Wie viel werden wir im Jahr 2022 (ver)erben?

Marius Brülhart

Kaum eine ökonomische Grösse ist gesellschaftlich so bedeutsam und gleichzeitig statistisch so schlecht erfasst wie der jährliche Fluss an Erbschaften.

Vor zwei Jahren habe ich den Versuch einer Schätzung gewagt und bin für 2020 auf 95 Milliarden Franken gekommen. Diese Schätzung basierte auf dem Versuch, das Erbschafts- und Schenkungsvolumen in der Schweiz trotz misslicher Datenlage mit wissenschaftlichen Methoden fürs Jahr 2011 zu schätzen und ab dann mittels ebenfalls zeitverzögert erhältlicher Vermögensstatistiken zu extrapolieren.

Diese Schätzung ist seither meines Wissens die einzige geblieben und wird in der öffentlichen Diskussion weiterhin ab und zu erwähnt.

Höchste Zeit also für ein Update und eine Qualitätskontrolle.

Seit meinem letzten Anlauf wurde die schweizerische Vermögensstatistik um die Jahrgänge 2017 und 2018 ergänzt. Diese Daten deuten auf ein leicht verlangsamtes Vermögenswachstum hin. Genau gesagt ergibt sich für die Extrapolation seit 2011 nun eine Wachstumsrate von 4.5% statt wie vor zwei Jahren angenommen 5%. Das senkt auch den Wachstumspfad der geschätzten Erbmasse. Fürs Jahr 2020 kommt man so auf eine Schätzung von rund 90 statt 95 Milliarden.

Auch eine Qualitätskontrolle ergibt eine gewisse Revision nach unten. Ein scharfsinniger Lausanner Ökonomiestudent, Guillaume Rais, hat unsere wissenschaftlichen Methoden im Rahmen seiner Masterarbeit nochmals kritisch geprüft. (Seine Studie ist nicht online einsehbar aber erhältlich auf Anfrage.)

Der wichtigste Befund: In unserer ursprünglichen Studie haben wir die erbschafts-relevanten Vorsorgeguthaben wohl überschätzt. Es geht um Kapitalbezüge und Freizügigkeitsguthaben in der 2. Säule und um 3.-Säule-Ersparnisse. In der Summe schliesse ich daraus, dass unsere wissenschaftliche Schätzung für 2011 um etwa 10% zu hoch lag. Die Wahrheit für 2020 lag demgemäss eher bei 82 als bei 95 Milliarden.

Was bedeutet das nun fürs kommende Jahr 2022? Mit der revidierten Schätzung für 2020 und einer angenommenen Vermögenssteigerung von 4.5% ergibt sich ein Wert von 90 Milliarden (= 82 Mia. * 1.045^2).

Diese Ausführungen zeigen, auf welch tönernen Füssen solche Schätzungen stehen. So ist es durchaus möglich, dass ich nun etwas zu tief liege, insbesondere angesichts der Vermögenswertsteigerungen in der Corona-Zeit.

Aber eine Tatsache steht ausser Zweifel: Erbschaften und Schenkungen stellen einen gewaltigen wirtschaftlichen Fluss dar. 90 Milliarden Franken im Jahr 2022 wären ungefähr 12% des prognostizierten Bruttoinlandprodukts (762 Mia.), deutlich mehr als die gesamten Ausgaben des Bundes (78 Mia.), und beinahe das Doppelte aller ausbezahlten AHV-Renten (47 Mia.).

Die steigende Vermögenskonzentration in der Schweiz ist grösstenteils hausgemacht

Marius Brülhart, Matthias Krapf und Kurt Schmidheiny

Aus aktuellem Anlass ist die Zahl derzeit in aller Munde: 43 Prozent der steuerbaren Vermögen gehören dem vermögendsten Prozent der Schweizer. Unter Industrieländern ist das eine rekordstarke Ballung des verfügbaren Privatkapitals (Abbildung 1). Um zum obersten Vermögenprozent zu gehören, muss man ein steuerbares Nettovermögen von über 4 Millionen Franken ausweisen.

Im Jahr 2005 hatte der Vermögensanteil des reichsten Prozents noch 37% betragen. Seither ist die Summe der Top-1%-Vermögen im Durchschnitt jährlich um 5.8% gewachsen, die Summe der Vermögen der restlichen 99% jedoch bloss um jährlich 3.8%. Die Vermögen des obersten Prozents vermehrten sich also anderthalbmal so schnell wie diejenigen der restlichen Bevölkerung.

Dieser Anstieg ist fast überall in der Schweiz zu beobachten: Abbildung 2 zeigt, dass der Top-1%-Vermögensanteil seit 2005 in 22 der 26 Kantone zugenommen hat.

Der Blick auf die Kantone zeigt auch, dass sowohl der Top-1%-Vermögensanteil als auch dessen Anstieg in den steuergünstigen Zentralschweizer Kantonen Nidwalden, Schwyz und Zug besonders ausgeprägt sind. Stark zugenommen hat die Vermögenkonzentration zudem in Obwalden und Luzern, wo die Steuern auf vermögende Personen in der Beobachtungsperiode deutlich gesenkt worden waren.

Der Anstieg des Top-1%-Vermögensanteils in steuergünstigen Kantonen könnte die Folge von Zuwanderung vermögender Ausländer sein. Wenn dem so wäre, dann könnten wir diese Entwicklung aus rein Schweizer Sicht gelassen nehmen, ja sogar als Erfolgsmerkmal verbuchen.

Wir haben die Zuwanderungshypothese daher genauer untersucht.

Eine solche Analyse ist nur machbar mit detaillierten Daten zu den Vermögen und Wohnsitzen jedes einzelnen Steuersubjekts. Dank einer wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit dem statistischen Amt des Kantons Luzern konnten wir solche Daten – anonymisiert und streng gesichert – für diesen Kanton auswerten. Dabei haben wir Glück, denn Luzern ist für unsere Belange der repräsentativste aller Kantone. Abbildung 2 zeigt, dass Luzern sowohl hinsichtlich des Top-1%-Anteils als auch hinsichtlich dessen Anstieg näher beim Schweizer Durchschnitt liegt als jeder andere Kanton.

Zur Bestimmung des Wanderungseffekts haben wir die Luzerner Steuerzahler in drei Gruppen aufgeteilt:

  • Sesshafte, d.h. Steuerzahler die zwischen 2005 und 2015 weder zu- noch weggezogen sind,
  • interkantonale Umzügler, d.h. Steuerzahler, die zwischen 2005 und 2015 aus einem anderen Kanton zugezogen oder in einen anderen Kanton weggezogen sind, und
  • internationale Umzügler, d.h. Steuerzahler die zwischen 2005 und 2015 aus einem anderen Land zugezogen oder in ein anderes Land weggezogen sind.

Wir zeigen in Abbildung 3 die Entwicklung des Luzerner Top-1%-Vermögensanteils für die Sesshaften. Dazu addieren wir schrittweise die interkantonalen und die internationalen Umzügler.

Bis 2008 sind die drei Kurven deckungsgleich: Umzüge von und nach Luzern haben an der Vermögensverteilung nichts geändert. Ab 2009 geht die Schere jedoch auseinander. Der Anteil der Top-1% wird kontinuierlich grösser, insbesondere wenn man die Umzügler mitberücksichtigt. Seit 2009 sind also deutlich mehr Vermögende nach Luzern zugezogen als weggezogen – sowohl interkantonal wie auch international. Der Trendbruch lässt sich erklären: Luzern hat 2009 seine Vermögenssteuer halbiert. Dass diese Steuersenkung eine deutliche Zunahme der in Luzern ausgewiesenen Vermögen nach sich gezogen hat, haben wir in einer wissenschaftlichen Studie dokumentiert.

Wir finden also, dass Zuwanderung den Anstieg der Luzerner Vermögenskonzentration befeuert hat. Gemäss Abbildung 3 ist der Anteil der Top-1% an allen Vermögen im Kanton Luzern zwischen 2005 und 2015 um 5.6 Prozentpunkte (= 44.8 – 39.2) gestiegen. Davon sind 2.4 Prozentpunkte oder etwas mehr als zwei Fünftel auf Umzügler zurückzuführen.

Auf die gesamtschweizerische Vermögensverteilung hat allerdings nur die Zuwanderung aus dem Ausland einen Einfluss. Internationale Umzügler haben 0.9 Prozentpunkte oder etwa ein Sechstel zum Anstieg des Top-1%-Vermögensanteils in Luzern beigetragen. Fünf Sechstel des Anstiegs sind also auf die Sesshaften und die Wanderung innerhalb der Schweiz zurückzuführen – und damit «hausgemacht».

Was könnte diese «hausgemachte» Vermögenskonzentration antreiben?

Bei der Frage stossen wir leider auch mit den detaillierten Steuerdaten an analytische Grenzen. Gewisse Anhaltspunkte gibt es. So haben wir in den Daten keine belastbaren Indizien gefunden, dass die Vermögenskonzentration durch steigende Ungleichheit der Erwerbseinkommen oder durch die demographische Alterung getrieben wird. Zudem ist in den Luzerner Daten klar erkenntlich, dass grössere Vermögen im Durchschnitt höhere Kapitalerträge (Zinsen, Dividenden, und Mieterträge) generieren. Während Haushalte mit Median-Vermögen eine ausgewiesene Durchschnittsrendite von 0.34% erzielten, lag dieser Wert fürs oberste Vermögensprozent bei 2.25%. Sofern der Konsum nicht im gleichen Mass ansteigt, wachsen grosse Vermögen quasi «von selber» schneller.

Aber zwei mutmasslich zentrale Treiber der Vermögenskonzentration, Kapitalgewinne und Sparverhalten, sind in Schweizer Steuerdaten nicht erfasst, da für die Einkommenssteuer ohne Belang.

Gemäss internationalen Studien aus Ländern, wo sich diese Dinge messen lassen, fallen für die vermögendsten Haushalte Kapitalgewinne deutlich stärker ins Gewicht als Kapitalerträge. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Entwicklung der Top-1%-Vermögen in Abbildung 3 das Auf und Ab der Börsenkurse im gleichen Zeitraum ziemlich gut widerspiegelt. Da tiefe Zinsen Aktienwerte befeuern, könnte auch das Tiefzinsumfeld ein Treiber der Vermögenskonzentration sein. Andererseits deuten neue Forschungsergebnisse aus den USA darauf hin, dass die Vermögenskonzentration und die damit einhergehende Sparneigung gleichzeitig auch Ursache der tiefen Zinsen sind.

Kurz zusammengefasst: Der Anstieg der Vermögenskonzentration in der Schweiz lässt sich nur zu einem kleinen Teil mit Vermögenszuwanderung aus dem Ausland erklären. Die wahren Treiber sind angesichts der gegenwärtigen Schweizer Datenlage jedoch schwer identifizierbar.

Bestraft die Börse EU-Skepsis?

Michel Habib

Zusammenfassung: Wieviel kostet die Schweiz der Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU? Die Börsenreaktionen auf zwei frühere “EU-kritische“ Entscheidungen unterstützen die schlimmsten Befürchtungen nicht, wie Umberto Bernardo in seiner soeben eingereichten Masterarbeit an der UZH zeigt. Die Ablehnung des EWR (1992) wurde vom Schweizer Aktienmarkt eher positiv aufgenommen. Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (2014) wirkte sich insgesamt wenig auf die Börse aus; allerdings sanken die Kurse von Unternehmen aus dem Maschinen- und Elektroniksektor leicht. Der Maschinen- und Technologieriese ABB fiel um 3,3 %. Die Ergebnisse suggerieren, dass die Anleger die Kosten einer geringeren Autonomie der Schweiz höher einschätzten als jene der geringeren Integration. Allerdings dürften sie gerade bei der Ablehnung des EWR auch auf Alternativen vertraut haben, wie sie in Form der Bilateralen I und II auch Realität wurden. (Urs Birchler)

On 26 May 2021, the Federal Council decided to end negotiations with the European Union (EU) about an institutional agreement that would replace the Bilateral Agreements I and II.  Some have deplored the Federal Council’s decision and expressed their concerns regarding its implications for Switzerland’s well-being; others have applauded it and argued that any cost to Switzerland would be small.

Can the stock market help us determine which side is right?  Yes, but only partially!  Stock price reaction to an announcement measures investors’ assessment of the implications of that announcement for listed firms’ value, thereby conveying information about investors’ view of the consequences of the announcement for the economic prospects of these firms and, indirectly, those of the country in which the firms are based.

Investors can be wrong, changes in value, or lack thereof, must be interpreted, and information that pertains to the profits of the generally large firms that are listed on stock markets does not necessarily extend to these firms’ smaller counterparts, to employees, and to overall economic well-being.  Yet, in a country such as Switzerland at least, firms, employees, and the country itself tend to prosper together and to suffer together.    

In a recently submitted Master Thesis at the University of Zurich, Master of Banking and Finance student Umberto Bernardo attempts to obtain an estimate of the economic importance of the agreements that govern Switzerland’s relation with the EU.

Specifically, Mr. Bernardo examines the Swiss stock market’s reaction to two referendums relating to that relation – the 1992 referendum on Switzerland joining the European Economic Area (EEA) and the 2014 referendum on the initiative “Against Mass Immigration.”

Mr. Bernardo does not analyze stock price reaction to the Federal Council’s 26 May decision because the topic of his thesis was chosen well before that decision.  Still, as we shall see below, his work does have some bearing on the consequences of that decision.

The decision to join the EEA was intended considerably to improve Switzerland’s access to EU markets. It would extend the 1972 Free Trade Agreement with the then European Economic Community from industrial goods to services and capital and would eliminate technical barriers to trade such as differing product requirements.  It was rejected by Swiss voters in December 1992.

Despite the decision not to join the EEA, Switzerland was able to become part of the European Single Market through a series of agreements known as Bilateral Agreements I and II. Unlike the Bilateral II agreements, the seven Bilateral I agreements are tied, in the sense that ending one agreement will automatically end the other six.

Swiss voters’ acceptance of the initiative Against Mass Immigration threatened the Bilateral I agreement on the free movement of persons, thereby threatening all Bilateral I agreements such as those on research, public procurement, and civil aviation.

Switzerland was able partially to reconcile the acceptance of the initiative with the requirements of the agreement on the free movement of persons by introducing a number of agreement-compatible requirements on Swiss employers to give precedence to local labor.

There were of course other referendums related to Switzerland’s relation with the EU during the last three decades.  What makes the two referendums considered by Mr. Bernado of particular interest is that the results in both cases were extremely close, and thus very unlikely to have been predicted by stock market participants.  Stock price reaction to the announcement of the referendums’ results therefore can be used to obtain an estimate of the importance of the referendums’ objects – access to the EEA and the Bilateral I agreements potentially endangered by the imposition of constraints on the free movement of labor – to Swiss firms and, by extension, the Swiss economy.

Mr. Bernado uses an event study methodology to obtain such estimate.  The idea is to examine how stock prices reacted to the announcement of referendum results, compare these reactions to what may be described as the normal stock price variation, and compute what is called a stock or an index’s abnormal return.  Positive, statistically significant abnormal returns indicate positive appraisal by investors; negative returns indicate the opposite. 

Mr. Bernado finds that both the Swiss Market Index (SMI), an index of the 20 largest Swiss companies, and the Swiss Performance Index (SPI) of all quoted Swiss companies experienced a positive abnormal return following the announcement of the result of the EEA referendum.  Investors deemed Switzerland’s rejection of the EEA beneficial to quoted Swiss companies.  Adjusting for the concurrent rise of the Swiss Franc against the Deutsche Mark, the SMI for example increased by 6.4%, as compared to what would have been its normal variation absent the announcement of the referendum result.  This increase was over a period of 11 days, centered on the first trading day after the Sunday on which the voting took place. 

There are, as always, many possible interpretations of this finding.  The most natural one may be that investors valued Switzerland’s regulatory autonomy, which they may have viewed as possibly compromised by membership of the EEA and eventual membership of the EU.  It is also possible that investors foresaw the possibility of alternative arrangements such as the bilateral agreements, and viewed these as preferable to membership of the EEA.

In contrast, there was little overall reaction to the announcement of the acceptance of the Against Mass Immigration initiative: both the SMI and the SPI experienced positive but statistically insignificant results.  Considering that the ending of the free movement of persons agreement would jeopardize all Bilateral I agreements, this finding is surprising.  At the risk of attributing more prescience to investors than they may have had, perhaps they were confident that Switzerland would devise an arrangement compatible with the free movement of persons agreement, which is in fact what happened.

That there was no overall reaction does not mean that all firms were left unaffected.  Mr. Bernardo finds a small but statistically significant 0.7% decline in the value of a portfolio of Swiss machine tool and electronics manufacturers.  Investors presumably feared that that the possible reappearance of technical barriers to trade would increase these firms’ cost of doing business in the EU.  Mr. Bernardo also finds a larger 3.3% decline in the value of engineering and technology giant ABB, which he contrasts with the lack of any significant response in the share price of telecom operator Swisscom.

Adjusting for CHF/Euro exchange rate movements slightly lowers these numbers and transforms the increase in the two indices from statistically insignificant to statistically significant.  It does not however change the overall pattern: the stock market as a whole very moderately increased, the value of machine tool and electronics manufacturers very moderately decreased, but ABB suffered a material decline in value.  The market value of the equity of ABB on the Friday that preceded the referendum amounted to around CHF 43 billion; 3% of 43 is about CHF 1.3 billion.  If one assumes that the same percentage applied to the wages paid to ABB’s employees and supplies sourced in Switzerland, then it is clear that the amounts at stake were not negligible, at least not for ABB shareholders, employees, and suppliers.

As noted above, Mr. Bernado’s analysis was initiated before Switzerland decided to end negotiations with the EU about an institutional agreement that would replace the Bilateral Agreements I and II.  Do his results tell us anything about the value of such an agreement?

To answer this question is not simple.  One may surmise from Mr. Bernardo’s results that (i) Switzerland, or at least the majority of quoted Swiss firms and their employees, would suffer little from an end to the bilateral agreements; indeed, that (ii) they would materially suffer if Switzerland’s regulatory autonomy were severely curtailed.  Proposition (ii) is probably true.  Proposition (i) may well be true, but it neglects the fact that the very reason the results of the referendums had little impact on firm values, with the exception of a large internationally active technology firm such as ABB, may be that investors expected Switzerland and the EU to devise alternative arrangements, which the parties did indeed.  If Proposition (i) is correct, then one may be justified in being sanguine about the end of the negotiations between Switzerland and the EU.  If it is not, then it is to be wished that, once more, Switzerland and the EU will be able to devise the necessary alternative arrangements.

Eine Moitié-Moitié-Lösung für die Corona-Schulden der Schweiz

Marius Brülhart

Die Coronakrise dürfte den Schweizer Schuldenabbau der letzten Jahre weitgehend zunichtemachen. 40 Milliarden hatte der Bund seit 2005 abgestottert, und die Bruttoschulden auf 90 Milliarden Franken gedrückt.

Wie die Pandemie beim Bund in der Endabrechnung zu Buche schlagen wird, ist noch offen. Die zusätzlichen Aufwendungen dürften infolge der getätigten und der bewilligten Ausgaben für 2020 und 2021 irgendwo zwischen 25 und 35 Milliarden Franken zu liegen kommen. Gemäss der Prognosen der Eidgenössischen Finanzverwaltung werden die Bundesschulden Ende 2021 um 25 Milliarden höher ausfallen als unmittelbar vor der Krise.

Das klingt nach einem herben Rückschlag. Ist es aber nicht, aus zwei Gründen.

Erstens haben wir heute eine grössere nominale Wirtschaftsleistung als noch zu Jahrhundertbeginn. Die Bundesverschuldung als Anteil am Bruttoinlandprodukt wird daher nach Corona immer noch wesentlich tiefer liegen als beim Höhepunkt von 2005. Damals entsprachen die Bundesschulden 25% des Bruttoinlandproduktes. 2019 waren es noch 12%. Nach Corona dürfte dieser Anteil auf 16% ansteigen.

Der zweite Anlass zu Gelassenheit sind die tiefen Zinsen. Schulden kosten den Staat im Moment fast nichts. Während der Schuldendienst im Jahr 2005 immerhin noch etwa 7% der Bundesausgaben wegfrass – vergleichbar mit den gesamten Ausgaben für die Landwirtschaft –, brauchte der Bund im Jahr 2019 für diesen Zweck noch etwa 1% seiner Ausgaben, Tendenz weiterhin sinkend.

Aus finanzpolitischer Sicht gibt es daher keinen unmittelbaren Anlass zu Sorge wegen der Corona-Schulden.

Und dennoch könnte es sich als ein Fehler erweisen, die höheren Schulden tatenlos hinzunehmen. Wie sich in der aktuellen Krise zeigt, ist eine tiefe Staatsverschuldung die beste Versicherung gegen privatrechtlich nicht versicherbare Katastrophen. Zudem wissen wir nicht, wie lange die Zinsen noch um den Nullpunkt herumdümpeln werden.

Vor allem jedoch hat sich die Schweiz mit der Schuldenbremse selber dazu verpflichtet, ausserordentlichen Schuldenanstiege wieder zurückzuzahlen. Gemäss gültigem Gesetz hat dies gar binnen sechs Jahren zu geschehen. Das würde einschneidende Sparprogramme und/oder Steuererhöhungen bedingen.

Aber die Schuldenbremse ist flexibel ausgestaltet. Eine einfache Parlamentsmehrheit kann die sechsjährige Rückzahlungsfrist verlängern, und diese Mehrheit wird sich ohne Zweifel finden lassen.

Wenn man die Frist ausreichend verlängert, werden die neuen Schulden quasi von selbst wegschmelzen. Der Bund gibt in normalen Zeiten pro Jahr durchschnittlich rund eine Milliarde weniger aus als er einnimmt, da regelmässig «Budgetreste» übrigbleiben – ein völlig normales Phänomen und Ausdruck eines sorgfältigen Umgangs mit Steuergeldern. Somit würde es ohne neuerliche Krisen zwischen 25 und 35 Jahren dauern, bis die Corona-Schulden abbezahlt wären.

Viele Politiker hätten das Problem aber lieber schon früher erledigt.

Das ist durchaus machbar. Der Schlüssel liegt beim Ausgleichskonto, auf welchem die ordentlichen Überschüsse der vergangenen Jahre verbucht sind. Der Saldo dieses Kontos liegt derzeit bei 29 Milliarden. Theoretisch könnte man voraussichtlich die gesamten Corona-Schulden mit diesem Saldo verrechnen und einfach stehen lassen. Damit würde sich der nominale Schuldenstand der Schweiz dauerhaft erhöhen, aber relativ zum BIP wären die Schulden immer noch wesentlich geringer als vor 20 Jahren. Dem Verfassungsauftrag der Schuldenbremse wäre somit eigentlich entsprochen.

Allerdings ist kaum damit zu rechnen, dass sich eine Mehrheit für ein Belassen der Corona-Schulden aussprechen wird. Nichts sollte den Bund jedoch daran hindern, beispielsweise die Hälfte der Corona-Schulden auf das Ausgleichskonto zu verbuchen, und den verbleibenden Teil mit den üblichen Kreditresten zurückzuzahlen. Bei einer solchen Halbe-Halbe-Lösung wären die Corona-Folgen in den Bundesfinanzen budgettechnisch in voraussichtlich 11 bis 16 Jahren gelöst.

Konkret würde dies bedeuten, dass der Bund nach Rückzahlung der halben Corona-Schulden wieder die gleiche Freiheit zurückgewinnen würde, die er seit Einführung der Schuldenbremse geniesst: Er könnte die jährlich wiederkehrenden Budgetreste wie bisher für einen weiteren Schuldenabbau einsetzen, oder er könnte sie mittels einer Anpassung der Schuldenbremse für Steuersenkungen oder Ausgabenerhöhungen verwenden.

Dieser Ansatz gleicht dem jüngsten Vorschlag der Finanzkommission des Nationalrats, gemäss welchem nach einer fixen Anzahl Jahren («mindestens 15») die noch verbleibenden Corona-Schulden auf das Ausgleichskonto übertragen und somit stehengelassen würden. Es stellt sich also die Frage, was man besser heute schon festsetzt: Die Anzahl Jahre während derer strukturelle Budgetüberschüsse für Corona-Schuldenrückzahlung reserviert sind, oder den Anteil der Corona-Schulden, der zurückzuzahlen ist? Wenn man bei ersterem Ansatz die Dauer so bestimmt, dass schliesslich der gleiche Anteil der Corona-Schulden aufs Ausgleichskonto übertragen wird wie man bei letzterem Ansatz festlegt, dann sind die beiden Lösungen ungefähr gleichwertig.

Auch eine Mischform ist vorstellbar: Ein Teil der Corona-Schulden wird sofort mit dem Ausgleichskonto verrechnet, der Rest ist im Prinzip über eine fixe Anzahl Jahre mittels Kreditresten zurückzuzahlen, aber allfällig verbleibende Corona-Schulden am Ende dieser Periode würden ebenfalls auf das Ausgleichskonto übertragen.

Die wirklich entscheidende Frage lautet wie immer, wo der marginale Bundessteuerfranken am besten aufgehoben ist: bei der Schuldenrückzahlung, bei zusätzlichen Ausgaben, oder gar nicht erst im Bundeshaushalt sondern im Portemonnaie der Steuerzahler? Vor Corona sprach viel für eine Steuersenkung statt für weiteren Schuldenabbau. Die Corona-Krise hat nun den Wert einer tiefen Schuldenlast neu aufgezeigt. Schuldenrückzahlung geht jedoch immer auf Kosten von gegenwärtigen Staatsleistungen oder von Steuersenkungen. Eine «Moitié-Moitié»-Lösung würde diesen gegenläufigen Ansprüchen in gut helvetischer Manier gerecht.

Schöner Lügen

Der Tagesanzeiger hat mich an ein altes Fundstück erinnert. Er berichtet kritisch über einen Artikel in dem der Erdölindustrie nahestehenden Quartalsmagazin Avenue mit “Hintergrundinformationen“ zum Thema CO2.

Man kann den Dégoût des TA nachvollziehen, wenn Avenue loslegt mit dem diskreten Hinweis, dass auch Champagnerblasen aus CO2 bestehen. Die Aussage, dass alles Leben auf diesem Planeten auf CO2 beruht, liess dann bei mir die Alarmglocken läuten (die Banalität des Bösen). So kam mir ein Exemplar in meinem Postkartensammelsurium in den Sinn. Die Karte trägt kein Datum, aber stammt aus dem letzten Jahrhundert (geschätzt ca. 1980):

Flusslandschaft

Sie zeigt eine intakte Flusslandschaft. Auf der Rückseite steht: „Reuss“. Darüber steht aber auch etwas anderes:

„Die Ölheizung … lässt die Umwelt aufatmen.“ Das hat tatsächlich einmal jemand gesagt. Im Vergleich zur Braunkohle stimmt es vielleicht sogar. Dass niemand unterschrieben hat, zeigt aber, dass die Aussage wohl schon damals ein klarer — und vorsätzlicher — Schwindel war. Und ein plumper dazu. Fazit: Etwas die Erdölbranche immerhin gelernt: Schöner lügen.

Der gescheiter(t)e Professor?

Urs Birchler

Die NZZ hat meine Kritik an einem Artikel von Patrick Herger nicht auf sich sitzen lassen und mit dem selbstbewussten Titel “An dieser simplen Prozentrechnung scheiterte der prominente Professor“ (Printversion vom 9. März., S. 25) zurückgeschlagen. (In einer weichgespülten Online-Version dann noch: „ein prominenter Professor“).

Die Antwort der NZZ ist nicht besser als der Ursprungsartikel — wie auch viele unserer Kommentatoren zu batz.ch festgestellt haben (kudos!). Wir haben gestern sofort eine Gegendarstellung eingereicht. Sobald diese in der NZZ erscheint, werden wir hier darauf hinweisen.

Bereits hier möchte ich mich verwahren gegen unwahre und beleidigende Unterstellungen. Namentlich suggeriert Patrick Herger mit einem Scheinzitat (in Anführungszeichen) ich hätte den (aus meiner Sicht sexistischen) Ausdruck “Milchmädchenrechnung“ verwendet.

Herabmindernd klingt für mich auch die Passage in der Printversion: “Denn es handelt sich in der Tat um eine komplizierte Angelegenheit. Selbst Universitätsstudenten und Mathematikdozenten bereitet die Prozentrechnung Schwierigkeiten. Man darf hinzufügen: Dasselbe gilt für Finanzprofessoren und Direktionsmitglieder der Schweizerischen Nationalbank.“ (Ich bin seit zehn Jahren nicht mehr bei der SNB; diese hat aber immer noch Direktionsmitglieder.)

In der Online-Version wurde der Text mittlerweile angepasst. Der letzte Satz (“Dasselbe gilt…“) wurde gestrichen. Ich empfehle daher, im Zweifelsfall auch die Print-Version zu konsultieren.

Nachtrag: Die NZZ hat soeben unsere gestern umgehend eingereichte Gegendarstellung online gestellt. Dass meine Berechnung von Anfang an korrekt war, haben mittlerweile auch zahlreiche Kommentare zu meinem Artikel bestätigt. Herzlichen Dank! Und NZZ: Friede sei mit uns!

Digitales Bargeld — Swiss Made?

Urs Birchler

So digital wie Bitcoin, so sicher wie ein Fünfliber oder eine Banknote der Schweizerischen Nationalbank — so wünschen sich manche das ideale Geld. Verschiedene Notenbanken prüfen deshalb seit einigen Jahren die Idee des digitalen Zentralbankgeldes (CBDC — Central Bank Digital Cash/Currency).

In einem Arbeitspapier der SNB haben drei Autoren — David Chaum (DigiCash u.v.m.), Christian Grothoff (Berner Fachhochschule), Thomas Moser (Mitglied des erweiterten Direktoriums der SNB) — unlängst untersucht, nicht ob, aber wie die SNB gegebenenfalls eine „Digitalnote“ schaffen könnte.

Am Anfang steht die Entscheidung: Konto oder Münze (token)? Digitales SNB-Geld in Kontoform gibt es bereits in Gestalt der Giroguthaben der Banken, mit denen diese den Zahlungsverkehr untereinander abwickeln. Die SNB müsste also bloss den Kundenkreis auf das Publikum ausweiten. Dieser Weg ist jedoch dornig: (1.) Die SNB müsste personalintensive Vorkehren zur Verhinderung von Geldwäscherei umsetzen (know your customer); (2.) Konti sind nicht anonym und damit nie hundertprozentig immun gegen staatlichen Missbrauch; (3.) Kontoüberweisungen hinterlassen Daten beim Empfänger.

Die Autoren entschieden sich daher für die Variante „Token“, d.h. die digitale Münze. Hier heisst die Herausforderung: Wie verhindert man eine Duplikation (Fälschung). Copy-Paste mit dem Münzcode wäre doch zu verführerisch. Hier kommt Entscheidung zwei: Hardware oder Software. Ein digitales Guthaben kann in einem geschützten Hardware-Bereich gespeichert werden, ähnlich der bereits bekannten SIM-Karte. Oder es kann in nicht-klonbarem Code niedergelegt werden. Die Autoren befürworten aus Sicherheitsgründen den letzteren Weg, das heisst eine „Sofware-Only“-Lösung.

Konkret befänden sich unsere Digitalfünfliber — wo sonst? — auf dem Handy. Dahin gelangen sie ab Bankkonto. Vom Handy aus können sie ausgegeben oder wieder auf ein Bankkonto zurück geschickt werden. Dieses Digitalgeld wäre also ein Inhaber“papier“. Es hinterlässt beim Bezahlen keine Spuren der Herkunft, genau wie herkömmliches Bargeld. Und wenn das digitale Portemonnaie beim Segeltörn ins Meer fällt, ist mit dem Handy auch das darauf gespeicherte Geld verloren, genau wie beim Portemonnaie.

Das Elegante an der vorgeschlagenen Lösung ist die klare Arbeitsteilung zwischen SNB und Geschäftsbanken. Der Bezug und die Rückgabe von Digitalmünzen erfolgt nur zwischen Inhaber (Kunde oder Händler) und Geschäftsbank. Die Überprüfung und Signatur wird von der SNB geleistet, an welche gebrauchte Digitalmünzen (ähnlich der abgenutzten Banknoten) zurückkehren. Damit bleibt die Trennung von Kundenprüfung (Geschäftsbank) und Schaffung von Zentralbankgeld (SNB) gewahrt.

Das Kernstück des Arbeitspapiers ist die kryptographische Umsetzung dieser Prozesse. Sie beruht, ähnlich wie die Verifizierung bei Bitcoin, auf der Kombination eines privaten Schlüssels und eines öffentlichen Schlüssels.

Wer bei seiner Bank eine Digitalmünze bezieht, erzeugt einen privaten
Schlüssel und bekommt eine Signatur der Zentralbank über den
dazugehörigen öffentlichen Schlüssel, ohne dass diese Schlüssel den
Banken zu diesem Zeitpunkt bekannt werden. Beim Ausgeben der Münze (via Händler und Empfängerbank) signiert der Kunde mit dem privaten Schlüssel die Anweisung zur Übertragung des Wertes der Münze an den Händler, und die Zentralbank prüft die Gültigkeit der Münze auf Basis der Signatur. Bisher alles genau wie Bargeld.

Der Trick bei der Echtheitsprüfung beruht darin, dass die SNB sehen kann, ob das Resultat einer Berechnung (konkret: einer in der Kryptgraphie üblichen Operation mit grossen Primzahlen) korrekt ist, ohne die Ausgangszahlen zu kennen. Wir erinnern uns an die Neunerprobe aus der Primarschule: Ein Blick auf die Neunerprobe zeigt der Lehrerin, ob das Ergebnis einer Division richtig ist (genauer: sein kann), ohne dass sie die Ausgangszahlen ansehen muss. Besser ist vielleicht der Vergleich mit der Prüfziffer einer IBAN-Nummer. Die Prüfziffer folgt aus der IBAN, aber die IBAN nicht aus der Prüfziffer. Die Mathematik der Echtheitsprüfung ist im Arbeitspapier ziemlich verständlich dargestellt. Denjenigen, die wie ich noch nie vom Inversen einer Modulo-Funktion gehört haben, sei eine kurze Nachhilfe empfohlen. Das Chaum-style blind-signature protocol sparen wir uns für den Party-talk. Wichtig ist aber, dass die ganze Software hinter der im Papier dargestellten Digitalmünze auf Open Source Software beruht, und zwar auf dem offensten der verschiedenen Standards, der sogenannten GNU Public License und dem System der GNU-Taler.

Zwischenfazit: Die vorgeschlagene Lösung besticht dadurch, dass sie von allen bisher vorgeschlagenen Formen von CBDC die bestmögliche Abbildung von Bargeld in digitaler Form zu sein scheint. Dennoch bestehen im Hinblick auf eine — von der SNB ausdrücklich nicht geplante — Implementierung noch einige Fragen:

  • Würden im Krisenfall die Kontoinhaber ihr Geld massenweise von den Banken abziehen und in SNB-Digitalgeld umtauschen (Bank Run)?
    Die Autoren bezweifeln dies, da das Geld nicht auf ein Koto bei der SNB fliesst, sondern bei den Inhabern auf dem Handy herumgetragen werden müsste.
  • Lassen sich mit der Digitalmünze Steuern hinterziehen. Die Autoren verneinen dies (ich bin nicht sicher, ob ich die Argumentation schon voll begriffen habe). Ob dies ein Vor- oder ein Nachteil wäre, dürfte umstritten sein (und wäre dann doch ein Unterschied zu Bargeld).
  • Wäre das Geld sicher vor Manipulation? Die digitalen Münzen hätten ein Verfallsdatum und kehrten immer wieder zur SNB zurück, wo sie vernichtet und ersetzt werden. Die Autoren machen geltend, dies sei wichtig, damit nicht immer mehr alte Nummern im Umlauf sind, was die Anfälligkeit zu Missbrauch erhöhen würde. Überdies würden auch die bestehenden Banknoten-Serien periodisch ausgetauscht, wenn auch nur ungefähr alle zehn Jahre. Gleichzeitig sehen sie beim Umtausch die Möglichkeit, zum Beispiel Gebühren zu erheben (=Negativzinsen). Auch dies wäre ein Unterschied zum bestehenden Bargeld, und ebenfalls ein absehbar umstrittener. Hier besteht daher noch eine Lücke in den Spielregeln.
  • Wäre digitales Bargeld eins zu eins gleich physischem Bargeld? Gemäss den Autoren bestünden gewisse Unterschiede, daher könnte also zwischen den beiden ein „Wechselkurs“ ungleich 1 entstehen. Die SNB könnte den Kurs natürlich mit flexiblem Angebot bei 1 fixieren, sei es freiwillig, sei es kraft (anzupassendem) Gesetz. Hier besteht noch Klärungsbedarf.

Fazit: Das im SNB-Arbeitspapier dargelegte Modell eines digitalen Zentralbankgeldes für jedermann scheint mir das interessanteste bisher vorgelegte Rezept. Näher zum physischen Bargeld kommt man kaum noch. In der Halbzeit liegt also die Schweiz mit ihrem „Digi-Taler“ vorne. Für die zweite Hälfte (oder sind wir schon in der Verlängerung?) würde ich noch jemanden aus der Rechtswissenschaft einwechseln.

[P.S: Christian Grothoff, einer der drei Autoren des Arbeitspapiers hat mich auf einen technischen Fehler aufmerksam gemacht. Seine korrigierte Version des Abschnitts „Wer bei seiner Bank eine Digitalmünze bezieht“ habe ich in den Text integriert. Herzlichen Dank, Christian!]

Familienknatsch bei Bitcoins

Der oft zitierte Einleitungssatz zu Leo Tolstois Anna Kerenina — „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“ — gilt offenbar auch für die Bitcoin-Familie.

Familie? Richtig. Der ursprüngliche Bitcoin (an den Börsen BTC) hat nämlich verschiedene Abkömmlinge gezeugt. Einer davon ist Bitcoin Cash (BCH), entstanden 2017 durch eine Gabelung (fork) in der Blockchain aufgrund einer Meinungsverschiedenheit der Teilnehmer. Durch eine weitere Gabelung entstand 2018 Bitcoin SV (BSV). BCH seinerseits verzweigte sich im November 2020 in Bitcoin Cash Node (BCHN) und in Bitcoin Cash ABC (BCH ABC).

Diese Sprösslinge versuchen alle, gewisse Mängel des originalen Bitcoin-Protokolls zu beseitigen, namentlich beschränkte Transaktionsgrössen und mangelnde Skalierbarkeit. Mit ähnlicher Zielsetzung sind ausserhalb des Bitcoin-Stammbaums Tausende anderer Crypto-Currencies — zusammenfassend Alt-Coins genannt — entstanden, wie Ether, Ripple, etc.

Hier geht es nur um die Bitcoin-Familie im engeren Sinn. Hier ist nämlich in der letzten Februar-Woche eine Bombe geplatzt. Ein Australier namens Craig Wright behauptet schon seit längerem, er sei der mysteriöse Schöpfer des Bitcoin-Protokolls, das heisst die wahre Person hinter dem Pseudonym Sakoshi Nakamoto. Sein Anspruch wird in der Szene angezweifelt, hat aber auch Anhänger. Bewiesen hat er einstweilen noch nichts.

Dessen ungeachtet schaltete Craig Wright einen Gang höher: Er beansprucht wie die Financial Times berichtet, das Urheberrecht auf dem Bitcoin White Paper, sozusagen der Geburtsurkunde des Bitcoin. Verklagt werden die Entwickler hinter den Bitcoin-Töchtern BTC, BCH, BCH ABC and BSV mit einem Streitwert von £ 3,5 Mrd.

Der Hintergrund: „Craig-Toshi“ behauptet, Hacker hätten ihm zwei wallets mit seinen Bitcoins gestohlen. Wert (bei heutigem Kurs): £ 3,5 Mrd. Er sucht aber nicht die Diebe, sondern versucht, die Entwickler dazu zu bringen, dass sie die Blockchain gewissermassen zurückdrehen, um sie ab dem Punkt, wo seine Guthaben verschwunden sind, ungültig zu machen. Dies wäre eine „gute“ Variante das berüchtigten 51-Prozent-Angriffs, mit dem eine Mehrheit der Teilnehmer eine bereits „geronnene“ Blockchain wieder auflösen kann. Neuestens wäre er aber auch zufrieden, wenn ihm einfach neue Bitcoins im selben Wert zugeteilt würden. Wie die FT bemerkt: Sowohl die Diebe. als auch das Opfer hätten dann das Geld.

Ob die Copyright-Klage Erfolg haben wird, wissen wir nicht. Eher könnte sie, wie mancher Familienstreit, letztlich allen Mitgliedern schaden. Beispielsweise wurde BSV (für Bitcoin Satoshi Version, ein Versuch, zu den „Wurzeln“ von Bitcoin zurückzukehren), an dessen Entstehung Craig Wright beteiligt war, von der grössten australischen Coin-Börse dekotiert, da die Copyright-Klage als bullying empunden wurde (obwohl — ein weiteres Rätsel — BSV selbst zu den Beklagten gehört).

Die Bitcoin-Familie scheint tatsächlich eine ganz eigene Form des Unglücks gefunden zu haben. Und dass man einen Familienstreit als Aussenstehender nie bis in seine Tiefen verstehen kann, wussten wir schon vorher.

NZZ-Gemüsetrick mit Selbstüberlistung

„Bauern als Preistreiber!“ scholl es einst durch die Lande, als Inflation noch ein Thema war. Was war geschehen? Die meisten Gemüse und Früchte sind aufgrund der jahreszeitlichen Ernteschwankungen im Winter teurer als im Sommer. Nehmen wir als Zahlenbeispiel an, sie waren im Winter doppelt so teuer wie im Sommer. Das heisst: Von Sommer zu Winter steigen die Preise um 100 Prozent, vom Winter zum Sommer sanken sie um 50 Prozent, woraus sich scheinbar eine durchschnittliche Verteuerung von 25 Prozent (100-50 durch 2) ergab. Die Bauern, denen kein entsprechender Cash-Flow im Portemonnaie aufgefallen war, protestierten sofort und mit Erfolg. Die Berechnungsweise des Konsumentenpreisindex wurde entsprechend korrigiert.

Jahrzehnte später serviert die NZZ zum Frühstück den „Gemüse-Trick“ in ihrem Börsenteil. Ziel des Artikels ist, das Halten von Bargeld zwecks Flexibilität (Jargon: als Option) zu begründen. Dies wäre weder falsch noch neu. Nur fällt Autor Patrick Herger in die Gemüsefalle: Er benutzt den Durchschnitt der Prozentsätze (Renditen) anstatt die Renditen des Durchschnitts. .

Konkret: Eine Familie bucht Ferien entweder früh für 500 Franken oder spät für (mit fifty-fifty Chancen) entweder 250 oder 1000 Franken. Klar ist früh zu 500 Franken billiger als spät zu einem Erwartungswert von 625 Franken. Jetzt aber vergleicht der Autor Renditen: Da die Reise ohne Frührabatt oder Last-Minute-Preis 1000 Franken kosten würde, ergibt sich bei Frühbuchung ein Gewinn von 100 Prozent (1000 Franken für 500 Franken); bei Spätbuchung von entweder 300 Prozent (1000 Franken für 250 Franken) oder von null, das sind im Durchschnitt immer noch 150 Prozent. Voilà!

Schon die Verwendung von Renditen ist unglücklich. Anleger haben letztlich lieber Franken als Prozente. Sie maximieren — bei Strafe des langsamen Untergangs — den Wert des Vermögens, nicht erwartete Renditen. Aber richtig schlimm: Der Autor verwendet für seine Prozentsätze (wie beim Sommer- und Wintergemüse) unterschiedliche Basen (einmal 500 Franken, dann 250 Franken).

Abgesehen von den für eine Börsenseite eher unerwarteten Fehlern, wischt der Autor mit seinem einfachen Beispiel auch ein paar weitere Probleme unter den Tisch: Die Familie könnte in Wirklichkeit auch zuwarten und die Reise am Ende gar nicht buchen. Vielleicht taucht ein noch besseres Angebot auf, oder die Tochter bricht sich beim Sturz vom Pferd ein Bein. Der Optionswert des Wartens enthält daher auch eine Versicherungsprämie gegen Überraschungen.

Ich schreibe dies nicht, weil ich an der Fähigkeit von Schweizer Familien zweifle, ihre Ferien auch nach Lektüre der NZZ (rechtzeitig umleiten!) optimal zu buchen. Vielmehr: Der Autor, der selber vor „kostspieligen Fehlern“ warnt, lässt dem verunglückten Ferienbeispiel eine genauso verunglückte Börsenanleitung folgen. Da wird es dann tatsächlich kostspielig. Was, wenn mein(e) Pensionskassenverwalter(in) den Artikel liest und befolgt? Die Forderung nach einem obligatorischen Warnhinweis auf Börsenseiten scheint vielleicht verfrüht. Aber die NZZ, wäre gut beraten, wenn sie sich anscheinend schon kein Finanzlektorat leistet, anspruchsvolle Berechnungen wenigstens vorher dem Schweizerischen Bauernverband vorzulegen.

Lehrverkäufe

Urs Birchler

Vor 200 Jahren prägte der amerikanische Investor Daniel Drew den Satz: „He who sells what isn’t his’n, must buy it back or go to pris’n.“ Einige Hedge Funds und andere professionelle Investoren scheinen diese Warnung vergessen zu haben. Sie verkauften auf Termin Aktien des Spielehändlers Gamestop, die sie selber noch gar nicht hatten.

70 Mrd. US$ sollen sie dadurch verloren haben. Scharen von Kleinanlegern haben sich offenbar via Online-Foren zusammengetan, die Gamestopp-Aktien en masse aufgekauft und dadurch die Leerverkäufer ins Leere laufen lassen (NZZ, TA). Diese müssen sich jetzt zu steigenden Preisen eindecken. 70 Mrd. US$, das ist immerhin ungefähr der Börsenwert von UBS und CS zusammen. Das verliert man nicht jeden Tag.

Finanzbehörden sind alarmiert und bereits erklingt der Ruf nach Regulierung. Vielleicht etwas rasch. Erstens wissen Hedge Funds und andere Professionelle ganz genau, dass Leerverkäufe besonders riskante Geschäfte sind, bei denen man unbegrenzt verlieren kann. Sie brauchen keinen Schutz. Zweitens ist es noch nicht lange her, als die Behörden gerade die Hedge Funds selber als Bösewichte im Visier hatten.

Drittens ist (gute) Regulierung eine Kunst. Dazu zwei Erinnerungen zu Leerverkäufen und Hedge Funds:

  • Eine Sitzung der WAK-SR vor 20 Jahren (ich durfte ein Papier über Finanzderivate vertreten): Ein sonst eher marktfreundliches Mitglied der Kommission wetterte über mein viel zu pessimistisches Papier, meinte aber, eine Geschäftsform würde man am besten gerade sur place verbieten: nämlich die Verkäufe von Titel, die man selber gar nicht hat, vulgo die Leerverkäufe.
  • Die Diskussion im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht: Eine Regulierung der Hedge Funds blieb schon am Definitionsproblem stecken. Die Idee, statt von Hedge Funds von Highly Leveraged Institutions zu sprechen, schien die Lösung, bis jemand herausfand, dass die internationalen Grossbanken eine höhere Leverage aufwiesen als die wilderen unter den Hedge Funds.

Die Behörden sollten dem Gamestop-flashmob also eher dankbar sein. Dieser hat für einmal den Dreckjob für die Regulierer erledigt. Wir nehmen an, die neueste Erfahrung sei künftigen Leerverkäufern eine Lehre, das weise Wort von Daniel Drew übers Bett zu hängen. Aber auch die vorübergehenden Gewinner sollten nicht vergessen, dass ein Berg von Dollars, der nur auf der Not klammer Leerverkäufer ruht, seinerseits auf Leere gebaut ist.