Vermögen in der Eurozone korrigiert?

Monika Bütler

In einem sehr lesenswerten Aufsatz in der NZZ vom 13. April weist Claudia Aebersold Szalay zurecht darauf hin, dass die Hauspreisentwicklung eine wichtige Komponente bei den Haushaltsvermögen ist. Die sehr ungleiche Entwicklung der Immobilienpreise bereitete den Forschern der Umfage (siehe Beitrag von gestern) Sorgen und dürfte einer der Gründe für die Verzögerung der Publikation gewesen sein.

Ich habe in meinem Beitrag von gestern daher vor allem auf die Vermögen der Haushalte ohne Hausbesitz hingewiesen. Diese Auswahl hat narürlich ihre Tücken, da in den EU Ländern die Verteilung des Immobilienbesitzes sehr ungleich ist: In Deutschland und Österreich hat die Mehrheit der Haushalte kein Haus, während beispielsweise in der Slowakei fast jeder Haushalt (90%) ein Haus besitzt (Spanien 83%, Zypern 77%). Da die Hausbesitzer tendentiell reicher sind, überschätzt ein Vergleich der Vermögen der Nichthausbesitzer die Vermögen in Deutschland und Österreich gegenüber den südlichen Ländern. 

Genau am gleichen Problem – sogar noch verstärkt – leidet die von Claudia Aebersold Szalay in der NZZ präsentierte Korrektur der Vermögenswerte. In dieser Korrektur wurde zwar die unterschiedliche Hauspreisentwicklung herausgerechnet, dafür aber nur Hausbesitzer miteinander verglichen. Die beiden Graphiken in der NZZ vergleiche somit nicht die gleichen Haushalte miteinander. Für Deutschland und Österreich ist der Unterschied ganz entscheidend: Der Medianhaushalt aller Haushalte ist einer OHNE Haus. Der Medianhaushalt in der korrigierten Auswahl hingegen einer MIT Haus: Der mittlere von den nur 44% (D), resp. 48% (Ö) Hausbesitzern. Kein Mensch würde wohl behaupten, der mittlere Hausbesitzer in der Schweiz sei repräsentativ für die Vermögenssituation in der Schweiz.

Ärgerlich ist, dass der „richtige“ korrigierte Vergleich aller Haushalte in der Originalstudie aufgeführt ist (Paper 02, Graphik 4.6, Seite 83). Und siehe da: Wenn man die unterschiedliche Preisentwicklung (die Housing Bubbles) herausrechnet, verkleinern sich die Unterschiede zwar ein wenig, das Bild bleibt aber: Von einem reichen Norden und einem armen Süden kann nicht die Rede sein.

MedianNetWealthEval2002

Mietzinsakrobatik

Der Mieterverband ist empört. In 10 Jahren sind die Durchschnittmieten um mehr als 20% gestiegen (es sind genau 21.2%). Flugs – wie könnte es anders sein – folgt der Ruf nach staatlichen Massnahmen; eine stärkere Regulierung der Wohnungspreise, Mindestlöhne.

Doch wie hoch sind die Preissteigerungen wirklich? Immerhin sind in der Vergleichsperiode auch Preise und Löhne gestiegen. Hier also die Zahlen: Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf der Bevölkering stieg zwischen 2000 und 2010 um 21.5% also ziemlich genau gleich viel wie die Durchschnittsmieten. Der Anteil des Einkommens, welches für die Miete aufgewendet werden muss, blieb somit genau gleich hoch. Die Löhne stiegen tatsächlich etwas weniger stark, um 16.4%. Entscheidend für die Belastung ist allerdings das Haushalteinkommen, welches wegen der höheren Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen etwas stärker gestiegen sein dürfte als das Durchschnittseinkommen (daher auch der Vergleich mit dem BIP/Kopf).

Weitere Faktoren bleiben beim empörten Vergleich auf der Strecke: Die Grösse der Wohnungen dürfte gestiegen sein, ebenso die Qualität und Ausstattung (wer wäscht heute noch von Hand ab?).

In der Tendenz geben wir vielleicht tatsächlich einen etwas grösseren Teil unseres Einkommens fürs Wohnen aus. Doch gleichzeitig sinken die Kosten anderer Güter (Freizeit, Mobilität, Unterhaltungselektronik). Ich kann mich nicht erinnern, dass es bei sinkenden relativen Kosten einen Zeitungsartikel gab.

Falls überhaupt, hätte die Klage über steigende Mietpreise 10 Jahre früher kommen sollen. Zwischen 1990 und 2000 stiegen die Durchschnittsmieten um 29%, die Löhne aber nur um 23% und das Bruttoinlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung sogar nur um 20%.

Steuern in der Schweiz: The Sequel

Marius Brülhart

Nach einem etwas abgehobenen filmemacherischen Debüt kann Batz nun mit einem Streifen für Otto Normalsteuerzahler aufwarten. Während unser Erstlingswerk noch Haushalten im Top1%-Segment galt, zeichnen wir diesmal für einen Medianhaushalt nach, wie sich die Steuerbelastung in den Kantonen und Gemeinden entwickelt hat. Zudem sind wir nun auch im Tonfilmzeitalter angelangt (mit Dank an Stefanie Brilon und George Harrison).

Steuern in der Schweiz: The Sequel.

Wiederum verfolgen wir die Einkommenssteuerbelastung in den 2‘596 Gemeinden über die Zeitspanne 1984-2011. Diesmal nehmen wir den Steuersatz für ein kinderloses Ehepaar, dessen Einkommen im jeweiligen Jahr genau in der Mitte aller Haushalte lag, die direkte Bundessteuern zahlten (statt wie in unserem Debütwerk beim obersten Perzentil). Das so definierte Median-Reineinkommen entsprach 37’800 Franken im Jahr 1984 und 61’000 Franken im Jahr 2011.

Unsere Animation macht wiederum klar, wie sich die helvetische Steuerlandschaft ziemlich kunterbunt entwickelt hat und zeugt damit von der Lebendigkeit des schweizerischen Fiskalföderalismus.

Beim Verglich mit dem Film für die Top-1%-Einkommen fallen uns folgende Aspekte besonders auf: Weiterlesen

Steuern in der Schweiz: The Movie

Marius Brülhart

Der Wettbewerb um lukrative Steuerzahler hält die Schweizer Steuerlandschaft in pausenloser Bewegung. Das weiss doch jeder. Oder etwa doch nicht? Denn mit eigenen Augen gesehen hat es noch niemand…

Steuern in der Schweiz: The Movie.

Hier somit in exklusiver Vorpremiere der längst überfällige Dokumentarfilm. Über knapp drei Jahrzehnte zeichnen wir bunt nach, wie sich die Steuerbelastung auf einen Top-1%-Haushalt in den Gemeinden und Kantonen landesweit entwickelt hat (Idee und Technik: Marcel Probst). Die Daten dazu trugen wir im Rahmen eines Nationalfonds-Projektes zusammen (Regie: Raphaël Parchet und Kurt Schmidheiny).

Konkret haben wir ab 1984 für fast alle 2’596 Gemeinden den Steuersatz berechnen können, welchem ein Ehepaar unterstellt ist, dessen Einkommen an der unteren Grenze des gesamtschweizerisch obersten Einkommensprozents liegt. In der Steuerbelastung berücksichtigt sind Einkommenssteuern für Gemeinden, Kirchen und Kantone. Bundessteuern wurden ausgelassen, denn sie sind übers ganze Land gleich.

Das Top-1%-Einkommen ist für jedes Jahr über alle Haushalte definiert, die direkte Bundessteuern abliefern. Dieser Einkommens-Referenzwert belief sich 1984 auf 194‘900 Franken und im Jahr 2011 auf 354‘400 Franken. Wir bereinigen die Einkommensentwicklung also nicht nur um die Teuerung sondern auch um den realen Anstieg der Durchschnittseinkommen und liefern somit eine Ergänzung zu den Steuerberechnungen, welche Monika Bütler bereits präsentiert hat.

Jeder Betrachter möge sich seine eigenen Highlights aus dem Film herauspicken. Falls Ihnen etwas auffallen oder sonderbar vorkommen sollte: bitte melden! Wir erheben keinen Anspruch auf absolute Fehlerfreiheit unseres Datensatzes und wären dankbar für Reaktionen.

Auf den ersten Blick stechen uns insbesondere drei Phänomene ins Auge:

  • Die Schweiz wird im betrachteten Zeitraum heller. Das heisst, dass die Steuerbelastung auf hohen Einkommen tendenziell rückläufig war. Tatsächlich fiel die ungewichtete Durchschnittsbelastung über alle Gemeinden gerechnet von 22.4% im Jahr 1984 auf 19.3% im Jahr 2011. Bloss in 156 Gemeinden lag die Steuerbelastung 2011 höher als 1984.
  • Die hellen Flecken konzentrierten sich über die Zeit immer mehr in der Innerschweiz. Ein Blick in die Daten bestätigt den Trend. Lagen im 1984 die beiden steuergünstigsten Gemeinden noch im Kanton Graubünden, so lagen 2011 die 41 steuergünstigsten Gemeinden allesamt in der Innerschweiz. 1984 belegten die Gemeinden Appenzell Ausserrhodens im Durchschnitt immerhin den dritten Rang (hinter denjenigen Zugs und Nidwaldens), und Schwyz lag bloss auf Rang acht. Im 2011 sah die Tabellenspitze nach Kantonen folgendermassen aus: Zug, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Uri.
  • Unsere Steuerlandschaft bewegt sich auch kleinräumig und nicht immer stetig. Gemeinden und Kantone verfolgen vielfältige Strategien, und oft wechseln sich widerläufige Entwicklungen ab. Viele Gemeinden senkten ihre Steuersätze eine Weile, hoben sie dann jedoch wieder an. Augenfällig sind solche Übergänge von Dunkel zu Hell und zurück zu Dunkel beispielsweise bei folgenden Gemeinden (testen Sie Ihre Schweizer Geographie!): Altstätten (Trendumkehr 1991), Lausanne (Trendumkehr 2003) und Köniz (Trendumkehr 2004).

Es gibt noch vieles mehr zu entdecken in diesem Streifen. Aber am meisten wird erst richtig ersichtlich, wenn man die Daten durch die ökonometrische Brille anschaut. Daran arbeiten wir. Batz wird berichten.

Übrigens: Unser Film könnte noch einen anständigen Soundtrack gebrauchen. Auch hierzu ist kundiger Rat herzlich willkommen.

Höhere Steuern? Höhere Steuern!

Monika Bütler

Aus aktuellem Anlass (gravierende Budgetprobleme in denjenigen Kantonen, welche ihre Steuern massiv gesenkt hatten) hier eine alte Kolumne in der NZZ am Sonntag (11. September 2011).

Die Lage der öffentlichen Finanzen in der Schweiz ist schlechter, als es scheint

Verkehrte Welt! In verschiedenen Ländern fordern reiche Bürger höhere Steuern. Die Regierungen? Wollen nicht. Dabei täten sie gut daran, die Argumente für etwas mehr Steuern auf sehr hohen Einkommen und Vermögen zu prüfen. Auch in der Schweiz.

Noch vor wenigen Jahren galten Steuersenkungen als Gratisaktion: Dank mehr Investitionen und höherer Produktivität würden sich die Steuersenkungen selbst finanzieren. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Neben Gewinnen für die Bessergestellten blieben Defizite der öffentlichen Hand. Eigentlich müssten heute mindestens ein Teil der Steuersenkungen rückgängig gemacht werden. Doch fast alle (Politiker) scheuen nur schon die Diskussion darüber. Dabei steht es um die öffentlichen Finanzen schlechter, als es scheint. In den offiziellen Zahlen sind die impliziten Schulden aufgrund der alternden Bevölkerung noch gar nicht eingerechnet.

Einem wohl länger anhaltenden Rückgang der Steuereinnahmen zum Trotz: Lieber werden der Polizei und den Spitälern die dringend notwendigen Stellen vorenthalten und die Infrastruktur vernachlässigt als Steuern angehoben. Doch solche Sparübungen bringen gesamtwirtschaftlich wenig. Aber sie treffen die weniger Verdienenden und gefährden den Zusammenhalt der Bevölkerung, letztlich die Grundlage einer erfolgreichen Wirtschaft. Es erstaunt nicht, dass die Halbierung der Vermögenssteuern im Kanton Zürich wuchtig verworfen wurde.

Auch viele Reichen haben erkannt, worin der Erfolg westlicher Volkswirtschaften besteht. Ungleichheiten werden akzeptiert, solange die Glücklicheren ihren Teil am Gemeinwohl leisten. Eigentum verpflichtet, heisst es sogar explizit im deutschen Grundgesetz. Ganz besonders stark ist der stillschweigende Gesellschaftsvertrag in den USA. Das erklärt einen Teil der Ungeduld, mit der die USA von der Schweiz einfordern, was Steuerflüchtige der amerikanischen Gesellschaft finanziell und ideell entzogen haben.

Die Angst der Politiker und vieler Bürger selbst vor einer geringfügig stärkeren Besteuerung sehr hoher Einkommen und Vermögen ist dennoch verständlich. Denn die Linke fordert Steuererhöhungen, nicht um Schulden und Defizite abzubauen, sondern um Mehrausgaben zu finanzieren, von frühzeitiger Pensionierung bis zu Subventionen für alles und (fast) jeden. Wer gegen solche Ausgaben ist, kämpft logischerweise gegen Steuererhöhungen.

Dass sich die Kantone scheuen, Steuern für sehr hohe Einkommen anzuheben, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Mit dem neuen Finanzausgleich (NFA) wurde einem gut funktionierenden Steuerwettbewerb zwar eine solide Grundlage verpasst. Dennoch ist es für die Kantone noch immer „günstiger“, sehr Reiche anzuziehen als den wirtschaftlich oft viel stärker engagierten Mittelstand und das Unternehmertum. Selbst wenn die Diskussion in erster Linie auf Bundesebene stattfinden muss: Auch die Kantone werden nicht darum herum kommen, ihre Einnahmen den geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen, wenn sie nicht mit einem Schuldenberg enden wollen.

Mindestens eines hat die Schweiz anderen Ländern voraus. Die Diskussion über eine Ausgestaltung des Steuersystems ist noch nicht polarisiert. Wir haben keine Tea- oder Kafi-Lutz-Party. Dafür einen funktionierenden und effizienten Staat, in welchem sich der Grossteil der Bevölkerung — arm und reich — noch dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt. Für die sehr Reichen könnten sich etwas höhere Steuern – solange das Geld nicht gleich wieder ausgegeben wird – sogar lohnen. Auf die Dauer sind gesunde Staatsfinanzen der beste Schutz vor Vermögens- und Einkommensverlusten.

Gelingen müsste deshalb ein „historischer Kompromiss“: etwas höhere Steuern für die obersten Einkommen und Vermögen, aber ohne zusätzliche Ausgaben. Steuerwillige Reiche und haushälterische Linke vereinigt Euch!

 

Japan am Abgrund?

Urs Birchler

Vorab: Ich liebe Japan und seine freundlichen und fröhlichen Bewohner. Ich bin wie viele auch immer wieder beeindruckt vom Gemeinschaftssinn der Japaner. Nicht zufällig ist Japan auch das Land, das den Wohlfahrtsstaat erfunden hat.

Doch damit sind wir beim Problem. Der japanische Staat steckt in der Klemme. Auch die Presse (z.B. die NZZ) hat das Thema aufgenommen. Allerdings ist der Blick meist fixiert auf die bald erreichte Schuldenobergrenze und die politischen Ränkespiele um die Erhöhung oder Nichterhöhung dieser Grenze. Wird die Grenze nicht gelockert, droht die Zahlungsunfähigkeit. Dabei ist es im Grunde umgekehrt: Weil diese Grenzen (wie auch in den USA) immer wieder gelockert werden, wenn sie zu „beissen“ beginnen, ist der Staat am Ende nicht einfach technisch zahlungsunfähig, sondern fundamental bankrott.

Ist Japan soweit? Die Lage der japanischen Staatsfinanzen ist beschrieben im Länderbericht des IMF (2011). Daraus die Eckdaten:

  • Die Staatsschuld in prozenten der jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP) liegt gegenwärtig bei 250% (brutto), bzw. 125% (netto). Tendenz: steigend, v.a. wegen strukturell bedingter Wachstumsschwäche und der Alterung der Bevölkerung.
  • Das Pimärdefizit (ohne Zinskosten) liegt bei 10% pro Jahr.
  • Der private Sektor weist einen Sparüberschuss auf, der die Zunahme der öffentlichen Verschuldung kompensiert. Dabei verschiebt sich die Spartätigkeit von den Haushalten zu den Unternehmen.

Japan ist allerdings nicht Griechenland oder Spanien. Es gibt zwei grosse Unterschiede:

  1. Die Schulden des japanischen Staats werden zum grossen Teil von Inländern gehalten.
  2. Japan hat eine eigene Währung.

Auf den ersten Blick machen diese beiden Unterschiede die japanische Situation einfacher. Weil die Gläubiger Japans die Japaner selbst sind, wird Japan also nie eine „Troika“ einladen müssen. Dank der eigenen Währung kann die Bank of Japan notfalls Geld für den Staat drucken. Erst der zweite Blick zeigt, dass dies beiden „Vorteile“ in Wirklichkeit Nachteile sein können:

  1. Ein Staat mit Schulden gegenüber dem Ausland kann sich dieser im Notfall mit einem Schuldenschnitt entledigen — praktiziert in Dutzenden von Fällen; zuletzt in Griechenland. Wie aber verordnet man den Inländern (d.h. den Stimmbürgern) einen Verzicht auf ihre Guthaben? Die Verteilung bereits eingetretener Verluste ist notorisch schwierig und dürfte auch einen Staat mit opferbereiten Bürgern wie Japan überfordern.
  2. Die Notenpresse als Mittel zur Zuordnung der Verluste scheint elegant, beraubt jedoch ein Land seines monetären Koordinatensystems.

Dann liest man immer wieder: „Japan ist anders“, auch heute wieder bei TA online. Beispielsweise: Japan könne einfach die Mehrwertsteuern erhöhen, um die Staatsdefizite zu beseitigen. Nur: Steuererhöhungen haben (genau wie Sparprogramme) Nachfragewirkungen; sie könnten eine Rezession auslösen, die den Staatsfinanzen das Genick bricht. Wenn die Haushalte mehr Steuerern bezahlen müssen, haben sie auch weniger Geld, um die jährlich notwendige Dosis von Staatspapieren (immerhin rund 10% des BIP) zu kaufen (dies erinnert daran, dass Defizite und Steuern zwei Namen für dasselbe sind). Das Argument „Japan tickt anders“ klingt deshalb nach einer Variante von This Time is Different. In einem Punkt allerdings ist Japan anders: Es hat noch die grössere Last in Form einer alternden Bevölkerung zu tragen als die meisten anderen Länder.

Deshalb als provisorisches Fazit: Japan hat mit seinen Staatsschulden den „Point-of-no-return“ längst überschritten. Es ist kein auch nur halbwegs plausibles Szenario denkbar, unter dem die japanischen Staatsschulden noch lange refinanzierbar sind. Ob die Politik einen Schuldenschnitt (mit expliziter Zuordnung der Verluste) erreichen kann oder ob die Schulden monetisiert (und letztlich inflationiert) werden, ist schwer zu sagen. Real gerechnet sind japanische Staatsanleihen in beiden Fällen Hochrisikopapiere. Der Wert dieser Papiere scheint getragen vom Vertrauen, nicht in den japanischen Staat, sondern vom Vertrauen darauf, dass die anderen Anleger auch noch nicht verkaufen. Wann er zusammenbrechen wird, ist daher schwer zu prognostizieren. Das kann in fünf Jahren geschehen oder morgen. Eines aber ist bekannt: Ein an sich völlig unwesentliches Ereignis, wenn es nur genügend Signalwirkung hat, kann der Auslöser sein. Und es kann rasch gehen.

Soll das Rentenalter pensioniert werden?

Kolumne in der NZZ am Sonntag, 17. Juni 2012

Frankreichs Präsident Hollande hielt sein Wahlversprechen. Er senkte das Mindestrentenalter wieder auf 60 Jahre. Von einer vollen Rente mit 60 profitieren allerdings nur Personen mit mindestens 41 Beitragsjahren. Geringverdiener, die früh zu arbeiten begannen, sollten damit von weiteren Sparmassnahmen in der Alterssicherung verschont werden.

Ironischerweise lag François Hollande mit seiner Massnahme gar nicht weit weg von den Forderungen des Swiss Life Konzernchefs Bruno Pfister. Dieser schlug vor kurzem mindestens 45 Einzahlungsjahre in die berufliche Vorsorge vor – und wurde dafür öffentlich ausgepfiffen. Auch seine Idee war bestechend sozial: Ein Akademiker beginnt später zu arbeiten, zahlt weniger lang in AHV und PK ein, lebt am Schluss auch noch länger als ein Arbeiter und profitiert damit gerade doppelt von einem fixen Rentenalter: Kürzere Beitragsdauer, längere Rentendauer.

Der Hollande-Pfister Ansatz – Mindestbeitragsdauer statt fixes Rentenalter – sieht daher wie die perfekte Lösung einer vertrackten Ungerechtigkeit in der Alterssicherung aus. Auf den ersten Blick. Der Teufel liegt in der Umsetzung. Nicht weil es faktisch 45 Jahre braucht, bis ein solches System vollständig eingeführt ist. Nein, weil es keine eindeutige Antwort gibt auf die entscheidende Frage: Was ist überhaupt ein Beitragsjahr?

Erhält ein Beitragsjahr gutgeschrieben, wer in einem Kalenderjahr einen Mindestbeitrag einzahlt? Oder mindestens x Stunden arbeitet? Was passiert während Arbeitslosigkeit und Krankheit? Wie wird Betreuungsarbeit angerechnet? Wie verbucht man Selbständige, Künstlerinnen, international Mobile? Der Weg über ein „gerechtes“ Anrechnungssystem führt automatisch durch die administrative Hölle. Für Forscher zwar höchst interessant, für die Steuerzahler kaum.

Ich bin selber ein gutes – im Sinn der Gleichbehandlung schlechtes – Beispiel: Ein einziges Beitragsjahr fehlt mir in der AHV während mir gleichzeitig vier Jahre an die Niederländische Rentenkasse angerechnet wurden. Ein weiteres Beispiel: Einer nicht erwerbstätigen Ehefrau werden Beitragsjahre angerechnet, selbst wenn sie keine Kinder betreut. Sie kann sich eventuell eine Frühpensionierung eher leisten als eine alleinerziehende Putzfrau, die ihr Leben lang schuftete.   

Die Definition der Beitragsjahre ist zudem Manipulation und politischer Einflussnahme ausgesetzt. Wer soll denn entscheiden, was wie zählt?

François Hollandes Vorschlag zeigt dies. Als Beitragsjahr soll neu schon gelten, wenn auf 7000 Euro Einkommen Beiträge bezahlt wurden. Dies erreicht der smarte Student mit links, die Teilzeitverkäuferin im Supermarkt eventuell nicht. Auf weitere Aufweichungen der Kriterien wette ich gerne. Über eine grosszügige Anrechnung der Beitragsjahre wird die Frühpensionierung durch die Hintertüre wieder eingeführt.  Vielleicht nicht für alle, doch wenigstens für diejenigen, von denen politische Unterstützung zu erwarten ist.

Ob ich 65 bin, kann der Staat zweifelsfrei und billig überprüfen, ob ich wirklich 45 Jahre einbezahlt habe dagegen kaum. Faute de mieux bleibt das gesetzliche Rentenalter die am wenigsten schlechte Referenzgrösse. Es setzt zudem wichtige Zeichen an den Arbeitsmarkt. Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass bei Reformen die meisten älteren Arbeitnehmer bis zum neuen, höheren Rentenalter beschäftigt bleiben. Zweifellos haben es Ältere schwerer, einen passenden Arbeitsplatz zu finden als Jüngere. Doch ein Arbeitgeber wird einen 58-jährigen eher anstellen, wenn das Rentenalter 65 ist, als wenn es 60 ist und somit nur 2 Jahre bis zur Pensionierung bleiben.

Ein identisches Rentenalter für alle ist kein perfektes Kriterium. Doch die Lösung sind nicht virtuelle „Beitragsjahre“, sondern Flexibilisierungen nach unten und nach oben sowie eine Abfederung für diejenigen, die nicht weiter arbeiten können.

Steuerabzüge für Familien, die ihre Kinder selber betreuen?

Monika Bütler

Braucht es nicht. Der Verheiratetentarif sowie die Sozialversicherungen basieren bereits auf der traditionellen Vorstellung, dass eine Familie von einem einzigen Einkommen lebt. Mehr dazu im Interview mit der Neuen Luzerner Zeitung von heute.

Abgesehen davon: Wir betreuen unsere Kinder ebenfalls hauptsächlich selber: Von den wöchentlichen 168 Stunden verbringen die Buben (wenigstens in den 39 Schulwochen) rund 36 Stunden in der Schule, auf dem Schulweg oder in der Betreuung. An weiteren rund 8 Stunden die Wochen hilft uns eine Babysitterin. Es bleiben somit noch mindestens 124 Stunden Eigenbetreuung. Hätten wir Anspruch auf drei Viertel der Abzüge? Oder gar noch mehr? Schliesslich gehen auch die Kinder von traditionellen Familien zur Schule.

Man kann natürlich einwenden, dass die Kinder rund 70 Stunden pro Woche schlafen, in denen sie nicht aktiv betreut werden müssen. Doch auch in diesem Fall stünde uns in der Logik der Familieninitiative http://www.familieninitiative.ch/ noch mindestens die Hälfte der Steuerabzüge zu.

 

 

Menschenrecht auf Rendite?

Urs Birchler

Hedge-Fonds wollen Griechenland beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg einklagen, wenn es seine Schulden nicht voll zahlt. Dies berichtet Radio DRS4 heute morgen mit einem Kommentar des Berner Völkerrechtsprofessors Walter Kälin.

Es wäre einfach — und falsch — dies mit „ja, die bösen gierigen Hedgefonds“ abzutun. Das Thema Insolvenz und Menschenrechte ist nämlich komplex. Wie würden wir urteilen im Falle, wo AHV und Pensionskassen ihre Rentenverpflichtungen nicht mehr erfüllen? Haben nicht die Rentner unfreiwillig einbezahlt in einen Topf, der nach strengen Regeln verwaltet wurde? Ist es deshalb nicht ein Menschenrecht, im Alter auf diesen Sparstrumpf zurückgreifen zu können? Aber wo genau liegt der Unterschied zu den Hedge-Fonds? Ist es die Freiwilligkeit der Kreditvergabe? Haben die Hedge-Fonds die Notlage Griechenlands ausgenützt? Oder haben sie dem Lande mit zusätzlichen Krediten geholfen, als sich sonst niemand mehr getraute? Und ist Griechenland wirklich zahlungsunfähig oder bloss zahlungsunwillig?

Wenn wir den Hedge-Fonds entgegenhalten: Ihr habt doch gewusst, dass Griechenland nicht zahlen wird!, dann müssten sich diesem Vorwurf auch die kommenden Renter stellen. Es ist seit Jahren klar, dass die Rentenansprüche — auch in der Schweiz — in 20 Jahren nicht mehr erfüllbar sind. In Strassburg klagen können sie einstweilen nicht: Die Schweiz hat das Zusatzprotokoll, in welchem das Eigentum behandelt wird, (zusammen mit Russland und Andorra) nicht ratifiziert .

Verschuldung und Demographie II

Monika Bütler

Vor einiger Zeit schrieb mein Kollege Uwe Sunde einen interessanten Beitrag über die
Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Verschuldung der Staaten. Auch
wenn es momentan wohl niemanden mehr gibt, der die explodierenden Schulden
verniedlichen möchte: Es kann noch schlimmer kommen. Wenn es die Staaten nicht
rechtzeitig schaffen, die implizite Verschuldung durch die Sozialwerke in den
Griff zu bekommen.

Für interessierte Leser(innen) hier der Link auf den ursprünglichen batz Beitrag und das Grundlagenpapier von Cecchetti, Mohanty und Zampolli.