Dichte ohne Einwanderung

Kurioserweise muss nun auch Tokyo als Illustration für den von Ecopop bekämpften Dichtestress herhalten. Kurios deswegen, weil Japan seit Mitte der 90-er Jahre nicht gewachsen und in den letzten paar Jahren sogar geschrumpft ist. Zudem kennt Japan kaum Einwanderung, der Anteil Ausländer ist mit rund 2% sehr klein. Auch eingebürgerte Ausländer gibt es sehr wenige.

Japan ist aus zwei Gründen ein interessantes Beispiel. Erstens illustriert das Land, dass ein bedeutender Teil der Dichte aus der Binnenwanderung stammt. Die Menschen ziehen somit freiwillig von weniger dicht bevölkerten Gegenden in die Städte desselben Landes. Zweitens zeigt Japan, dass ein Nullwachstum vielleicht doch nicht so erstrebenswert ist.

Zum ersten Punkt, der Binnenwanderung. In fast allen Ländern der Welt sind die Städte sehr viel stärker gewachsen als die ländlichen Gegenden (die oft sogar schrumpfen). Die Gründe sind vielfältig. Die gefühlte Lebensqualität in den Städten hat trotz Dichte offenbar zugenommen, Pendeln ist teurer geworden. Ganz besonders dürften aber ökonomische Gründe die Wanderung in die Städte begünstigen – dies wie oben aufgeführt auch ohne irgendwelche Einwanderung von aussen. Ein Forschungszweig der Volkswirtschaftslehre, die sogenannte Stadtökonomik oder urban economics“ befasst sich seit rund 20 Jahren mit diesem Phänomen. Ein starkes Wachstum der Städte wird dann beobachtet, wenn die Vorteile einer stärkeren Konzentration – Skalenerträge*, Verfügbarkeit von Arbeitskräften, Informationen und Netzwerken – gegenüber den Nachteilen wie Überlastung von Infrastruktur und Umwelt überwiegen.

(In Klammern: Die Australische Stadt Melbourne ist übrigens ein weiteres interessantes Beispiel. Die Stadt ist in den letzten Jahren pro Jahr rund 5% gewachsen, bis 2050 wird eine Verdoppelung der Bevölkerung erwartet. Der Hauptgrund dieser Bevölkerungsexplosion ist die Wanderung im Innern eines nicht wahnsinnig dicht bevölkerten Landes).

Zum zweiten Punkt, den Folgen des Nullwachstums. Wer Japan als gutes Beispiel eines erfolgreichen Umgangs mit Nullwachstem anfügt, muss Scheuklappen auf alle Seiten hin tragen. Einer relativ gut laufenden Wirtschaft in den Städten (ja genau: im Dichtestress), steht eine  schrumpfende Wirtschaft im ländlichen Japan gegenüber. Ein Idyll ist daraus nicht geworden. Überall leerstehende Fabriken und Häuser. Zur Sanierung der Industrieruinen fehlt das Geld, für die Pflege der Betagten die Arbeitskräfte. Der Lebensstandard auf dem Land ist in den letzten 20 Jahren merklich gesunken. Der Anteil der über 65-jährigen ist von rund 15% im Jahre 1995 auf fast 25% angestiegen. Natürlich erzeugt der Druck der Überalterung auch Innovationen: So werden zur Betreuung der Pflegebedürftigen Roboter entwickelt und eingesetzt. Doch ist das wirklich, was wir uns wünschen?

Auf dem vollständigen Preisetikett des Nullwachstums in Japan steht zudem eine massive Staatsverschuldung von – je nach Mass – 150 bis 250% der jährlichen Produktion des Landes. Die Staatsverschuldung nimmt nämlich bei Nullwachstum nicht ab, sondern zu. Zahlen müssen die Rechnung irgendeinmal – die heutigen Jungen.

*Skalenerträge entstehen dann, wenn eine Verdoppelung der Anzahl Arbeitskräfte und des Kapitals zu mehr als einer Verdoppelung der Produktion führt. Je grösser die Konzentration, desto mehr kann mit der selber Anzahl Arbeitskräften geleistet werden – was sich auch in höheren Löhnen niederschlägt.

Die Mühen von Ecopop mit Hong Kong und Singapur

Monika Bütler

Die Schweiz soll nicht wie Hong Kong oder Singapur werden. Ein griffiger und einleuchtender Slogan der Ecopop Befürworter. Nur leider falsch.

Natürlich möchten die meisten von uns (mich eingeschlossen) lieber in der Schweiz als in Hong Kong  leben. Nur ist der Vergleich der beiden asiatischen Städte mit der Schweiz unfair und berücksichtigt weder die Geschichte noch das wirtschaftliche, geopolitische und klimatische Umfeld der unterschiedlichen Gegenden. Das richtige Gegenstück im Vergleich mit Hong Kong oder Singapur wäre Hong Kong/Singapur ohne „Dichtestress“. Ein einfacher Blick über die Grenzen der beiden Städte zeigt: Die Wahl ist eben nicht zwischen 15 Quadratmetern/Person im Dichtestress und plus minus gleichem Lebensstandard auf 45 Quadratmetern/Person ohne Dichte. Sondern

  • zwischen 15 Quadratmetern/Person in guten hygienischen und relativ umweltfreundlichen Verhältnissen, mit Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Arbeitsstellen und guten Schulen, welche den Kindern die Tür zur Welt offen halten.
  • und 15 Quadratmetern/Person in prekären Behausungen ohne ÖV, ohne adäquate Arbeitsplätze mit beschränkter medizinischer Versorgung und qualitativ schlechten Schulen. Und ja: mit Dreck und Umweltbelastungen.

Kein Bewohner Singapurs würde mit einem Bewohner ännet der Johor Strait tauschen wollen. Umgekehrt hingegen schon.

Da ich Singapur viel besser kenne, hier etwas Hintergrund zu Singapur. Nach der Unabhängigkeit Singapurs von Grossbritannien schloss sich die Stadt nach dem 1962 Merger Referendum der Federation of Malaya an (im Wesentlichen Malaysia, Sarawak und Nord Borneo). Die Gründe: Grösse des Landes, Knappheit an Wasser, Land und natürlichen Ressourcen. Die zwei Jahre in Union mit Malaysia waren allerdings geprägt von Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten. So wollte Singapur eine Gleichbehandlung aller Rassen, Sprachen und Religionen, was vom Rest der Federation abgelehnt wurde. 1965 wurde Singapur aus der Federation geworfen, ohne in der Frage überhaupt angehört zu werden.

Interessanterweise wurde Singapur ein Stadtstaat contre coeur. Das heutige Singapur ist somit eine Antwort auf die Herausforderungen, welche dem neuen Staat mit dem knappen Land und der Abwesenheit von natürlichen Ressourcen erwuchsen. Wie auch die Schweiz setzte Singapur in der Folge auf eine wirtschaftliche Entwicklung, die auf Unternehmertum, technologischem Fortschritt und Ausbildung basierte. Und auf eine gewisse Einwanderung, welche den Fortschritt erst ermöglichte. Singapur hat heute eine durchaus restriktive Einwanderungspolitik; diese berücksichtigt jedoch die Bedürfnisse der Bevölkerung insbesondere nach Arbeitskräften, die im Lande selber fehlen. Mit einer Abschottung wäre der Vorsprung Singapurs gegenüber seinen Nachbarn schnell weg. Immigration ist eben nicht nur Folge der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch teilweise deren Ursache.

So unterschiedlich Hong Kong oder Singapur und die Schweiz auch sein mögen. Auch bei uns muss der breite Wohlstand in den ländlichen Gegenden zuerst erwirtschaftet werden. In den viel dichter bevölkerten Städten nämlich oder den nicht so idyllischen Industriezonen. Die Umsetzung eines weiteren Slogans der Ecopop Befürworter – die Arbeitsplätze zu den Bewohnern bringen und nicht umgekehrt – würde nie und nimmer die Wertschöpfung bringen, die nötig wäre, um unseren Lebensstandard zu halten.

PS: Die momentane Popularität von Ecopop hat allerdings nicht viel mit deren Argumenten zu tun als viel mehr dem Schweigen und der Untätigkeit der Politik in den Diskussionen um die Folgen Personenfreizügigkeit (siehe meinen früheren Beitrag). Niemand erklärte den besorgten Bürgern, woher die (nicht so zahlreichen) Ausländer kommen, die wirklich Probleme machen (nämlich mehrheitlich nicht aus der EU). Auf griffige – auch während der Personenfreizügigkeit mögliche – Massnahmen gegen eine Einwanderung in den Sozialstaat (Rückführungen, Einschränkungen des Familiennachzuges, Straffung des Asylwesens) wurde verzichtet. Und wir warten bis heute auf eine vernünftige Einwanderungspolitik für Bürger aus Drittstaaten. Statt den Zug sanft zu bremsen, schielte die Politik viel zu lange auf die Notbremse (in Form der Ventilklausel). Die Notbremse zogen am 9. Februar andere. Im Tunnel.

 

Sollen nicht berufstätige Akademiker die Kosten für ihr Studium zurückzahlen?

Gebhard Kirchgässner

Kürzlich wurde vorgeschlagen, dass Akademiker einen Teil ihrer Ausbildungskosten zurückzahlen sollen, wenn sie freiwillig über längere Zeit nicht berufstätig sind. Damit soll u.a. dem Fehlen qualifizierter Fachkräfte begegnet werden. Damit würden freilich nur Symptome und nicht die Ursachen bekämpft, und zweitens hätte dies aller Voraussicht nach sehr negative Nebenwirkungen.

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Barbezug des PK Vermögens? Teil 1

Monika Bütler

Schon seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit den möglichen Auswirkungen eines Barbezugs der angesparten Kapitals bei der Pensionierung (Nein, es geht hier nicht um den Vorbezug zum Erwerb von Wohneigentum). Meine bereits vor 10 Jahren geäusserten (und durch unsere wissenschaftliche Untersuchungen gestützte)Befürchtungen, dass der Barbezug zu erhöhten Ausgaben in der EL führen könnte, ist nun auch in der politischen Diskussion angekommen. Zeit, das Ganze etwas zu beleuchten.

Zu Beginn eine Warnung: Es ist unheimlich schwierig, eindeutig zu beweisen,  dass jemand wegen der Möglichkeit der EL seine PK Gelder in bar bezieht. Oder dass der Barbezug der PK Gelder eine wichtige Ursache für den starken Anstieg der EL in den letzten Jahren ist. Unsere Untersuchungen zeigen aber immerhin, dass ein Teil des Barbezugs der PK Gelder mit der Erklärung „EL als Rückversicherung“ kompatibel ist. Dazu mein nächster Beitrag (hoffentlich morgen, wer sich nicht gedulden kann, muss das wissenschaftliche Papier lesen). Heute einfach ein paar Grundlagen (gekürzter und bearbeiteter Auszug aus unserer Studie zu EL für Avenir Suisse).

Ein Arbeitnehmer ohne Vermögen und kurz vor der Pensionierung erwartet eine AHV Rente von 2‘000 Franken pro Monat. Er hat 400’000 Franken in der Pensionskasse. Dies entspricht bei einer vollständigen Verrentung des Kapitals rund 27’000 Franken pro Jahr. Wählt er diese Option, hat er ein Renteneinkommen von rund 4‘200 Franken pro Monat. Er wird Ergänzungsleistungen erst dann beantragen müssen, wenn er aussergewöhnlich hohe Pflegekosten im hohen Alter zu begleichen hat.

Er hat jedoch noch eine andere Option. Beispielsweise kann er sich das Kapital auszahlen lassen und den Kindern überschreiben. Das ihm verbleibende Einkommen liegt nun deutlich unter den für die Ergänzungsleistungen massgeblichen Einkünften. Anrecht auf Ergänzungsleistungen hat er dennoch nicht, denn das verschenkte Kapital wird ihm als fiktives Einkommen angerechnet.

Hätte der Versicherte hingegen dasselbe Kapital für sich selbst ausgegeben – beispielsweise für eine Weltreise oder die Renovation des Hauses – darf ihm das Kapital nicht mehr als Einkommen angerechnet werden, womit er Anrecht auf Ergänzungsleistungen hat. Bereits dieses fiktive Beispiel zeigt, dass von den Ergänzungsleistungen ein starker Anreiz ausgeht, sein Altersguthaben als Kapital zu beziehen. Natürlich ist eine luxuriöse Weltreise nach der Pensionierung nicht alltäglich, die angenommenen Zahlen sind jedoch ziemlich nahe an den durchschnittlichen Einkommen aus AHV und PK. Das Bundesgericht hat diese Praxismit dem wegweisenden Bundesgerichtsentscheid 115 V 352 gestützt (siehe Schluss des Textes).

Bei der regulären oder vorzeitigen Pensionierung kann sich der Versicherte einen Teil des angesparten Altersguthaben in bar auszahlen lassen. Dieser Anteil kann im obligatorischen Teil zwischen 25 und 100 Prozent betragen, im Überobligatorium zwischen 0 und 100 Prozent. Die Mindestauszahlung von 25 Prozent im Obligatorium ist erst seit der ersten BVG Revision 2007 bindend; davor stand es den Kassen frei, den Kapitalbezug gar nicht zuzulassen. Traditionell bieten die Versicherungen eine volle Kapitalauszahlung, ebenso kleinere Kassen.

Natürlich ist der geschilderte Fall – Kapital beziehen, rasch aufbrauchen und dann Ergänzungsleistungen beantragen – in den meisten Fällen übertrieben. Dennoch bilden die Ergänzungsleistungen auch dann einen deutlichen Anreiz zum Kapitalbezug, wenn eine sparsamere Verwendung der aus der PK bezogenen Gelder geplant ist. Bewusstes Ausnützen der Sozialversicherungsleistungen kann dann kaum unterstellt werden, hingegen werden Ergänzungsleistungen als «Rückversicherung» zumindest einkalkuliert.

Ökonomisch kann aus Sicht des Versicherten vom einem Zielkonflikt zwischen einem möglichst hohen Lebenseinkommen und einem möglichst glatten Konsum gesprochen werden. Der Barbezug maximiert in jedem Fall das Lebenseinkommen, führt aber unter Umständen dazu, dass ein spürbarer Rückgang des möglichen Konsums nach dem Aufbrauchen dieses Vermögens in Kauf genommen werden muss. Für kleine Vermögen aus der Beruflichen Vorsorge bringt der Barbezug den grösseren Nutzen. Ab einer gewissen Schwelle jedoch überwiegt der Nutzen eines gleichmässigen Konsums über die ganze Rentenzeit den Nutzen aus einem möglichst grossen Bezug von EL. Bei welchem Niveau genau dieser Effekt eintritt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Neben den individuellen Präferenzen sind dies auch die Lebenserwartung, der Zeitraum, indem das Vermögen aufgebraucht wird sowie makroökonomische Faktoren wie Zinssätze und Inflationsraten.

Die Ergänzungsleistungen zur AHV bilden eine wichtige Komponente in der Absicherung eines Mindesteinkommens im Alter, das durch die AHV alleine nicht erreicht werden kann. Sie reduzieren aber erstens auch den Anreiz, selbst zu sparen oder durch Erwerbseinkommen die(vorzeitige) Pensionierung aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Ergänzungsleistungen bilden zweitens einen Anreiz, angesparte Gelder aus der Pensionskasse bar zu beziehen und die Existenzsicherung im hohen Alter nicht mit einer Rente aus der beruflichen Vorsorge, sondern über die Ergänzungsleistungen zu «versichern».

Bundesgerichtsentscheid 115 V 352 vom 2. November 1989

Eine Arbeitnehmerin erhielt zum Zeitpunkt ihrer Pensionierung anfangs Oktober 1985 ein Kapital von insgesamt 88’597 Franken ausbezahlt, das sie innerhalb von 15 Monaten für die Bezahlung von Steuern sowie für mehrere Flugreisen und einen neuen Bodenbelag ausgab. Anschliessend stellte sie Antrag auf EL.

Bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen berücksichtigte die zuständige Durchführungsstelle aber nicht das tatsächlich vorhandene Vermögen, sondern bezog sich auf den Vermögensstand von Anfang Oktober 1985 und akzeptierte nur Vermögensminderungen im Umfang der Steuern von 20‘000 Franken. Für darüber hinausgehende Ausgaben sah die Durchführungsstelle keine objektive Notwendigkeit und war deshalb nicht bereit, diese Kosten indirekt über die Ausrichtung von Ergänzungsleistungen mitzutragen.

Gegen dieses Vorgehen erhob die Rentnerin Beschwerde, welcher das Bundesgericht stattgab. Es führte in seinem wegweisenden Entscheid aus, dass nicht vorhandenes Vermögen nur dann als hypothetisches Vermögen angerechnet werden könne, wenn für die Vermögenshingabe keine adäquate Gegenleistung erbracht wurde.

 

 

 

Verdrängung

Monika Bütler

Der heutige Tagesanzeiger titelt: Ausländer ziehen in die Stadt, Schweizer aufs Land. Im Artikel wird eine CS Studie besprochen, die zeigt, dass die neuen Wohnungen in den Städten vollumfänglich von ausländischen Zuwanderern absorbiert werden. So weit so gut. Weiter geht es dann wie folgt: „Gleichzeitig verdrängt dieser Siedlungsdruck Schweizer in ländlichere Wohngebiete.“ Oder wie es später heisst: Die Schweizer rücken näher zusammen.

Wirklich? Das mit der Verdrängung ist nur eine mögliche Interpretation der Daten.  Es könnte – wie so oft – auch umgekehrt sein. Die Schweizer ziehen freiwillig aufs Land. Weder die eine noch die andere Interpretation der Daten lässt sich nämlich zweifelsfrei beweisen. Auf meine Nachfrage reichte der Autor des Artikels, Michael Soukup, freundlicherweise die sehr schlanke Studie der CS nach. Er begründete zudem (auf Twitter) die Verdrängungsthese mit dem Hinweis auf die Megatrends Re-Urbanisierung und Landflucht, die gegen meine alternativen Hypothese „freiwillig aufs Land“ sprächen.

Klar ist: Der Erhöhung des Wohnungsangebots stehen drei Veränderungen in der beobachteten Belegung der Wohnungen gegenüber: Eine Erhöhung der Zahl ausländischer Mieter, ein leichter Rückgang der Anzahl einheimischer Mieter und ein leichter Rückgang des durchschnittlich beanspruchten Wohnraums (was ja schon mal good News ist). Von „Bedarf“, übrigens, kann nicht die Rede sein. Der lässt sich gar nicht beobachten. Wir sehen in den Daten lediglich die effektive Belegung der Wohnungen.

Nun zur Interpretation: Dass die Ausländer die Schweizer verdrängen, lässt sich anhand dieser Daten nie und nimmer zeigen. Es ist eine mögliche Interpretation – und wohl diejenige, die in der momentanen Stimmung die meisten Likes generiert. Das heisst aber noch lange nicht, dass sie die richtige ist.

Dass die Schweizer näher zusammenrücken ist schon gar nicht in den Daten drin. In den Daten steht lediglich, dass die Mieter in der Stadt näher zusammenrücken. Das könnten aber genau so gut die Ausländer sein. Es ist sogar möglich, dass sich die Schweizer platzmässig ausdehnen, während sich die Ausländer viel dünner machen. Oder noch wahrscheinlicher: Das Zusammenrücken hat mit der Demographie zu tun. Die Stadt wird nachweislich jünger. Und die jüngeren wohnen in der Regel noch dichter. Viele urbane Junge ziehen später freiwillig aufs Land. Es könnte daher genauso gut sein, dass die Schweizer in der Familienphase freiwillig aufs Land ziehen und dass die Ausländer daher eher in der Stadt fündig würden. Auf jeden Fall sind mir keine Fälle bekannt, bei denen Schweizer zu Gunsten von Ausländern bei der Wohnungsvergabe diskriminiert wurden.

Meiner alternativen Interpretation stünden die Megatrends Re-Urbanisierung und Landflucht gegenüber. Ich bin nicht überzeugt. Die Re-Urbanisierung ist nur unter einem relativ kleinen, jungen, gut ausgebildeten und gut verdienenden Teil der Bevölkerung auszumachen. Für einen grossen Teil der Bevölkerung bleibt der Traum eines Häuschens auf dem Land auch in der heutigen Zeit bestehen. Die Re-Urbanisierung beschränkt sich zudem auf die In-Quartiere. Gerade in diesen Quartieren ist der Anteil der Schweizer aber nicht gesunken sind. Stadtgärtnern in Schwamendingen ist noch nicht angesagt.

Auch meine Interpretation lässt sich selbstverständlich nicht beweisen. Unplausibel ist sie aber nicht. Gerade in der heutigen aufgereizten Stimmung hätte es dem Artikel gut getan, alternative Erklärungen zuzulassen. Verdrängt werden leider nicht (nur) die Schweizer, sondern auch das Denken über den Mainstream hinaus. Ob rechts oder links spielt schon gar keine Rolle mehr.

Full disclosure. Die Autorin ist begeisterte re-urbanisierte Stadtgärtnerin und ehemaliges Landei (erst noch aus dem Aargau). Sie wohnt auf leicht unterdurchschnittlich vielen Quadratmetern in einem aufstrebenden Quartier. Und sie weiss – wie viele andere – wie verzweifelt die Suche nach der passenden Wohnung in Zürich sein kann.

 

Weiterwursteln nach Plan B

Monika Bütler

(Kurzkommentar zum Abstimmungsresultat über die Masseneinwanderungsinitiative der SVP, publiziert in der Weltwoche vom 13. Februar 2014)

Die Schweiz leistet es sich, junge Frauen sehr gut auszubilden, um sie später mit fehlenden Tagesschulen, steuerlichen Fehlanreizen und Vorurteilen aus dem Arbeitsmarkt zu ekeln. Nur knapp lehnte der Souverän eine explizite Belohnung des zu Hause-bleibens ab. Die Schweiz leistet es sich auch, intelligenten künftigen Ingenieuren und vollzeitarbeitenden Ärzten die Schule zu vermiesen mit einer Pädagogik, die weiche Faktoren höher gewichtet als Mathematik und Naturwissenschaften. Über eine längere Beschäftigung älterer Menschen denken wir schon gar nicht mehr nach. Für weniger ehrgeizige und produktive Junge ist Sozialhilfe ohnehin viel attraktiver. Damit sich die Anstrengung auch für die oben unerwähnten nicht lohnt, bietet der Staat Wohnraum und Betreuung einkommensabhängig an.

Die Lücken füllten motivierte Einwanderer. Und nun?

Wir sollten die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wenigstens zum Anlass nehmen, über die Verschwendung einheimischer Ideen und Fähigkeiten nachzudenken. Meine Vermutung: Am Schluss kommt doch Plan B zur Anwendung. Niemand wagt, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Gesuchte Fachkräfte kommen nach wie vor – einfach unter undurchsichtigen, teuren Kontingenten. Plan B, B für Bürokratie.

Wir, die AHV

Monika Bütler

(Zu Weihnachten eine kleine Liebeserklärung an die AHV, publiziert im Bulletin der Credit Suisse, 18. Dezember 2013)

Als meine Grossmutter, im Krieg mit drei kleinen Kindern verwitwet, 1948 das erste Mal eine bescheidene AHV Rente erhielt, weinte sie vor Erleichterung und Dankbarkeit. Dabei waren die rund 35 Franken pro Monat selbst für damalige Verhältnisse wenig, gerade einmal 7% des Medianeinkommens. Trotz Unterstützung ihrer Kinder lebte sie auch später in ärmlichen Verhältnissen, in einer kleinen dunklen Wohnung ohne richtige Heizung. Dennoch blieb sie zeit ihres Lebens sehr dankbar über ihre AHV Rente.

65 Jahre später: Die Schweizer Illustrierte portraitiert den „coolsten Rentner der Schweiz“, das frühere Ski-Idol Bernhard Russi, mit Jahrgang 1948 gleich alt wie die AHV. Zwischen meiner Grossmutter (die mit 66 Jahren als gebrechliche Frau starb) und dem topfitten Neurentner Russi liegen Welten. Auch zwischen der AHV von 1948 und der AHV von 2013 liegen Welten. Die Leistungen sind gemessen am Durchschnittslohn mehr als zweieinhalb mal höher als früher, sie wurden ergänzt durch eine obligatorische berufliche Vorsorge und Ergänzungsleistungen. Seit der Einführung der AHV ist die verbleibende Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren um rund acht Jahre gestiegen – meist beschwerdefreie Jahre notabene. Den heutigen «Alten» geht es heute im Durchschnitt nicht nur finanziell viel besser als früher; sie sind auch gesünder und fühlen sich jünger. Nur zwei Sachen blieben unverändert: das AHV-Rentenalter liegt unverrückbar bei 65 Jahren – wie 1948. Und die AHV ist noch immer Teil der schweizerischen Identität.

Allerdings sind da auch noch die negativen Prognosen über die künftige Entwicklung der AHV. Selbst politische Kreise, die noch vor wenigen Jahren jede Finanzierungslücke der AHV bestritten haben, müssen inzwischen eingestehen, dass sich ohne Gegenmassnahmen bald ein grosses Loch in der Versicherungskasse auftut.

Die drohende Finanzierungskrise hat der Popularität der AHV noch keinen Abbruch getan. Kaum eine schweizerische Institution ist so beliebt und in allen Bevölkerungskreisen so stark verankert wie die AHV. Die AHV ist eine Erfolgsgeschichte: In relativ kurzer Zeit konnte damit die Armut im Alter praktisch ausgemerzt werden. Dies gilt insbesondere für die Witwenarmut, die selbst in Ländern wie den USA noch immer beobachtet werden kann. Die Versicherung verursachte seit ihrer Einführung keine Skandale. Sie arbeitet schnell, transparent und mit ausgesprochen tiefen Verwaltungskosten.

Die AHV, das sind wir. Das Geheimnis dieser Liebesbeziehung? Fast alle Einwohner der Schweiz tragen zur Finanzierung der AHV bei, fast alle profitieren einmal davon. Man muss – im Gegensatz zur IV – nicht streiten, ob jemand eine Rente beziehen darf. Das Alter kann zweifelsfrei und mit geringen Kosten festgestellt werden kann. «Scheinalte» gibt es nicht.

Die Stellung der AHV ist im internationalen Vergleich einzigartig.  Ihr Kürzel steht längst nicht nur für die Versicherung im Alter und beim Tod des Ernährers; es ist mittlerweile Synonym für Menschen ab 65. Während in anderen Ländern Senioren, „best agers“ oder „silver agers“ Rabatte gewährt werden, heisst es in der Schweiz beim Eingang ins Schwimmbad oder ins Museum schlicht und einfach: „Eintritt Erwachsene, Kinder & AHV…“. Sind die Züge an schönen Tagen voll, stöhnen die Pendler „die AHV ist unterwegs“, die wohl weltweit einzige reisende Sozialversicherung. Und unter den Ärger über fröhlich jassende Senioren mischt sich wohl auch etwas Neid.

Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ausgerechnet eine Sozialversicherung so sehr zum Selbstbild der Schweiz gehört. Eine erste Vorlage zu einem AHV-Gesetz scheiterte nämlich 1931 in der Referendumsabstimmung: an der prekären Wirtschaftslage, konservativen Wirtschaftskreisen, den Jungen für die die Beiträge zu hoch waren, den Pensionskassen, die fürchteten vom Gesetz übergangen zu werden und den Kommunisten, denen die Leistungen zu bescheiden waren. Besonders interessant dabei: Bereits damals tat sich ein Röstigraben – ebenfalls schon fast ein Teil unserer Identität – auf, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Vorlage von 1931 traf nicht nur auf den Widerstand konservativer Landkantone sondern auch auf die Ablehnung welscher Kantone. In der Waadt erhielt der Vorschlag mit 24% Ja etwa gleich wenig Zustimmung wie in der Innerschweiz. (In Klammern bemerkt: Ausgerechnet der fosse du rösti, welcher heute für grosse Differenzen in Fragen zur Sozialpolitik steht, zeigt, dass die vermeintlichen Gräben vielleicht eher identitätsstiftende Folklore sind als Scheidungsgründe).

Dass die Identifikation mit der AHV so gross ist hat vielleicht mit einem weiteren Teil der schweizerischen Identität zu tun, der direkten Demokratie. Institutionen wie die Alterssicherung werden eben gerade nicht auf dem Reissbrett entworfen, sondern im politischen Prozess. Das Volk verfügt durch die direkte Demokratie sozusagen über ein Einzelpostenvetorecht, ein so genanntes «line item veto». Es ist gar nicht möglich, dem schweizerischen Souverän eine Reform der Alterssicherung als Teil eines Gesamtpaketes unterzujubeln. Jeder Bürger, jede Bürgerin ist gezwungen sich mit der Materie auseinanderzusetzen. Herausgekommen ist im Falle der AHV eine einfache und übersichtliche Lösung gegen Alters- und Witwenarmut. Es gibt im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern keine Sonderlösungen für Beamte und andere Bevölkerungsgruppen. So bleibt die Versicherung auch anpassungsfähig und schlank.

Von Partikularinteressen blieb die AHV dennoch nicht verschont. Beispiel: Die Änderungen im Rentenalter der Frauen durch die damals ausschliesslich männlichen, mehrheitlich mittelalterlichen und verheirateten Bundesparlamentier. Die Senkung des anfänglich ebenfalls auf 65 Jahre festgelegten Frauenrentenalters auf 62 Jahre wurde nicht nur mit der Existenzsicherung (Frauen haben tiefere Löhne) begründet, sondern auch damit, dass die Männer und ihre im Durchschnitt drei Jahre jüngeren Ehefrauen gemeinsam in Pension sollten gehen können.

Die hohe Verankerung in der Bevölkerung hat auch Nachteile: Sie hemmt notwendige Reformen, wenn aus lauter Liebe ungünstige demographische und wirtschaftliche Entwicklungen ausgeblendet werden. An Warnungen über drohende finanzielle Ungleichgewichte aufgrund der demographischen Entwicklung fehlte es nämlich nie; die SNB schrieb bereits 1957 von einer «zunehmenden Überalterung».  Nur wenn es gelingt, die an sich erfreuliche Zunahme der Lebenserwartung in der AHV zu berücksichtigen, bleibt die Versicherung auch in der Zukunft in weiten Kreisen der Bevölkerung verankert und beliebt.

Die AHV als Teil der schweizerischen Identität wackelt nämlich. Im Sorgenbarometer liegen die Probleme der Alterssicherung an dritter Stelle mit 29% Nennungen. Auf die Probe gestellt wird die Beziehung allerdings nicht nur durch das finanzielle Ungleichgewicht, sondern auch durch einen immer engeren Blick auf die eigenen Vorteile. So zeigt das Sorgenbarometer, dass in der Beurteilung der staatlichen Leistungen zwischen Innen- und Aussensicht eine beträchtliche Lücke klafft. 65% der Befragten geben zwar an, selber zu wenig vom Staat zu erhalten, doch sind nur 39% dieser Meinung, wenn es um die anderen geht; für 51% tut der Staat im Allgemeinen zu viel. Die Diskussion um die vermeintliche Heiratsstrafe in der AHV geht in dieselbe Richtung. Die bevorzugte Behandlung der Ehepaare wären der Beitragsphase wird dabei geflissentlich ausgeblendet.

Die Solidarität zwischen den Einkommensgruppen in den AHV ist riesig. Viele Erwerbstätige zahlen ein Vielfaches dessen ein, was sie später an Rente beziehen. Bei einem Einkommen von 500‘000 Franken werden der AHV, inklusive Arbeitgeberbeiträge, circa 42‘000 Franken pro Jahr geschuldet. Drei Viertel davon – also eine ganze maximale AHV Jahresrente – reine Steuern, die keinerlei Einfluss auf die Rentenhöhe haben.  Dass die Grossverdiener bis heute der AHV die Stange halten, ist nicht selbstverständlich. Dies könnte sich ändern, wenn von denen, die ohnehin schon sehr viel beitragen, noch mehr einfordert wird. Schon heute haben internationale Konzerne Mühe, ihren ausländischen Spitzenkräften zu erklären, weshalb sie auch auf dem nicht rentenbildenden Einkommen AHV Beiträge zu entrichten haben. Immerhin: Die Umverteilungsvorlagen 2013 brachten diese auch international aussergewöhnlich starke Solidarität wieder stärker ins Bewusstsein: Die Angst vor wegbrechenden AHV Einnahmen beunruhigt die Stimmbürger mehr – und ist demzufolge eher zu vermitteln – als negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Wie sagte doch der verstorbene Bundesrat Tschudi: „Die Reichen brauchen die AHV nicht, aber die AHV braucht die Reichen.“

Trotz aller – auch selbstgeäusserter – Kritik bleibt die AHV auch für die schreibende Wissenschaftlerin ein integraler Teil des schweizerischen Erfolgsmodells. Nicht nur weil mir die Dankbarkeit meiner Grossmutter für immer im Gedächtnis eingraviert ist.

Labor Schweiz: fiscalfederalism.ch

Marius Brülhart, Monika Bütler, Mario Jametti und Kurt Schmidheiny

Kein anderes Land ist institutionell und politisch so vielfältig wie die Schweiz. Ganz besonders ausgeprägt ist diese Vielfalt bei den öffentlichen Finanzen. Unsere 26 Kantone und gegen 2‘500 Gemeinden geniessen weltweit einmalige Freiheiten bei der Festlegung ihrer Steuern und der Verwendung ihrer Steuereinnahmen. Dieses dezentrale Staatsgebilde – wenn auch kein Allerheilmittel – ist fester Bestandteil des schweizerischen Selbstverständnisses und hat zweifelslos Anteil an der Stabilität und am wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes.

Für eine Untergattung der Spezies Mensch ist der helvetische Fiskalföderalismus zudem eine ganz besonders willkommene Bescherung: den empirischen Wirtschaftswissenschaftler (männlichen wie  weiblichen Geschlechts und – wie es sich für die Schweiz gehört – in allen Landesteilen vertreten). Nichts ist für den angewandten Forscher nämlich so wertvoll wie die Kombination von vielen und langen Datenreihen. Da die Schweiz schon seit geraumer Zeit in ziemlich unveränderter Form existiert, bietet sie im Prinzip lange Beobachtungshorizonte; und dank ihrer dezentralen Organisation offeriert sie potentiell eine grosse Zahl an Beobachtungseinheiten – ein ideales statistisches Labor also.

Der Haken an der dezentralen Organisation ist allerdings, dass wirtschaftspolitische Daten oft nur auf lokaler Ebene erhoben und aufgehoben werden. Um das „Labor Schweiz“ so richtig wissenschaftlich nutzen zu können, muss daher vieles an statistischem Rohmaterial erst in den Kantonen und Gemeinden eingesammelt werden. Eben diese Datensammlerei ist zentraler Bestandteil eines Nationalfondsprojektes, welches wir seit 2010 gemeinsam leiten.

Um die Früchte unserer Arbeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen (und zur Feier der kürzlich vom Nationalfonds gewährten Projektverlängerung um weitere drei Jahre!), haben wir eine neue Internetseite eingerichtet: fiscalfederalism.ch. Dort werden wir unsere Forschungsergebnisse laufend publizieren und auch neues Datenmaterial ablegen.

Als Zückerli sei dem geneigten Batz-Leser schon einmal unsere gestaltbare Datenanimation empfohlen, mittels welcher die Entwicklung der kantonalen Steuerlandschaft seit 1996 nach Belieben dargestellt werden kann.

Verfolgen Sie zum Beispiel die Entwicklung des Kantons Schwyz hin zum Steuerparadies für Gutverdienende – hier ein Screenshot, auf fiscalfederalism.ch jedoch in dynamischer Ausführung zu geniessen.

 SZParadies

AHV: Studie oder Wunschdenken?

Urs Birchler

Seit Jahren warnen seriöse Ökonomen vor den Gefahren der demografischen Alterung für unsere Sozialwerke. Dazu braucht es keine überzüchteten Modelle: Die Verschlechterung im Verhältnis Erwerbsbevölkerung zu Gesamtbevölkerung lässt sich an den Fingern abzählen.

Neuerdings kommt mit den Vorschlägen von Bundesrat Berset — endlich — Bewegung auf. Auch Jungparteien haben vor dem Rentenklau durch die Alten langsam genug, wie der Tages-Anzeiger heute online berichtet.

Aber dann zitiert der TA eine offenbar neue Studie von niemand geringerem als Nationalrat Stéphane Rossini (SP, VS), Professor an der Fachhochschule für Sozialarbeit in Lausanne und gemäss seiner homepage künftiger Nationalratspräsident ab Dezember 2014 (wurden die früher nicht jeweils vom Parlament gewählt?). Die Studie ist so neu, dass sie auf dem Internet noch nicht auffindbar ist (relevante Forschungsergebnisse werden heutzutage nicht mehr in trockenen Fachzeitschriften, sondern in süffig formulierten Tageszeitungen veröffentlicht). Drum kann ich nicht beurteilen, inwiefern das folgende Ergebnis der Studie oder dem Wunsch der TA-Redaktion entspringt:

Nicht die demografische Entwicklung bedrohe Sozialversicherungen wie die AHV, sondern der Verlust des kollektiven Wissens über das Solidaritätsprinzip unserer Sozialsysteme.

Klartext: Wenn die Jungen nur bereit sind auf alles zu verzichten, ist es kein Problem, dass sie bald für drei Alte und einen halben Pflegefall werden schuften müssen. Dass sie dies partout nicht mehr wollen, liege — so die Studie gemäss TA — im übrigen daran, dass in den Schulen mehr Selbstverantwortung als Solidarität unterrichtet werde. Das wäre zwar endlich eine gute Nachricht. Es gibt aber eine einfachere Erklärung: Der Glanz der Solidarität verblasst eben gerade, weil sich die älteren Generationen mit ihrer Weigerung zur Rentenreform eklatant unsolidarisch verhalten. Drum mein Verdacht: Die Jungen wissen nicht zuwenig über die Sozialsysteme. Sie wissen eher zuviel. Mindestens den Unterschied zwischen Selbstverantwortung und Selbstbedienung haben sie gesehen und — endlich! — kapiert.

Einkommensverteilung und Lebenszyklus

Monika Bütler

(meine 3.-letzte NZZ am Sonntag Kolumne: publiziert am 19. Mai 2013 unter dem Titel „Bildung bringt nicht mehr Lohngleichheit“)

Ich bin eidgenössische Durchschnitts-Verdienerin. Zugegeben: nicht heute, aber über die ganze Berufslaufbahn gerechnet. Ich habe in den letzten 30 Jahren ziemlich genau den schweizerischen Durchschnittlohn verdient. Dies ohne statistische Tricks: Meine früheren Löhne sind sauber hochgerechnet auf heutige Löhne. Trotzdem lag mein Einkommen während eines Drittels meines Arbeitslebens unter oder nahe der Armutsgrenze. Es ging mir natürlich auch in jenen „armen“ Zeiten gut –  in jungen Jahren dank dem Zustupf der Eltern; später half der Griff in den Sparstrumpf über die kargen Zeiten.

Bestünde die Schweiz nur aus verschiedenen Jahrgängen meiner selbst, betrüge der Gini-Koeffizient ungefähr 0,46. Der Gini ist ein Mass für die Ungleichheit zwischen null (alle verdienen gleich viel) und eins (einer kriegt alles). Mein „Lebens-Gini“ entspricht damit ungefähr dem der Einkommensverteilung in den USA; die Schweiz ist mit gut 0,3 deutlich ausgeglichener. Am Rande bemerkt: Würde ich heute als Chefin meine früheren Kopien anstellen, käme ich sogar in die Nähe von 1:12. Mehr als heute dürfte ich dann aber nicht mehr verdienen.

Glücklicherweise besteht die Schweiz nicht nur aus Jahrgangs-Klonen meiner selbst. Das Gedankenexperiment illustriert aber klar: Der punktuelle Blick auf die Einkommens- und Vermögensverteilung wird der Wirklichkeit oft nicht gerecht. Mein Einkommensprofil ist zwar nicht repräsentativ, aber auch nicht so aussergewöhnlich. Denn zu jedem Zeitpunkt leben in einem Land Menschen in den unterschiedlichsten Phasen im Lebenszyklus. Auch eine reiche Frau wird zwangsläufig manchmal in ihrer „Armutsphase“ registriert – sei es nur wegen eines Zweitstudiums oder einer umgebauten Küche.

Politische Vorstösse zur Einkommensverteilung haben Hochkonjunktur. Die Einkommensschere hat sich geöffnet, wenn auch moderat und nicht stärker als in den 1970er Jahren. Zudem ist für viele die fehlende Bodenhaftung einiger Spitzenverdiener das grössere Ärgernis als die Lohnschere an sich. Gerade deswegen ist es wichtig, die Rolle des Lebenszyklus in der Einkommensverteilung nicht zu vergessen. Die gemessene Ungleichheit kann nämlich ohne grundlegende Änderung im Lohngefüge zunehmen. Dies über drei Kanäle: Ausbildung, Berufstätigkeit der Frauen, Alterung der Gesellschaft.

Frauen: Früher zogen sich Mütter aus dem Arbeitsleben zurück, heute bleiben viele berufstätig – vor allem solche mit tiefen Löhnen (weil sie arbeiten müssen und die Kinderbetreuung subventioniert erhalten) und solche mit hohen Löhnen. Mütter aus dem Mittelstand hingegen werden mit einem absurden Subventions- und Steuerregime aus dem Arbeitsmarkt geekelt. Dazu kommt, dass sich das Bildungsniveau der Ehepartner immer mehr annähert; gleich und gleich gesellt sich heute lieber als früher. Beides zusammen führt im Quervergleich zu mehr gemessener Ungleichheit.

Demographie: Abschlussklassen einer Ausbildung ähneln sich alle; mit jedem Klassentreffen aber werden die Unterschiede innerhalb der Klasse grösser. Je mehr Menschen im fortgeschrittenen Alter es in einem Land gibt, desto grösser fallen auch die Einkommensunterschiede aus, ohne dass sich – ausser der Demographie – etwas ändert.

Ausbildung: Eine berufliche Weiterbildung oder eine akademische Laufbahn vergrössert die Einkommensunterschiede über den Lebenszyklus automatisch. Wie in meinem Fall: In jungen Jahren sind die Einkommen wegen Studium und Praktika gering, später schlagen sich die Ausbildungsinvestitionen (hoffentlich) in höheren Löhnen nieder.

Ironie der Politik: Gerade die Investitionen in die Bildung eint rechte und linke Kreise im Bestreben nach mehr Wohlstand. Mehr Gleichheit sollten sie dabei nicht erwarten: Bildungsinvestitionen mögen die gefühlte Ungleichheit verringern. Die gemessenen Einkommensunterschiede in der Volkswirtschaft verkleinern sie dagegen kaum.