Ein Königreich für einen Basispunkt (NZZ im Offside)

Monika Bütler und Urs Birchler

Die NZZ wirbt mit einem blauen Bleistift als Symbol für nüchternes Denken und Rechnen. Beat Gygi scheint beim Verfassen seines heutigen Beitrags (S. 25) den blauen Stift verlegt zu haben — zusammen mit dem moralischen Kompass. Die Libor-Manipulation, meint er, sei „relativ harmlos“ im Vergleich zu den „Manipulationen“ der Behörden bei der Bewertung von Obligationen durch die Banken und die „kartellähnliche“ Versorgung mit billigem Geld durch die Notenbanken. Es gehe ja „vielleicht um wenige Basispunkte“.

Zunächst die Arithmetik. Ein Basispunkt ist ein Hundertstelprozent (0,0001). Auf dem Libor beruhen (NZZ, ebenfalls S. 25) Kontrakte von 250-400 Bio Euro. Nehmen wir die Untergenze: 250’000’000’000’000 Euro. Mit dem spitzen blauen Stift die Nullen gestrichen ergibt pro Basispunkt einen Betrag von 25’000’000’000 Euro, in Worten: 25 Milliarden (englisch: billion). So viel gewinnt oder verliert ein Vertragspartner, der einen Libor-bezogenen Kontrakt mit Laufzeit ein Jahr abgeschlossen hat, wenn der Libor einen einzigen Basispunkt manipuliert wird.

Dies ist so ziemlich der längste Hebel, der auf den Finanzmärkten zu finden ist. Dies liegt daran, dass der Libor im Welt-Finanzsystem der Vater aller Zinssätze ist. Wer ihn manipuliert, trübt also gewissermassen die heilige Quelle des Zinsflusses. Das ist, lieber Beat Gygi, kein Kavaliersdelikt.

Damit zur Moral: „Der Andere auch“ (hier die Behörden und Notenbanken) ist zwar eine menschliche Reaktion auf das Erwischtwerden, aber moralphilosophisch nicht hoch im Kurs. Im vorliegenden Fall stinkt das Argument zum Himmel, weil es auf den Vergleich zu Notenbanken abzieht. Verschwiegen wird dabei, dass die Notenbanken doch immerhin die Zinssätze zur Rettung der Weltwirtschaft tief gehalten haben und immer noch halten, nicht zum Zweck der persönlichen Bereicherung.

Es geht uns hier nicht darum eine einzelne Zeitung anzugreifen, geschweige denn einen ihrer bewährtesten Journalisten. Der Artikel zeigt vielmehr, dass die moralischen Massstäbe sich nicht nur bis ins Zentrum der Banken, sondern bis ins Herz der Presse hinein verbogen haben. „Eine freie Ordnung“, so wissen wir von Gerhard Schwarz, „funktioniert zwar nicht ohne Mindestmass an Moral, aber wie diese Moral definiert sein soll, kann der Liberalismus nicht sagen.“ Er „kann … selbst kaum einen moralischen Kompass bieten, ausser dem Schutz der Freiheit, des Eigentums und von Verträgen.“ Verträge — darum ging es doch. Aber Liboralismus ist eben nicht Liberalismus.

12 thoughts on “Ein Königreich für einen Basispunkt (NZZ im Offside)

  1. Ich für meinen Teil hätte einem erwischten Dieb in der Sowjetunion die Ausrede „Stalin auch“ nicht verdenken können.

  2. Danke für den schönen Beitrag. Sie schreiben: „Der Artikel zeigt vielmehr, dass die moralischen Massstäbe sich nicht nur bis ins Zentrum der Banken, sondern bis ins Herz der Presse hinein verbogen haben.“

    Man kann hier aber auch fragen:
    (1) Welchen Stellenwert haben moralphi. Fragen heute in der Aubildung von Ökonomen an der UniZH und der HSG?
    (2) Trägt die gegenwärtige Ausbildung von Ökonomen vllt. gar ein wenig dazu bei, dass Personen in Richtung Gewinnmaximierung „verbogen“ werden?
    (3) Hat sich wirklich nur bei den Anderen (Banker, Journalisten) etwas „verbogen“?

  3. (1) Die Studenten sind — ich habe mit Ihnen diskutiert — nicht sehr interessiert an Moralfragen,
    (2) Die Ökonomen haben die moralischen Masstäbe nicht verbogen. Gewinnmaximierung ist eine Verhaltensannahme in einfachen Modellen, nicht eine Verhaltensmaxime.
    Umgekehrt sind die Ökonomen auch nicht fähig, in der Ausbildung moralische Masstäbe gerade zu biegen. Erstens haben wir es mit Erwachsenen zu tun, da ist die Erziehung weitestgehend gelaufen. Zweitens: Professoren als moralische Lehrer und Vorbilder? Fehlanzeige!
    (3) Es handelt sich m.E. um eine gesellschaftliche Entwicklung, die ich als Ökonom nicht wirklich verstehe.

  4. Zwei Fragen stellten sich mir nach dem Lesen des Artikels. Ist es nicht die Aufgabe der Nationalbank, die Währung zu „manipulieren“ und die zweite Frage: Haben nicht alle – auch die Aufsichtsbehörden – die Augen zugedrückt, damit die Banken nicht noch mehr ins Schlingern kommen?

    Mich würde die Meinung des Experten interessieren, konnte diese Manipulation unter dem Radar der Aufsichtsbehörden, der Nationalbanken, des IWF usw. durchgehen? Der Laie ist konsterniert.

  5. @DanielNiklaus: Dass die Libor Manipulationen so lange unentdeckt blieben hat wohl auch mit der Bestimmung des Libors zu tun: Es handelt sich dabei nicht um einen Marktpreis, sondern um einen (von den Banken für unterschiedliche Währungen erwarteten) Zinssatz, der sich aus den Angaben der beteiligten Banken berechnet. Entsprechend dürfte es schwierig sein, Manipulationen einfach aufzudecken.
    Sollte sich zeigen, dass sich die eine oder andere Zentralbank aktiv oder passiv (Augen zudrücken) an der Libormanipulation beteiligt hätte, käme dies einer Katastrophe gleich.

  6. @a1. Hier noch die Antworten aus St. Gallen:
    (1) Wir haben an der HSG mehr Philosophen und Ethiker als Finanzwissenschaftler (Öffentliche Finanzen). Die Ausbildung ist gewährt. Ob die „Moral“ eingang erhält ins Geschäftsleben ist eine andere Frage. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Beinflussbarkeit der Studierenden durch die Professoren fast inexistent ist (Gott-sei-Dank).
    (2) siehe Antwort Urs Birchler
    (3) erwischt – wir müssen uns wohl alle an der Nase nehmen. Das Magazin hatte vor einigen Jahren einen interessanten (erschütternden) Beitrag: Wir Abzocker

  7. RE: @U.B. 5 Juli 9.26

    zu 2: Verhaltensannahme vs. -maxime
    Im Kontext der Modellwelt der Lehrbuch-Ökonomie ist die Gewinnmaximierung eine Verhaltensannahme. Die meisten Absolventen landen aber in der Verwaltung oder in Unternehmen, d.h ausserhalb der Universitäten. Dazu folgende Fragen:

    (2Va) Gewinnmaximierung ist ausserhalb der Modellwelt der Universitäten unbekannt?
    (2Vb) Die Absolventen nehmen nichts von dem was in der Uni gelernt haben mit in die „Praxis“?
    (2Vc) Die Wissenschaftler betreiben nur Wissenschaft und beraten niemals Akteure in Wirtschaft und Verwaltung?

  8. RE: @ U.B. 5. Juli 9.26

    zu 1:
    (1Sa) Glauben Sie das begrenzte Interesse bei den Studenten trifft auch auf die diesen blog-Eintrag von Bütler/Birchler zu?
    (1Sb) Haben Sie auch erfahren was die Studenten primär interessiert?

  9. @ M.B. 6. Juli 10.43

    (zu 1)
    (1.1) Von der Zahl der Personen ein einem Fachbereich auf die Qualität der Ausbildung zu schliessen, halte ich für fragwürdig.

    (1.1_Ia) Wie steht es um die verbindliche (!) Verankerung der Veranstaltungen von Philosophen und Ethikern in den Studienplänen der HSG, z.B. in der VWL?
    (1.1_Ib) Was bringt es, wenn Studenten Philosophen und Ethiker leicht umgehen können, weil sie primär im Wahlbereich (Kontextstud.) Veranstaltungen abhalten?

    (zu 3) Und was macht man an der HSG nun? Beruft man sich jetzt einfach auf Studien und sagt, dass man eh nichts ändern kann?

  10. Nachtrag zu a1 (6.juli 10.43)
    Präzisierung zum Kontextstudium an der HSG

    Das Kontextstudium ist ja verpflichtend für die Studenten, nur innerhalb des Kontextstudiums bestehen weitreichende Wahlmöglichkeiten. Wer möchte kann dort (nach meiner Einschätzung) Philosophen und Ethikern leicht aus dem Weg gehen.

    Wenn die nicht der Fall sein sollte, korrigieren Sie mich bitte.

  11. @a1 Natürlich kann man der Moralphilosophie aus dem Weg gehen. Daran würde selbst eine verpflichtende Veranstaltung nichts ändern. Wer nicht will, will nicht; Brainwash geht nicht (immer noch: Gott-sei-Dank).
    Philosophische und Werte-Fragen werden in vielen Veranstaltungen der VWL angesprochen und diskutiert. Dort sind sie meiner Meinung nach auch am besten aufgehoben. Besser als is stand-alone-Veranstaltungen.
    Und wenn wir (die Betreiber von batz.ch, alles Volkswirte) nicht primär an einer „besseren Welt“ interessiert wären, würden wir den Zusatzeffort eines Blogs gar nicht leisten.

  12. @M.B.

    Ich stimme Ihnen zu, es ist vorteilhaft philo. Fragen in Fachveranstaltungen zu integrieren. Nach ihrer Aussage machen dies VWLer an der HSG bereits. Dazu:

    Betrachtet man den Bildungshintergrund der VWL-Lehrenden, so sehe ich primär „reine“ Volkswirte.
    …Verfügen diese alle über eine zertifizierte Zusatzausbildung?
    … Oder darf einfach jeder VWLer an der HSG das so machen wie er möchte, ohne fundierte Ausbildung?

    Warum kooperieren Philosophen, Ethiker und VWLer bei LVs an der HSG nicht, obwohl es schon lange Philosophie- und eine Wirtschaftsethik-Institute gibt?

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