle Berechtigten profitieren können, braucht es gleichzeitig eine Rationierung der Mengen.

Für einmal haben linke Politiker einen Markteingriff wenigstens zu Ende gedacht. Das machen selbst bürgerliche Politiker immer seltener. Beispiel: Der Bund will den Energiebedarf senken. Leider nicht mehr so charmant wie damals Adolf Ogi mit seinen legendären Eierkoch-Tipps. Diesmal will der Staat Inspektoren losschicken, die nachprüfen, ob wir richtig heizen. Der Bedarf an Luxusenergie für Sauna und Schaufensterbeleuchtung soll zudem mit Ökostrom gedeckt werden. Staatliche Subventionen für die Ökoenergie reichen offenbar nicht; zusätzlich muss die Nachfrage gestützt werden.

Offenbar weiss der Staat erstens wie und zweitens wofür Energie gespart werden soll. Doch wen geht es etwas an, ob ich meine Texte in der Daunenjacke in Villa Durchzug schreibe oder – bei gleichem Energieverbrauch – im Pyjama im Minergiehaus? Und wo liegt der gesellschaftliche Gewinn, wenn Sauna und Heizpilz mit Ökostrom betrieben werden, Computer und Fritteuse aber nicht? Damit wird keine einzige Kilowattstunde Strom weniger verbraucht. Die Zuordnung von zulässigen Energiequellen zu einzelnen Geräten führt zu einer absurden Erlass- und Kontrollbürokratie. Wer soll nachschauen, welchen Strom die Sauna gerade frisst?

Noch mehr graut mir vor der staatlichen Unterscheidung zwischen «gutem» und «schlechtem» Zweck des Energieverbrauchs. Sauna: schlecht (obwohl gesund); Fritteuse: gut (obwohl nicht so gesund). Kneipe: schlecht (obwohl beliebt); Kirche: gut (ohnehin nie geheizt). Die Linie führt direkt zur staatlichen Papierzuteilung an die «guten» Zeitungen.

Was spricht gegen die unbürokratische und unbestechliche Zuteilung von Energie (oder CO2-Ausstoss) über den Preis? Ist der Energiepreis hoch genug, werden Schaufenster automatisch weniger beleuchtet. Und ich kann ohne staatlichen Besserwisser entscheiden, ob ich dem Haus oder mir selber den Pulli überziehen will.

Keine seriöse Ökonomin denkt, dass es der Markt immer richten kann und soll. Es gibt Güter, deren Zuteilung über den (Markt-)Preis nicht zur gewünschten Verteilung führt. Beispiele sind lebensnotwendige Güter wie Lebensmittel zu Krisenzeiten, die medizinische Grundbetreuung, ein Dach über dem Kopf. Wie viel Dach pro wie viel Kopf es sein soll, ist schon nicht mehr so klar. Verzichten wir auf Preise als Mittel der Zuteilung, verlassen wir uns auf einen Zeigefinger im Hintergrund, der entscheidet, wem was zusteht.

Bei den meisten Gütern ist der Preis der bessere Wegweiser als der behördliche Zeigefinger. Und zwar selbst dort, wo wir dem Markt nicht trauen. Vielleicht wollen wir ja den Energiekonsum einschränken, weil er Kosten für die künftigen Generationen verursacht. Dann aber über den Preis als Steuerungsgrösse, nicht über ein von Inspektoren überwachtes Ökostrom–Obligatorium für Eierkocher.

Höhere Steuern? Höhere Steuern!

Monika Bütler

Aus aktuellem Anlass (gravierende Budgetprobleme in denjenigen Kantonen, welche ihre Steuern massiv gesenkt hatten) hier eine alte Kolumne in der NZZ am Sonntag (11. September 2011).

Die Lage der öffentlichen Finanzen in der Schweiz ist schlechter, als es scheint

Verkehrte Welt! In verschiedenen Ländern fordern reiche Bürger höhere Steuern. Die Regierungen? Wollen nicht. Dabei täten sie gut daran, die Argumente für etwas mehr Steuern auf sehr hohen Einkommen und Vermögen zu prüfen. Auch in der Schweiz.

Noch vor wenigen Jahren galten Steuersenkungen als Gratisaktion: Dank mehr Investitionen und höherer Produktivität würden sich die Steuersenkungen selbst finanzieren. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Neben Gewinnen für die Bessergestellten blieben Defizite der öffentlichen Hand. Eigentlich müssten heute mindestens ein Teil der Steuersenkungen rückgängig gemacht werden. Doch fast alle (Politiker) scheuen nur schon die Diskussion darüber. Dabei steht es um die öffentlichen Finanzen schlechter, als es scheint. In den offiziellen Zahlen sind die impliziten Schulden aufgrund der alternden Bevölkerung noch gar nicht eingerechnet.

Einem wohl länger anhaltenden Rückgang der Steuereinnahmen zum Trotz: Lieber werden der Polizei und den Spitälern die dringend notwendigen Stellen vorenthalten und die Infrastruktur vernachlässigt als Steuern angehoben. Doch solche Sparübungen bringen gesamtwirtschaftlich wenig. Aber sie treffen die weniger Verdienenden und gefährden den Zusammenhalt der Bevölkerung, letztlich die Grundlage einer erfolgreichen Wirtschaft. Es erstaunt nicht, dass die Halbierung der Vermögenssteuern im Kanton Zürich wuchtig verworfen wurde.

Auch viele Reichen haben erkannt, worin der Erfolg westlicher Volkswirtschaften besteht. Ungleichheiten werden akzeptiert, solange die Glücklicheren ihren Teil am Gemeinwohl leisten. Eigentum verpflichtet, heisst es sogar explizit im deutschen Grundgesetz. Ganz besonders stark ist der stillschweigende Gesellschaftsvertrag in den USA. Das erklärt einen Teil der Ungeduld, mit der die USA von der Schweiz einfordern, was Steuerflüchtige der amerikanischen Gesellschaft finanziell und ideell entzogen haben.

Die Angst der Politiker und vieler Bürger selbst vor einer geringfügig stärkeren Besteuerung sehr hoher Einkommen und Vermögen ist dennoch verständlich. Denn die Linke fordert Steuererhöhungen, nicht um Schulden und Defizite abzubauen, sondern um Mehrausgaben zu finanzieren, von frühzeitiger Pensionierung bis zu Subventionen für alles und (fast) jeden. Wer gegen solche Ausgaben ist, kämpft logischerweise gegen Steuererhöhungen.

Dass sich die Kantone scheuen, Steuern für sehr hohe Einkommen anzuheben, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Mit dem neuen Finanzausgleich (NFA) wurde einem gut funktionierenden Steuerwettbewerb zwar eine solide Grundlage verpasst. Dennoch ist es für die Kantone noch immer „günstiger“, sehr Reiche anzuziehen als den wirtschaftlich oft viel stärker engagierten Mittelstand und das Unternehmertum. Selbst wenn die Diskussion in erster Linie auf Bundesebene stattfinden muss: Auch die Kantone werden nicht darum herum kommen, ihre Einnahmen den geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen, wenn sie nicht mit einem Schuldenberg enden wollen.

Mindestens eines hat die Schweiz anderen Ländern voraus. Die Diskussion über eine Ausgestaltung des Steuersystems ist noch nicht polarisiert. Wir haben keine Tea- oder Kafi-Lutz-Party. Dafür einen funktionierenden und effizienten Staat, in welchem sich der Grossteil der Bevölkerung — arm und reich — noch dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt. Für die sehr Reichen könnten sich etwas höhere Steuern – solange das Geld nicht gleich wieder ausgegeben wird – sogar lohnen. Auf die Dauer sind gesunde Staatsfinanzen der beste Schutz vor Vermögens- und Einkommensverlusten.

Gelingen müsste deshalb ein „historischer Kompromiss“: etwas höhere Steuern für die obersten Einkommen und Vermögen, aber ohne zusätzliche Ausgaben. Steuerwillige Reiche und haushälterische Linke vereinigt Euch!

 

Sind Professor(inn)en Mimosen?

Monika Bütler

Kolumne in der NZZ am Sonntag, 4. November (veröffentlicht unter dem Titel: Professoren wollen nicht mehr an die Öffentlichkeit; Angst vor Anfeindungen, Forschungsdruck – Rückzug in den Elfenbeinturm ist schlecht)

 Warum machst Du das bloss?», fragten mich zwei Kolleginnen kürzlich anlässlich einer Konferenz. Dabei mache ich gar nichts Unanständiges. Ich hatte nur erzählt, dass wir – eine Gruppe von Volkswirtschaftsprofessoren an den Universitäten Zürich, Lausanne und St. Gallen – einen Blog betreiben; ein Online-Forum zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen, das ab und zu auch für Aufregung sorgt. Etwa wenn der Chef einer Grossbank selber einen Kommentar auf dem Blog hinterlässt. Oder wenn Beiträge von der Presse aufgenommen werden – freundlich oder weniger freundlich.

Die mögliche Aufregung fanden meine Kolleginnen fast schon bedrohlich. Zwar sind beide keine stereotypen Modellschreinerinnen im Elfenbeinturm, sondern international beachtete Forscherinnen mit relevanten Themen. Zum Beispiel: Wie reagieren Individuen auf aktive Arbeitsmarktmassnahmen? Führt eine Erhöhung des Rentenalters zu mehr Arbeitslosigkeit? Wie unterscheidet sich die Sozialhilfeabhängigkeit zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen? Themen, die auch die Allgemeinheit interessieren. Gleichwohl ist ihnen Öffentlichkeitsarbeit nicht geheuer.

Warum die Zurückhaltung? Zum einen frisst Öffentlichkeitsarbeit der Forschung wertvolle Zeit weg. Sie kostet sogenannten Impact, das heisst Zitate in vielzitierten Publikationen – die Einheitswährung im Forschungsbetrieb. Da ist privates Schreiben und öffentliches Schweigen Gold. Allgemein verständliche Aufsätze zu schreiben oder mit den Medien zu reden, ist bestenfalls Blei. Dieses zieht nach unten: Jede Minute verlorene Forschungszeit rächt sich: weniger Forschungsgelder, tieferes Ansehen, noch weniger Forschungszeit, usw. Attraktiv bleibt die Öffentlichkeitsarbeit für jene, die in der Forschung nichts zu verlieren haben – nicht immer die besten Ratgeber des Volkes.

Die öffentliche Sprechhemmung vieler Kollegen liegt, zum andern, auch an der Angst vor Anfeindungen und Angriffen. Besonders ausgeprägt ist dies in Disziplinen, in denen sich wissenschaftliche Inhalte nicht so leicht von politischer Meinung unterscheiden lassen. In den Sozialwissenschaften riecht – anders als in den meisten Naturwissenschaften – ein Forschungsergebnis oft gleich nach Politik. Jede(r) ist Experte für das Rentenalter oder die Sozialhilfeabhängigkeit. So löst schon das Wort «Anreiz» gereizte Reaktionen aus. Immer.

Sind Forscher Mimosen? Zur Wissenschafts- und Meinungsäusserungsfreiheit gehört nämlich auch die Bereitschaft, Kritik – selbst unfaire – zu ertragen. Obschon noch immer davon überzeugt, kamen mir in den letzten Monaten Zweifel. Medienschelte ist das eine; sie zeigt immerhin, dass man gelesen wird. Was aber, wenn Forscher für ihre Aussagen nicht bloss kritisiert, sondern auch rechtlich zur Verantwortung gezogen werden? So wie kürzlich die Seismologen in Italien. Oder wenn unter tatkräftiger Mithilfe aus den Universitäten vertrauliche Interna in den Medien breit getreten werden. Nicht aufzufallen, ist immer noch der beste Schutz.

Traurige Ironie: Dank einer grösseren Forschungsorientierung sind die Schweizer Universitäten in den letzten Jahren qualitativ viel besser geworden; gleichzeitig verbreiteten sich die Gräben zwischen Akademie und Öffentlichkeit. Ausgerechnet in einer Zeit, in der wir am meisten von der Forschung lernen könnten, schweigen viele Wissenschafter. Und jeder Angriff ist – je nach Standpunkt – guter Grund oder billiger Vorwand für ein weiteres Stockwerk im Elfenbeinturm.

Es liegt an allen Seiten, den Dialog lebendig zu erhalten und Gräben zu überbrücken. Professoren sollten ihr Wissen der Öffentlichkeit zugänglich machen können, bevor diese fragt: «Was machen die bloss?» Die Professoren, die sich die Mühe machen, mit der interessierten Öffentlichkeit zu reden, sollten sich anderseits nicht ständig fragen müssen: «Warum mache ich dies bloss?»

Das unsägliche Drehen an der Geschlechterschraube

Monika Bütler

Publiziert in der NZZ am Sonntag, 9. September 2012 (unter dem Titel: „Mädchen und Knaben sind mit der gleichen Elle zu messen“)

„Warum muss Blake gleich weit rennen wie Bolt; er ist doch kleiner?“, fragte unser Jüngster nach dem Olympia-Sprint. Als Erfinder der individualisierten Leistungsmessung darf er sich dennoch nicht fühlen. Der Kanton Waadt war ihm schon zuvorgekommen: Lange Zeit galten im Kanton von Liberté et Patrie (statt Egalité) für Mädchen strengere Eintrittsbedingungen in die Sekundarschule als für Knaben. Sonst hätten zu viele Mädchen bestanden. Erst 1982 stoppte das Bundesgericht auf Klagen der Eltern (und beflügelt durch den neu eingeführten Gleichstellungsartikel) diesen Unsinn.

Nun greift die Universität Wien in die Mottenkiste und wendet das umgekehrte Verfahren an. Weil in den letzten Jahren ein höherer Prozentsatz der Männer die Hürde des Eignungstests für das Medizinstudium meisterte, genügte den weiblichen Bewerbern heuer eine tiefere Punktezahl. Die Frauen seien offensichtlich durch den Test benachteiligt, gaben angewandte Psychometriker zu bedenken.

„Gleichberechtigung auf österreichisch“ spottete die Financial Times Deutschland. Doch Häme allein ist fehl am Platz. Auch in andern Fächern und Universitäten zerbrechen sich die Verantwortlichen die Köpfe, weshalb junge Frauen in den Zulassungsprüfungen und den Prüfungen im ersten Studienjahr häufiger scheitern. Es scheint, dass die Prüfungen ungewollt diskriminieren.

Tun sie dies wirklich? Könnte es nicht auch sein, dass die „Diskriminierung“ der Frauen in den Prüfungen beim Übergang in eine Universitätsausbildung andere Gründe hat? Bei der Maturandenquote liegen die Mädchen (rund 60%) noch vor den Buben. Obwohl Frauen also quasi die Vorläufe gewinnen, erreicht ein kleinerer Prozentsatz von ihnen den Final.

Die Lösung des Rätsels liegt in der Statistik: Im Durchschnitt sind Männer und Frauen bekanntlich gleich intelligent (wenn auch in anderen Dimensionen verschieden). Auch in den vielgescholtenen standardisierten IQ Tests unterscheiden sich, wie neue Studien belegen, die Intelligenz von Frauen und Männern nicht. Dies gilt, falls die Testpersonen repräsentativ, d.h. zufällig ausgewählt und nicht irgendwie gefiltert sind.

Die Gruppe „mit Matura“ ist aber eben gerade nicht repräsentativ. Weil es bei der Matura mehr Frauen hat, ist anzunehmen dass es unter ihnen einen höheren Prozentsatz hat, der die Anforderungen nur knapp übertrifft. Eine höhere Durchfallquote ist dann die logische Konsequenz – selbst wenn die Prüfung an sich ist perfekt geschlechterblind wäre. In den unterschiedlichen Erfolgszahlen widerspiegeln sich frühere Selektionsprozesse und freiwillige Entscheidungen.

Ironie der Geschichte: Gäbe es die alte Waadtländer Bevorzugung der Knaben beim Übertritt in die Sekundarschule noch, wären wohl die Unterschiede in den Durchfallquoten bei der Medizinerprüfung zwischen den Geschlechtern deutlich geringer. Trotzdem ist sie nicht die Lösung. Die Prüfungen sollen wenn schon, dahin verbessert werden, dass sie den Erfolg in der nächsten Stufe geschlechterblind prognostizieren.

Das Drehen an der Genderschraube bei jedem Schulstufenübergang macht hingegen wenig Sinn. Es versperrt nur den kritischen Blick auf die ganze Ausbildungszeit. Erstens hängt Prüfungserfolg nicht nur von der Intelligenz ab, sondern auch von früheren Entscheidungen. Sind diese unerwünscht, müssen sie direkt angegangen werden: Den Buben muss die Schule schmackhafter gemacht werden, den jungen Frauen die Mathematik.

Zweitens sind die Unterschiede innerhalb der Geschlechter sehr viel grösser als zwischen den Geschlechtern. Wenn die psychometrische Sicht zu Ende gedacht wird, müsste auch nach anderen Kriterien (soziale Herkunft, Körpergrösse, usw) differenziert werden. Im Endeffekt hätte jeder und jede einen individualisierte Punktezahl, die er/sie erreichen müsste. Und an der Olympiade gingen wir alle gleichzeitig durchs Ziel – samt Blake und Bolt.

Die Tücken der Arbeitsproduktivität

von Monika Bütler

Aus aktuellem Anlass: Daniel Binswanger beklagt heute im Magazin, dass die Schweizer bloss fleissig, aber nicht produktiv seien. Doch das Konzept der Arbeitsproduktivität ist ein schlechtes Mass um den Erfolg einer Volkswirtschaft zu messen. Der untenstehende Text wurde unter dem Titel „Weshalb Französinnen effizienter Brote backen als wir“, in der NZZ am Sonntag, 28. Februar 2010, publiziert.

Alle Jahre wieder legt die OECD den Finger auf die Produktivität der Schweiz. Trotz einem Pro-Kopf-Einkommen, das kaum von einem anderen OECD-Mitglied erreicht werde, liege die Schweiz bei der Arbeitsproduktivität nur im Mittelfeld und habe in den letzten zehn Jahren weiter Terrain eingebüsst. Laut OECD liegt dies vor allem an der geringen Leistungsfähigkeit der abgeschirmten Sektoren im Binnenmarkt.

Letzteres wird wohl stimmen. Der eigenen Wahrnehmung entspricht es nicht in jedem Fall: Immerhin wurde unsere kaputte Heizung in Zürich jedes mal schnell repariert. Nicht so in den USA, wo wir als verzweifelte Kunden in endlose „your call is important to us“-Schlaufen abgeschoben wurden. Die Heizung funktionierte auch zwei Tage später noch nicht. Und als die schliesslich „geflickte“ Heizung nach weiteren zwei Tagen explodierte, erschien zwar nach einigen Stunden die Feuerwehr – der Brand war unter Opferung zweier Bettdecken längst gelöscht -, von der zuständigen Firma fehlte jede Spur.

Aber zurück zur Arbeitsproduktivität. Genau so wichtig wie die Leistungsfähigkeit der Binnenwirtschaft ist, dass hohe Einkommen und tiefere Produktivität oft Hand in Hand gehen. Nicht alle der 1415 jährlichen Arbeitsstunden pro Schweizer im Erwerbsalter (15-64) können gleich produktiv sein wie die 985 Stunden pro Franzosen.

Zur Illustration ein einfachen Beispiel. Nehmen wir an, alle Länder stellten nur ein Gut her, sagen wir Brot. Alle Länder hätten gleich leistungsfähige Arbeiternehmer. Aber auch die fleissigste Arbeiterin schafft nicht in jeder der 168 Stunden pro Woche gleich viel. Nehmen wir also an, sie backe in den ersten 30 Stunden 10 Brote pro Stunde. Ab der 31. Wochenstunde sinke ihre Arbeitsleistung auf 6 Brote pro Stunde.

Nun ist die wöchentliche Arbeitszeit in der Schweiz rund 42 Stunden, in Frankreich nur 35 Stunden. Eine Schweizerin bäckt somit im Durchschnitt 372 Brote pro Woche (wer es nachprüfen will: 30*10 Brote + 12*6 Brote), eine Französin 330 Brote pro Woche. In der Arbeitsproduktivität übertreffen uns daher die Franzosen mit 9.42 Broten pro Stunde (=330 Brote geteilt durch 35 Stunden) um volle 6.5 Prozent. Die französische Gesamtproduktion (und somit das Einkommen) bleibt dennoch 13% tiefer als die schweizerische.

Doch es gibt einen noch wichtigeren Grund, weshalb die Schweiz eine relativ geringe Arbeitsproduktivität bei gleichzeitig hohem Einkommen hat: Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern werden bei uns auch Menschen in den Arbeitsmarkt integriert, die aus verschiedenen Gründen eine tiefere Produktivität haben. Dies lässt sich an den vergleichsweise geringen Arbeitslosenzahlen und den hohen Erwerbsquoten in allen Bevölkerungsgruppen zeigen.  So arbeiten in der Schweiz rund 55% der 60-64 jährigen, in Frankreich sind es lediglich 15%.

Je mehr nicht ganz so produktive Menschen am Erwerbsleben teilnehmen, desto tiefer liegt die durchschnittliche Arbeitsproduktivität des Landes. Umso höher ist dafür das Einkommen. Liessen wir nur Roger Federer arbeiten, hätten wir eine viel höhere Arbeitsproduktivität. Zum Wohlstand der Schweiz trägt er dennoch weniger bei als die gescholtene Binnenwirtschaft.

Gerade die Diskussion um die Armutsbekämpfung zeigt, dass neben der materiellen Absicherung auch das Gefühl des „Gebrauchtwerdens“ für die in der globalisierten Welt nicht ganz so produktiven Menschen wichtig ist. Eine tiefere Arbeitsproduktivität ist somit ein Preis, den wir für eine bessere soziale Integration zahlen.

Vielleicht sogar für eine höhere Lebensqualität: Auf jeden Fall geniesse ich meine sorgfältig (= wenig produktiv)  in der Briefkasten gelegte NZZ am Sonntag mehr als die bei grosser Geschwindigkeit hoch produktiv aus dem Auto geworfene Zeitung in den USA. Dort musste ich oft zuerst die Salatsauce aus dem vom Aufprall geplatzten Warenmuster von der Kolumne abkratzen.

Im falschen Film

Monika Bütler

Veröffentlicht, leicht gekürzt, in der NZZ am Sonntag vom 12. August 2012 unter dem Titel „Die Altersgrenzen für Kinofilme sind sinnlos“

Regensonntage sind Kinosonntage, dachten wir vor einigen Wochen und bestellten Tickets für den Dokumentarfilm Violinissimo. Mit dabei waren unsere Kinder, der Jüngste ein Drittklässler und begeisterter Geigenspieler. „Sie wissen, dass der Film erst ab 16 Jahren freigegeben ist?“ fragte uns die freundliche Dame an der Kasse. Lange Gesichter; nein, das war uns nicht bewusst. Was denn um Himmelswillen am Film schlimmer sei als an den unsäglichen Folgen von Star Wars, die wir Eltern gelegentlich erdulden, meinte mein Mann verzweifelt. Violinissimo begleitet drei Teilnehmer durch die Höhen und Tiefen des Joseph-Joachim-Violinwettbewerbs. Der Film ist sehr interessant und spannend – und absolut harmlos. Kein Schuss, kein Kuss, auch keine mentale Gewalt. Wettbewerb schon, und nicht alle können am Ende gewinnen. Aber keine verstörende Geschichte, welche eine Begleitung durch einen Psychologen notwendig machte.

 Des Rätsels Lösung (hier verkürzt wiedergegeben): Aus Kostengründen wurde der Film nicht der privaten Freiwilligen Selbstkontrolle der deutschen Filmwirtschaft FSK zur Visionierung vorgelegt. Dieses Gremium – uns zuvor unbekannt – hätte den Film nach einer eingehenden Prüfung durch diverse Fachleute mit einem entsprechenden Label versehen. Ohne dieses Zertifikat aber gilt automatisch das gesetzliche Mindestalter von 16 Jahren. Gesetzliche Grundlagen des Verfahrens sind Jugendschutzgesetze, welche verhindern sollen, dass den armen Kindern durch böse Filme Angst gemacht wird.

 Wer sich durch die Unterlagen der FSK durchgekämpft hat, begreift schnell, weshalb Violinissimo kein Einzelfall ist. Für viele kleine Verleger sind die mehrere Tausend Franken (eine genaue Zahl war nicht zu eruieren) viel zu viel, um sich freiwillig selbstkontrollieren zu lassen. Bei anderen landen wahrscheinlich ansehnliche Beträge staatlicher Filmfördergelder wegen dieser vom Staat geforderten Kontrolle in privaten Händen. Ohne künstlerischen Nutzen.

 Die FSK-Freigaben sind durchaus informativ. Sie als freiwillig zu bezeichnen, ist angesichts der rechtlichen Bindung der Empfehlungen allerdings ein Witz. Der faktische Zwang spottet auch einer Gesellschaft, die auf Vernunft und Eigenverantwortung baut. Überhaupt: Weshalb muss der Filmverleger den Beweis der Unbedenklichkeit durch eine private Zertifizierung selber erbringen. Viel unbürokratischer wäre das Umgekehrte: Die Verleger deklarieren selber nach bestem Wissen und Gewissen. Der Jugendschutz schreitet erst ein, wenn er begründeten Verdacht einer Irreführung hat.

Noch schlimmer ist, dass die staatlichen Behörden den Eltern und der Schule überhaupt nicht mehr trauen. Und dies sogar im öffentlichen Raum, wo die freiwillige Selbstkontrolle meist gut funktioniert.  Niemand würde es wagen, mit einem Drittklässler im Kino Die Vögel von Alfred Hitchcock anzusehen. Und sollte er es dennoch tun, würde er wahrscheinlich spätestens an der Kasse von diesem Vorhaben abgehalten.

Zuhause gibt es keine solche Kontrolle. Klar gibt es unter den Eltern immer wieder schwarze Schafe: Wir haben unseren beiden Buben Die Vögel tatsächlich zugemutet. Es nützen also die raffiniertesten Label nichts, wenn die Eltern ihre Aufsichtspflicht nicht wahrnehmen. Wir haben aber Schelte bezogen und würden es nicht mehr tun. Um die Eltern kommt der Staat gleichwohl nicht herum. Weshalb dann nicht auch im Kino die begleitenden Eltern entscheiden lassen?

Es geht ja nur um Filme, könnte man argumentieren, ein Luxusproblem also. Doch mit obligatorischen Kindersitzen, baulichen Einschränkungen zum Wohle der Jüngsten und Hüte-Lizenzen werden Eltern und Lehrer – unter dem Titel Jugendschutz und Sicherheit – mehr und mehr entmündigt. Irgendeinmal wird der Regeldschungel so dicht, dass die Erzieher und Ausbildner bei einer allfälligen Regulierungslücke aus Mangel an Übung den Kompass tatsächlich verlieren.

Numerus Clausus auf der Intensivstation

Monika Bütler

NZZ am Sonntag, 15. Juli 2012 („Das Auswahlverfahren für Ärzte ist ein riesiger Blödsinn)

Zahnmedizin, meinte die Jahrgangsbeste einer aargauischen Kantonsschule nach der Maturafeier kürzlich auf die Frage nach ihrem Studienwunsch. Doch wisse sie natürlich nicht, ob sie die Prüfung bestehen würde. Gemeint war der sogenannte Eignungstest für medizinische Studiengänge (EMS), der unter den viel zu vielen Bewerbern die besten, pardon; die geeignetsten, auswählen soll.

Mit anderen Worten: Selbst die Allerbesten einer ohnehin schon kleinen Gruppe von Maturanden (im Aargau nicht einmal 20% eines Jahrgangs), müssen die Prüfung ablegen. Die ist, mit Verlaub, ein gigantischer Blödsinn. Der administrative und organisatorische Leerlauf – zu dem auch zählt, dass sich Tausende von Bewerbern wochenlang auf den Test vorbereiten –  ist noch das wenigste. Richtig übel ist die Geringschätzung von engagierten, motivierten und offensichtlich ziemlich intelligenten jungen Menschen in einem Land mit einem grossen Ärztemangel.

Nun kann man natürlich argumentieren, dass eine 5.9 in der Matura noch lange nicht zu einer Medizinlaufbahn befähigt. Mir wäre allerdings auch keine Studie bekannt, die einen negativen Zusammenhang zwischen Note und einer Eignung für Medizin findet. In anderen Worten: mit 5.9 ist man vielleicht keine bessere Ärztin als jemand mit einer 4.0, aber kaum eine schlechtere. Intelligenz kann nie schaden. Der zuständige blutjunge Assistenzarzt hat seinerzeit das Leben unseres Jüngsten gerettet, nicht weil er eine hohe Sozialkompetenz hatte, sondern weil er blitzschnell die Symptome richtig einschätzte und entsprechend handelte.

Die am Eignungstest abgefragten Kompetenzen – unter anderen: Fakten lernen, Diagramme und Tabellen interpretieren, ein medizinisch-naturwissenschaftliches Grundverständnis, quantitative und formale Probleme lösen oder Texte verstehen – scheinen mir ziemlich deckungsgleich mit den an den Gymnasien während Jahren antrainierten Fähigkeiten. Sollte ich mich irren, müsste man die schweizerische Maturitätsausbildung dringend hinterfragen und reformieren.

Die Zielgenauigkeit des EMS zeigt sich auch darin, dass die HSG den Kandidaten für den HSG-Zulassungstest („kein Wissens-, sondern ein Eignungstest“) empfiehlt, sich mit dem EMS auf die Prüfung vorzubereiten. Entweder sucht die Medizin verkappte Betriebswirte oder die HSG verkappte Ärzte oder – viel plausibler – beide suchen einfach intelligente junge Menschen mit breiten Fähigkeiten. Eben genau das, wofür die Matura eigentlich stehen müsste.

Die Absurdität der Auslese ist kaum mehr zu überbieten. Der ganze Zirkus um die Gymiprüfung nach der 6. Klasse lässt glauben, es gehe darum, die Elite von den nicht ganz so Klugen fernzuhalten und den Ausgewählten die Ihnen zustehende hochqualifizierte Ausbildung zukommen zu lassen. Sechs staatliche Ausbildungs- und Selektionsjahre später traut der Staat dann selbst den Besten der Ausgewählten nicht mehr über den Weg und schickt sie zur Sicherheit nochmals zum Test.

Der Bedarf an Ärzten in der Schweiz wird so bei weitem nicht gedeckt. Das liegt allerdings nicht am Eignungstest, sondern an der begrenzten, seit Jahren konstanten Anzahl an Ausbildungsplätzen. Es gibt somit kein objektives, absolutes Eignungskriterium. Bei steigender Anzahl Kandidaten wird die Hürde einfach immer höher. Vor 10 Jahren schafften sie rund 90%, letztes Jahr waren es noch 34%.

Nicht so schlimm, es gibt ja genügend Mediziner im Ausland. Selbstverständlich habe ich nichts gegen ausländische Ärzte. Sie sind ein Segen für unser Land. Ein Jammer ist hingegen, dass wir die Lücke einer als überzählig ausgeschiedenen, aber geeigneten und motivierten Schweizerin oder Seconda später mit jemandem füllen müssen, der am selben Test ebenfalls „gescheitert“ wäre.

Die Jahrgangsbeste hat den EMS hoffentlich bestanden. Die Mühe, eine gute Maturaprüfung abzulegen, hätte sie sich dann sparen können.

Soll das Rentenalter pensioniert werden?

Kolumne in der NZZ am Sonntag, 17. Juni 2012

Frankreichs Präsident Hollande hielt sein Wahlversprechen. Er senkte das Mindestrentenalter wieder auf 60 Jahre. Von einer vollen Rente mit 60 profitieren allerdings nur Personen mit mindestens 41 Beitragsjahren. Geringverdiener, die früh zu arbeiten begannen, sollten damit von weiteren Sparmassnahmen in der Alterssicherung verschont werden.

Ironischerweise lag François Hollande mit seiner Massnahme gar nicht weit weg von den Forderungen des Swiss Life Konzernchefs Bruno Pfister. Dieser schlug vor kurzem mindestens 45 Einzahlungsjahre in die berufliche Vorsorge vor – und wurde dafür öffentlich ausgepfiffen. Auch seine Idee war bestechend sozial: Ein Akademiker beginnt später zu arbeiten, zahlt weniger lang in AHV und PK ein, lebt am Schluss auch noch länger als ein Arbeiter und profitiert damit gerade doppelt von einem fixen Rentenalter: Kürzere Beitragsdauer, längere Rentendauer.

Der Hollande-Pfister Ansatz – Mindestbeitragsdauer statt fixes Rentenalter – sieht daher wie die perfekte Lösung einer vertrackten Ungerechtigkeit in der Alterssicherung aus. Auf den ersten Blick. Der Teufel liegt in der Umsetzung. Nicht weil es faktisch 45 Jahre braucht, bis ein solches System vollständig eingeführt ist. Nein, weil es keine eindeutige Antwort gibt auf die entscheidende Frage: Was ist überhaupt ein Beitragsjahr?

Erhält ein Beitragsjahr gutgeschrieben, wer in einem Kalenderjahr einen Mindestbeitrag einzahlt? Oder mindestens x Stunden arbeitet? Was passiert während Arbeitslosigkeit und Krankheit? Wie wird Betreuungsarbeit angerechnet? Wie verbucht man Selbständige, Künstlerinnen, international Mobile? Der Weg über ein „gerechtes“ Anrechnungssystem führt automatisch durch die administrative Hölle. Für Forscher zwar höchst interessant, für die Steuerzahler kaum.

Ich bin selber ein gutes – im Sinn der Gleichbehandlung schlechtes – Beispiel: Ein einziges Beitragsjahr fehlt mir in der AHV während mir gleichzeitig vier Jahre an die Niederländische Rentenkasse angerechnet wurden. Ein weiteres Beispiel: Einer nicht erwerbstätigen Ehefrau werden Beitragsjahre angerechnet, selbst wenn sie keine Kinder betreut. Sie kann sich eventuell eine Frühpensionierung eher leisten als eine alleinerziehende Putzfrau, die ihr Leben lang schuftete.   

Die Definition der Beitragsjahre ist zudem Manipulation und politischer Einflussnahme ausgesetzt. Wer soll denn entscheiden, was wie zählt?

François Hollandes Vorschlag zeigt dies. Als Beitragsjahr soll neu schon gelten, wenn auf 7000 Euro Einkommen Beiträge bezahlt wurden. Dies erreicht der smarte Student mit links, die Teilzeitverkäuferin im Supermarkt eventuell nicht. Auf weitere Aufweichungen der Kriterien wette ich gerne. Über eine grosszügige Anrechnung der Beitragsjahre wird die Frühpensionierung durch die Hintertüre wieder eingeführt.  Vielleicht nicht für alle, doch wenigstens für diejenigen, von denen politische Unterstützung zu erwarten ist.

Ob ich 65 bin, kann der Staat zweifelsfrei und billig überprüfen, ob ich wirklich 45 Jahre einbezahlt habe dagegen kaum. Faute de mieux bleibt das gesetzliche Rentenalter die am wenigsten schlechte Referenzgrösse. Es setzt zudem wichtige Zeichen an den Arbeitsmarkt. Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass bei Reformen die meisten älteren Arbeitnehmer bis zum neuen, höheren Rentenalter beschäftigt bleiben. Zweifellos haben es Ältere schwerer, einen passenden Arbeitsplatz zu finden als Jüngere. Doch ein Arbeitgeber wird einen 58-jährigen eher anstellen, wenn das Rentenalter 65 ist, als wenn es 60 ist und somit nur 2 Jahre bis zur Pensionierung bleiben.

Ein identisches Rentenalter für alle ist kein perfektes Kriterium. Doch die Lösung sind nicht virtuelle „Beitragsjahre“, sondern Flexibilisierungen nach unten und nach oben sowie eine Abfederung für diejenigen, die nicht weiter arbeiten können.