Zinsspreads und SNB-Devisenbestände

Alexandre Ziegler

Warum schwanken die Devisenreserven der SNB parallel zu den Risikoprämien auf italienischen und spanischen Staatsanleihen? Das Misstrauen gegenüber den südeuropäischen EURO-Ländern manifestiert sich gleichzeitig in steigenden Spreads auf Staatspapieren und der Flucht in den Franken (welche die SNB zur Verteidigung der Kursuntergrenze zu Devisenkäufen zwingt).

Quellen: Europäische Zentralbank; Schweizerische Nationalbank; eigene Berechnungen

Ein Königreich für einen Basispunkt (NZZ im Offside)

Monika Bütler und Urs Birchler

Die NZZ wirbt mit einem blauen Bleistift als Symbol für nüchternes Denken und Rechnen. Beat Gygi scheint beim Verfassen seines heutigen Beitrags (S. 25) den blauen Stift verlegt zu haben — zusammen mit dem moralischen Kompass. Die Libor-Manipulation, meint er, sei „relativ harmlos“ im Vergleich zu den „Manipulationen“ der Behörden bei der Bewertung von Obligationen durch die Banken und die „kartellähnliche“ Versorgung mit billigem Geld durch die Notenbanken. Es gehe ja „vielleicht um wenige Basispunkte“.

Zunächst die Arithmetik. Ein Basispunkt ist ein Hundertstelprozent (0,0001). Auf dem Libor beruhen (NZZ, ebenfalls S. 25) Kontrakte von 250-400 Bio Euro. Nehmen wir die Untergenze: 250’000’000’000’000 Euro. Mit dem spitzen blauen Stift die Nullen gestrichen ergibt pro Basispunkt einen Betrag von 25’000’000’000 Euro, in Worten: 25 Milliarden (englisch: billion). So viel gewinnt oder verliert ein Vertragspartner, der einen Libor-bezogenen Kontrakt mit Laufzeit ein Jahr abgeschlossen hat, wenn der Libor einen einzigen Basispunkt manipuliert wird.

Dies ist so ziemlich der längste Hebel, der auf den Finanzmärkten zu finden ist. Dies liegt daran, dass der Libor im Welt-Finanzsystem der Vater aller Zinssätze ist. Wer ihn manipuliert, trübt also gewissermassen die heilige Quelle des Zinsflusses. Das ist, lieber Beat Gygi, kein Kavaliersdelikt.

Damit zur Moral: „Der Andere auch“ (hier die Behörden und Notenbanken) ist zwar eine menschliche Reaktion auf das Erwischtwerden, aber moralphilosophisch nicht hoch im Kurs. Im vorliegenden Fall stinkt das Argument zum Himmel, weil es auf den Vergleich zu Notenbanken abzieht. Verschwiegen wird dabei, dass die Notenbanken doch immerhin die Zinssätze zur Rettung der Weltwirtschaft tief gehalten haben und immer noch halten, nicht zum Zweck der persönlichen Bereicherung.

Es geht uns hier nicht darum eine einzelne Zeitung anzugreifen, geschweige denn einen ihrer bewährtesten Journalisten. Der Artikel zeigt vielmehr, dass die moralischen Massstäbe sich nicht nur bis ins Zentrum der Banken, sondern bis ins Herz der Presse hinein verbogen haben. „Eine freie Ordnung“, so wissen wir von Gerhard Schwarz, „funktioniert zwar nicht ohne Mindestmass an Moral, aber wie diese Moral definiert sein soll, kann der Liberalismus nicht sagen.“ Er „kann … selbst kaum einen moralischen Kompass bieten, ausser dem Schutz der Freiheit, des Eigentums und von Verträgen.“ Verträge — darum ging es doch. Aber Liboralismus ist eben nicht Liberalismus.

Europäische Bankenunion — leere Taschen, leere Worte

Urs Birchler

Die gegenwärtig populäre Idee einer „Europäischen Bankenunion“ beinhaltet auch eine europaweite Einlagenversicherung mit einem Fonds, der Schadenfälle abdecken soll. Sie baut zum Teil auf die bestehende EU-Richtlinie zur Einlagensicherung. Eine wohlwollende Darstellung und Analyse findet sich in einem CEPS-Paper von Dirk Schoenmaker und Daniel Gros. Die Autoren schätzen, dass für die 35 grössten Banken ein Fonds von 55 Mrd. Euro ausreicht, um 1,5 Prozent der versicherten Einlagen abzudecken.

Die Idee des gemeinsamen Versicherungsfonds wirkt auf den ersten Blick bestechend, hat aber ein paar gravierende Probleme:

  • Erstens sollte man eine Versicherung einführen, bevor der Schaden eingetreten ist. Zur Lösung der gegenwärtigen europäischen Bankenprobleme kommt die gemeinsame Versicherung zu spät.
  • Zweitens ist ein gemeinsamer Versicherungsfonds nur ein anderer Name für zentralisierte Eigenmittel. Die Eigenmittel werden nicht bei der einzelnen Bank gehalten, sondern in der gemeinsamen Kasse. Ein Pooling unabhängiger Risiken wäre vom Versicherungsgedanken her auf den ersten Blick plausibel. Nur handelt es sich nicht um unabhängige Risiken (gerade im Bankensektor kommt ein Unglück selten allein). Noch schlimmer: die schlechtesten Banken holen den Jackpot ab, die guten sind die Geprellten.
  • Drittens reicht eine Deckung von 1,5 Prozent der versicherten Einlagen nicht aus. Zwar arbeitet die US-amerikanische Einlagenversicherung (FDIC) mit ähnlichen Werten (1,35 Prozent), muss aber nach Krisen immer wieder ex post Beiträge erheben. Zudem ist die FDIC nur vertrauenswürdig, weil sie über Staatsgrantie verfügt. Schoenmaker und Gros weisen denn auch darauf hin, dass die europäische Einlagenversicherung nur funktioniert, solange die Staatshaushalte im Lot sind. Dies ist auf absehbare Zeit kaum der Fall. Auch die bestehenden nationalen Systeme, die gemäss Erläuterungsbericht zur EU-Direktive ebenfalls mit Deckungen von gut 1 Prozent arbeiten, wandern auf dünnem Eis. (Die absolut notwendige Absicherung der Einlagenversicherung via Konkursprivileg der versicherten Einlagen verwendet die EU nicht, im Gegensatz zur Schweiz, den USA, Australien und anderen Ländern, darunter EU-Beitrittskandidat Montenegro. Das Konzept wird im Bericht über die Regulierungsfolgen der Direktive lediglich kurz erwähnt.)

Fazit: Einmal mehr greift die EU unter dem Druck der Krise zu einem unausgegorenen Konzept, das auf Scheinlösungen beruht (Stopfen vorhandener Löcher mit Geldern Dritter) und die Probleme langfristig eher verschärft (Verleitung der Marktteilnehmer zu moral hazard).

Euro-Bills

Urs Birchler

Wie die Presse meldet, prüft die EU die Ausgabe von Euro-Bills (anstatt Euro-Bonds). Dazu habe ich ein Grundlagenpapier von Wim Boonstra, dem Chefökonomen der holländischen Rabobank, erhalten. Das Papier macht unter anderem eines klar: Ob man für oder gegen Eurobills (oder bonds) ist, hängt davon ab was man als Alternative sieht:

  • Wer glaubt, ohne Eurobills fänden die verschuldeten Länder den Weg zur Budgetdisziplin, ohne dass eine wirtschaftliche Katastrophe eintritt, ist dagegen.
  • Wer glaubt, Disziplin hin oder her bestehe die einzige realistische Alternative in einer Übernahme der Schulden durch die EZB, ist für die Eurobonds.

Haben CS und UBS genügend Eigenmittel?

Urs Birchler

Die Meinungsverschiedenheit zwischen SNB und den Grossbanken ist dem breiteren Publikum der Steuerzahler — um deren Geld geht es nämlich — nicht ganz einfach zu vermitteln. Versucht sei es wenigstens.

Genügend Eigenmittel ist immer Eigenmitel pro irgendwas. Im einfachsten Fall pro Bilanzsumme einer Bank. Das ist wie beim Hauseigentümer: Die Bank verlangt, dass er das Haus nur zu 80% mit Schulden belastet und 20% des Immobilienwertes selber, aus dem eigenen Sack, berappt.

Im anspruchsvolleren Fall bezieht man die Eigenmittel auf die sogenannten risikogewichteten Anlagen der Bank (die RWA, für risk weighted assets). Das wäre, wie wenn die Bank vom Hauseigentümer Eigenmittel verlangte in der Höhe von (beispielsweise): 10% des Grundstückwerts (da dieser risikoarm ist), 30 Prozent des Wohnzimmers, 50% des Kellers (da feuchtigkeitsgefährdet) und 120% der (potentiell explosiven) Gasheizung.

Welcher Ansatz ist der richtige: die Pauschallösung pro Bilanzsumme (Leverage Ratio) oder die (einzel-)risikogerechte Lösung (auf Basis der RWA unter Basel II und III)? Grundsätzlich wäre der risikogerechte Ansatz wohl der richtige — liessen sich die Risiken einer Bank denn hinreichend genau messen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zum einen ist die Messung (und die Aggregation) der Risiken schon konzeptionell schwierig. Zum andern versuchen die Banken auch, den gemessenen Risiken auszuweichen. Mit den gemessenen Risiken verschwinden aber nicht unbedingt die effektiven Risiken. Der Hauseigentümer, der auf die Gasheizung verzichtet, braucht — in unserem Beispiel — weniger Eigenmitteln. Was aber, wenn er insgeheim mit Propangas aus der Flasche kocht? Dann hat er das Risiko in den eigenmittelfreien Bereich verschoben.

Ein Arbeitspapier des IMF zeigt sehr sorgfältig, dass die risikogewichteten Assets (RWA) ein unzuverlässiges Mass der Risiken einer Bank sind. Die Autorinnen legen auch dar, dass es grosse Unterschiede zwischen Banken, vor allem auch zwischen Banken aus verschiedenen Weltregionen gibt.

Am deutlichsten zeigt sich die Unzulänglichkeit der Risikogewichtung gegenwärtig in der Behandlung von Staatsanleihen. Diese werden in den meisten Ländern mit niedrigen Risikogewichten, wenn nicht mit null, gezählt. Die Grafik (ursprüngliche Quelle: Standard&Poor’s und Bloomberg) zeigt, dass Guthaben gegenüber Staaten nur für 1% der Eigenmttelerfordernisse der international tätigen Banken verantwortlich sind. Bei einer solchen Rechnung fehlen schnell einmal ein paar Prozentpunkte an Eigenmitteln, wenn sich eine Krise verschärft. Drum leuchtete wohl bei der SNB das Alarmsignal auf. Genauso schöpft ein Bankier Argwohn, wenn der Hauskäufer behauptet, er brauche dank auschliesslich krisenfester Bauweise und Ausstattung zu seiner Hypothek nur 1,7% Eigenmittel.

Bezogen auf die risikogewichteten Aktiven gehören die Schweizer Grossbanken zu den besser kapitalisierten der Welt. Bezogen auf die Bilanzsumme sind sie jedoch im Tanga unterwegs. Kein Wunder hat der Bademeister gepfiffen.

Kapital oder Aufspaltung?

Urs Birchler und Inke Nyborg

Die Äusserungen der SNB, wonach die Schweizer Grossbanken dringend ihre Kapitalbasis stärken sollen, hat hohe Wellen geworfen. Dabei geriet in den Hintergrund, dass es die Britische Regierung noch viel böser im Sinn hat. Gestern nachmittag legte sie an einer Pressekonferenz ein White Paper zur Trennung von Retail Banking und Investment Banking vor. Konsulation bis 6. September 2012. Parlament 2015. Implementierung 2019.

Finanzsekretär Mark Hoban brachte das Problem im Begleitkommentar auf den Punkt:

  • Banking groups became too complex and interconnected to be managed effectively.
  • Regulators failed to identify the risks.
  • And taxpayers paid the price. Between October 2008 and December 2010 European taxpayers provided almost €300bn to prop up their banks, with liquidity and lending support in the trillions.

Den zweiten Punkt wird die FINMA lesen, bevor sie sich über das Vorprellen der SNB wundert. Und die Schweizer Grossbanken kommen mit einer Kapitalerhöhung noch glimpflich davon.

Gibt sich und hat Mühe: Die EU zur Restrukturierung von Banken

Urs Birchler

EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier hat heute seinen Vorschlag zur Restrukturierung und Abwicklung von Banken vorgeschlagen.
Verschiedene Vorschläge stammen aus dem bekannten Placebo-Vorrat der Behörden: Prävention (hat bisher schon nicht funktioniert), „living wills“ der Banken (unzuverlässig!), Aufteilung einer Bank (ist gut und recht, aber mit neu Mischen bringt man den Schwarzen Peter nicht aus dem Spiel).

Zwei Vorschläge aber gehen zur Substanz:

Erstens soll ein Krisenfonds (zuerst auf nationaler Ebene?) geäufnet werden, damit Banken nicht durch Steuerzahler gerettet werden müssen. Das heisst, die guten Banken müssen für die schlechten einstehen. So zementiert ein vorhandener Krisenfonds das TBTF-Problem, anstatt es zu lösen. Da in der EU alles nur angedacht ist, soll der Fonds ein Prozent der Bankverbindlichkeiten abdecken, was dann im Ernstfall nirgendwo hinreicht. Der Staat kommt also wieder zum Zug.

Zweitens soll der „bail-in“ (Kürzung von Schulden, bzw. Umwandlung in Eigenkapital) möglich werden. Das ist das einzige Mittel, das wirklich wirkt. Man muss es aber richtig konzipieren. Erste Zweifel kamen mir, als ich las, das deutsche Bundesfinanzministerium heisse die Vorschläge gut, da sie grossenteils mit dem deutschen Gesetz zur Reorganisation von Kreditinstituten übereinstimmten. Also habe ich nachgesehen. Tatsächlich hat jenes Gesetz einen Paragraphen (§ 9) „Umwandlung von Forderungen in Eigenkapital“ — aber mit einer unglaublichen Pointe: „Eine Umwandlung gegen den Willen der betroffenen Gläubiger ist ausgeschlossen.“ Das ist, wie wenn man im Fussball gegen den Willen des betroffenen Torhüters kein Tor erzielen dürfte. Nun — vielleicht überlegt sich das die EU noch genauer; der bail-in soll ohnehin erst 2018 in Kraft treten (als verspätetes Requiem für die spanischen Banken wahrscheinlich).

Wenn nicht alles täuscht: Die EU hangelt sich weiter von Scheinlösung zu Scheinlösung in die Katastrophe.

Keine Antidepressiva für Griechen mehr

Urs Birchler

Bei griechischen Apotheken gibt es für Kassenpatienten keine Medikamente mehr (NZZ von heute, S. 21). Die Kassen sind staatlich, und dem Staat fehlt es an Geld. In solchen Fällen erreicht die Krise eine neue Qualität: Menschliche Grundbedürfnisse (elementare medizinische Versorgung) können nicht mehr garantiert werden. Der griechische Staat verletzt damit die Menschenrechte.

Die menschenrechtliche Dimension der Krise haben Helen Keller und mich veranlasst einen (bereits vergangene Woche erschienenen) Artikel in Die Zeit zu schreiben. Was mir wichtig war (und dem „Sparprogramm“ der Redaktion teilweise zum Opfer fiel): Im Konkurs einer Privatperson oder einer Unternehmung gibt es eine Rangfolge des Verzichts: zuerst werden die vorrangigen Guthaben (z.B. Alimenten; Publikumseinlagen bei Banken) ausbezahlt, erst nachher werden die weiteren Ansprüche soweit möglich befriedigt. Im Staatskonkurs fehlt ein Konkursrecht und damit eine Prioritätenliste. Der Stärkste kommt zuerst — auf der Strecke bleiben die theoretisch privilegierten Ansprüche, im Staat: Die Menschenrechte. Ein bisher kaum diskutiertes Problem der von EU und IMF geforderten Sparprogramme sind deshalb die fehlenden menschenrechtlichen Auflagen. Der Europäische Menschnrechtsgerichtshof wird hingegen noch ein Wort mitreden — wenn nicht vorher alles in Flammen aufgeht.

Wahlanalyse: Das Schulden-Einmaleins

Die Wahlresultate in Frankreich und Griechenland, so meldet beispielsweise der Tagesanzeiger seien ein Votum „gegen den rigiden Sparkurs Europas, wie ihn Deutschland seinen Partnern aufgezwungen hat“. Wofür aber stimmt man, wenn man gegen das Sparen stimmt?

Ein Staat kann mit seinen Schulden auf vier [korr.] Arten umgehen:

  1. sie mit eigenem (gespartem) Geld zurückzahlen,
  2. sie mit neu geborgtem Geld zurückzahlen (refinanzieren),
  3. sie mit neu gedrucktem Geld (d.h. real nur teilweise) „zurückzahlen“,
  4. sie nicht zurückzahlen (Bankrott erklären).

Nun ist also Variante 1 politisch „out“. Variante 2 geht aber nur, wenn jemand neues Geld zur Verfügung stellt. Wer soll aber Geld geben, wenn der Schuldner das Sparen ausdrücklich ablehnt. Also ist Variante 2 auch out. Variante 3 ist im europäischen Verbund auch out, da die einzelnen Staaten kein Geld mehr drucken können (für die EZB lassen wir für einmal die Unschuldsvermutung gelten). Damit bleibt als einzige die Variante 4, der offene Staatsbankrott.

Man wird ja wohl noch für den Staatsbankrott stimmen dürfen!? Gewiss, nur hätte ich dann wohl nicht noch den culot, die Finanzmärkte und die Deutschen anzuschwärzen, wenn sie die Botschaft verstehen und nichts mehr geben.

P.S.: Die Baron-von-Münchhausen-Variante, wonach der bankrotte Staat mit noch mehr Ausgaben jenes Wirtschaftswachstum erzeugt, das dank zusätzlicher Steuern die Ausgaben finanziert, lasse ich dort, wo sie hingehört — im Märchenbuch.

Man soll nicht das Kind mit dem Bad ausschütten: Lehren aus der Finanz- und Wirtschaftskrise für die Volkswirtschaftslehre

Gebhard Kirchgässner

In seinem neusten Beitrag schreibt Gebhard Kirchgässner, welche Lehren aus der Finanz- und Wirtschaftskrise für die Volkswirtschaftslehre gezogen werden können, wo es Fehler gegeben hat und was dennoch vom ökonomischen Ansatz bleibt.