Die (vielleicht nicht so) böse Steuererklärung

Monika Bütler

Die GLP fordert, dass auch Schweizer und Schweizerinnen in den Genuss der Quellensteuer kommen sollten.(Nachtrag: Die Einführung der Quellensteuer wird im Juni 2015 auch im Kanton Basel-Stadt diskutiert). Grund des Vorschlags: Das Ausfüllen der Steuererklärung ist mühsam (ja!) und ist vor allem für Personen mit kleineren Einkommen unverhältnismässig. Das ist wohl so.

Die GLP hat sich in liberaler Manier dafür ausgesprochen, dass die Arbeitnehmer(innen) selber wählen dürfen, ob sie Quellen-besteuert werden wollen oder die Steuererklärung nach konventioneller Manier ausfüllen möchten.

Mein Bauchweh mit dem Vorschlag: Die empirische Forschung zeigt in überwältigender Weise, dass die Sichtbarkeit der Steuern („Salience“) einen Enfluss auf die Höhe des Steuersatzes hat. Einen negativen. Je sichtbarer („salient“) die Steuer, desto grösser der politische Druck, den Steuersatz tief zu halten. Denn leider sind die meisten Menschen nicht ganz rational. Wir tendieren dazu die Steuern zu unterschätzen, wenn wir sie nicht direkt bezahlen müssen.

Einige Beispiele:

a) Die Konsumsteuer: Das Verhalten der Konsumenten unterscheidet sich, je nachdem ob die Konsumsteuer im Preis inbegriffen ist oder nicht. Das Papier enthält im übrigen noch weitere hochinteressante Beispiele sowie eine Theorie der Sichtbarkeit von Steuern.

b) Strassengebühren: Werden die Gebühren elektronisch erhoben – das heisst so, dass sie die Autofahrer nicht jedes mal direkt sehen können, wenn sie eine Bezahlstation passieren – liegen die Gebühren um etwa 20-40% höher im Vergleich zu einer manuellen Bezahlung.

c) Ein besonders spannendes Beispiel ist die US amerikanische property tax (eine Art Grundsteuer, die sich am Wert des Grunstücks/Immobilie misst und die auf Gemeindeebene erhoben wird): Als sichtbarste Steuer wird sich am vehementesten bekämpft. Die Autorinnen erwähnen sogar Steuerrevolten. Dies obwohl die meisten Amerikaner viel viel mehr Einkommenssteuern als property tax bezahlen.

Nun kann man natürlich argumentieren, dass der Vorschlag auf Freiwilligkeit basiert. Doch auch hier gibt es einen Haken: Bei freier Wahl der Art der Steuererklärung dürfte die administrative Belastung für Steuerämter und vor allem für die Arbeitgeber eher steigen als sinken. Die Gefahr besteht, dass die Freiwilligkeit nur der erste Schritt zu einer obligatorischen Quellensteuer ist. Ganz verschwinden wird die Steuererklärung allerdings nie, weil familiäre Verhältnisse und Sonderabzüge (sei es nur für karitative Spenden) mit der Quellensteuer nicht abgebildet werden können.

Es gibt noch einen weiteren Grund gegen die (obligatorische oder freiwillige) Quellensteuer: Die Steuergerechtigkeit. Die Quellensteuer bevorzugt wieder einmal die Schlaueren und Informierteren, die wissen, unter welchen Umständen sich (trotz Quellensteuer) ein Ausfüllen einer Steuererklärung lohnt. Die Daten aus den USA zeigen, dass gerade die weniger gut gebildeten und fremdsprachigen sich scheuen, eine Steuererklärung auszufüllen, auch wenn sie mit Rückzahlungen rechnen dürften. Insofern lohnen sich vielleicht sogar die geringen Investitionen ins Steuererklärungsausfüllen in der Jugend in der Schweiz.

Fazit: Ein geringerer Druck, die Steuern tief zu halten, müsste eigentlich die Linke freuen (und nicht die GLP). Die administrativen Vereinfachungen für den einzelnen sind klein, für die Steueradministration und die Arbeitgeber dürfte es nicht einfacher werden. Und zu guter letzt hilft ein bischen Steuerformularfitness auch der Steuergerechtigkeit. Gescheiter wäre es im übrigen, die Steuererklärung für alle zu vereinfachen.

PS: Ich habe 4 Jahre lang Steuern in den Niederlanden bezahlt, Quellensteuern. Da ich damals Öffentliche Finanzen unterrichtete, füllte ich sozusagen im Selbstversuch dennoch die Steuererklärung aus. Und habe jedes Jahr einen stolzen Betrag zruück erhalten, obwohl ich als Single und nahe bei der Uni wohnend kaum Abzüge machen konnte.

Büchsenravioli

Monika Bütler und Urs Birchler

Wir sind beide in kulinarisch eher bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Kochen war – um es einmal vorsichtig auszudrücken – nicht die Stärke unserer Mütter. Suppen aus dem Beutel (machte man damals so), keine Auswahl, kaum Abwechslung (immer der gleiche Wochenplan), nie Restaurants (schon gar keine im Ausland, da waren wir ohnehin nie (Monika) oder nur auf dem italienischen Zeltplatz (Urs)). Etwas Kompensation brachte, dass alle Gemüse, Früchte und Eier bei Monikas Familie aus eigenem Anbau stammten. Doch „biologisch“ macht die nach 30 Minuten aus dem Wasser gezogenen Kohlrabi auch nicht viel schmackhafter. Kein Wunder hatten wir eine Lieblingsspeise gemeinsam: Büchsenravioli.

Ganz anders unsere Söhne. Sie essen – meist mit Vergnügen – nicht nur die uns damals unbekannten Auberginen, Artischocken und Rucola, sondern auch Barba dei Frati, Trevisano und wie die südlichen Gemüsearten alle heissen. Die Buben kennen nicht nur mehr Tiere aus der freien Natur, sondern auch auf dem Teller (so zum Beispiel Meerschweinchen in Peru). Die Japanische und Thailändische Küche ist ihnen genau so bekannt wie die Schweizerische. Wir gehen zwar in Zürich fast nie ins Restaurant, auf unseren Reisen dafür umso mehr. Und zu guter Letzt bilden wir uns Eltern ein, dass wir einigermassen kochen können. Mindestens tun wir dies oft, gerne und mit frischen Zutaten (teilweise wieder aus eigenem Anbau).

Und dann dies: Als wir uns kürzlich wieder in einer Nostalgiephase an die Büchsenravioli erinnerten, entschieden wir uns, einen Test zu machen. Das Urteil der Söhne war vernichtend: Megafein.

Die obligaten „Learnings“ aus der Geschichte: Vielleicht sind unsere Kochkünste doch bescheidener als wir dachten. Oder – für uns etwas vorteilhafter – die kulinarische Beeinflussbarkeit der Kinder durch die Eltern ist bescheidener als wir dachten. Wir werden uns entsprechend mit Büchsen ausrüsten. Als Notvorrat getarnt.

Vor lauter Krippengezänk den Kindergarten vergessen

Monika Bütler

Meine zweitletzte NZZaS Kolumne, publiziert am 16. Juni 2013 unter dem Titel „Es stimmt etwas nicht mit der Betreuung unserer Kinder: Warum braucht eine Kinderkrippe viel mehr Personal als ein Kindergarten?“.

Schweizer Kinder machen zwischen vier und fünf Jahren einen phänomenalen Entwicklungssprung. Beim Eintritt in den Kindergarten brauchen sie nämlich viel weniger Betreuung als noch Wochen zuvor in der Krippe (oder KiTa, wie man heute sagen muss). In Zahlen: In der Krippe ist auf circa fünf Kinder eine Betreuerin vorgeschrieben. Im Kindergarten genügt eine Person auf 20 Kinder.

Der wirkliche Grund ist freilich weniger spektakulär. Während in den Kindergärten die kantonalen Bildungsdepartemente die Klassengrössen festlegen, werden für die Krippen meist die Empfehlungen des privaten Verbands KiTaS als verbindlich erklärt und durchgesetzt. Dieser hat in mehreren Kantonen auch bei der Ausarbeitung der Gesetzgebung mitgeholfen, sowie die Ausbildung zur Fachperson Kinderbetreuung mitentwickelt.

Nein, dies ist kein KiTaS-Bashing. Der Staat profitiert – und zwar freiwillig – vom Fachwissen privater Institutionen. Auch steht KiTaS mit seinen halbstaatlichen Aufgaben nicht alleine da. Die Richtlinien der ebenfalls privaten Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe Skos etwa gelten fast überall; an ihnen orientieren sich sogar die Gerichte. Branchenverbände unterschiedlichster Couleur beeinflussen die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik des Landes.

Die Verflechtung von privaten Organisationen und dem politisch-administrativen System ist jedoch nicht unproblematisch. Erstens versuchen private Gruppen mit ihrem Wissensvorsprung, Marktprozesse zu ihren Gunsten zu regulieren. Als faktische Gesetzgeber machen sie der Politik Vorgaben, von denen sie direkt oder indirekt wieder profitieren. Kein Wunder gehen Regulierungsdichte und Ausbildungsanforderungen nur in eine Richtung: nach oben.

Zweitens drückt sich die Regierung durch die Übernahme privater Erlasse vor der Verantwortung. Mit Konsequenzen, die via Subventionen weit in die Finanzpolitik reichen. Die so ausgelagerten Entscheidungen entziehen sich oft der demokratischen Kontrolle.

Drittens verschleiern zahlreiche Outsourcings die wahre Regulierungsdichte im Lande. Wir Schweizer rühmen uns gerne eines schlanken Staates. Zählten wir alle externen marktbeschränkenden Regulierer zur zentralen Bürokratie, wäre unser Regulierungsapparat vielleicht gar nicht so viel kleiner wie der vielgescholtene Wasserkopf in Brüssel.

Nicht dass es in all den genannten Bereichen keine Regeln bräuchte. Zweifelhaft ist nur, ob die von privaten Verbänden ausgearbeiteten Richtlinien wirklich zu einem halbwegs optimalen Ergebnis führen. In der Kinderbetreuung haben wir – als seltenen Glücksfall – eine Vergleichsgrösse: Neben den privat regulierten Krippen gibt es mit den Kindergärten ähnliche, aber staatlich organisierte Institutionen. 

Und hier lässt das viermal höhere KiTa-Betreuungsverhältnis nur einen Schluss zu: Etwas stimmt hier nicht. Denn: Müsste die Grosszügigkeit in der Betreuung nicht eher umgekehrt sein? Immerhin ist der Kindergarten die erste Stufe unseres Bildungssystems, von welcher wirklich alle Kinder profitieren. Und von der wir, spätestens seit den Arbeiten des Nobelpreisträgers James Heckman, wissen, dass sie gerade für sozial benachteiligte Kinder die wichtigste ist. 

Die KiTas-Richtlinien umfassen ja nur den nicht-obligatorischen Bereich der Bildung, könnten man einwenden. Doch gerade dieser Bereich absorbiert viel politische Energie und enorme Steuermittel (weil eben die Regeln so streng sind). Viele benachteiligte Kinder kommen nie in den Genuss dieser Mittel. Sei es nur, weil deren Eltern nicht wissen, wie sie an einen subventionierten Krippenplatz kommen.

Traurig. Der Streit um die Finanzierung der personell so grosszügig zwangs-ausgestatteten Krippen lenkt ab von einer gesellschaftlich viel relevanteren Ausbildungslücke im Kindergarten. Auf den wundersamen spontanen Entwicklungssprung unserer vierjährigen Kinder warten wir nämlich vergeblich.

Einkommensverteilung und Lebenszyklus

Monika Bütler

(meine 3.-letzte NZZ am Sonntag Kolumne: publiziert am 19. Mai 2013 unter dem Titel „Bildung bringt nicht mehr Lohngleichheit“)

Ich bin eidgenössische Durchschnitts-Verdienerin. Zugegeben: nicht heute, aber über die ganze Berufslaufbahn gerechnet. Ich habe in den letzten 30 Jahren ziemlich genau den schweizerischen Durchschnittlohn verdient. Dies ohne statistische Tricks: Meine früheren Löhne sind sauber hochgerechnet auf heutige Löhne. Trotzdem lag mein Einkommen während eines Drittels meines Arbeitslebens unter oder nahe der Armutsgrenze. Es ging mir natürlich auch in jenen „armen“ Zeiten gut –  in jungen Jahren dank dem Zustupf der Eltern; später half der Griff in den Sparstrumpf über die kargen Zeiten.

Bestünde die Schweiz nur aus verschiedenen Jahrgängen meiner selbst, betrüge der Gini-Koeffizient ungefähr 0,46. Der Gini ist ein Mass für die Ungleichheit zwischen null (alle verdienen gleich viel) und eins (einer kriegt alles). Mein „Lebens-Gini“ entspricht damit ungefähr dem der Einkommensverteilung in den USA; die Schweiz ist mit gut 0,3 deutlich ausgeglichener. Am Rande bemerkt: Würde ich heute als Chefin meine früheren Kopien anstellen, käme ich sogar in die Nähe von 1:12. Mehr als heute dürfte ich dann aber nicht mehr verdienen.

Glücklicherweise besteht die Schweiz nicht nur aus Jahrgangs-Klonen meiner selbst. Das Gedankenexperiment illustriert aber klar: Der punktuelle Blick auf die Einkommens- und Vermögensverteilung wird der Wirklichkeit oft nicht gerecht. Mein Einkommensprofil ist zwar nicht repräsentativ, aber auch nicht so aussergewöhnlich. Denn zu jedem Zeitpunkt leben in einem Land Menschen in den unterschiedlichsten Phasen im Lebenszyklus. Auch eine reiche Frau wird zwangsläufig manchmal in ihrer „Armutsphase“ registriert – sei es nur wegen eines Zweitstudiums oder einer umgebauten Küche.

Politische Vorstösse zur Einkommensverteilung haben Hochkonjunktur. Die Einkommensschere hat sich geöffnet, wenn auch moderat und nicht stärker als in den 1970er Jahren. Zudem ist für viele die fehlende Bodenhaftung einiger Spitzenverdiener das grössere Ärgernis als die Lohnschere an sich. Gerade deswegen ist es wichtig, die Rolle des Lebenszyklus in der Einkommensverteilung nicht zu vergessen. Die gemessene Ungleichheit kann nämlich ohne grundlegende Änderung im Lohngefüge zunehmen. Dies über drei Kanäle: Ausbildung, Berufstätigkeit der Frauen, Alterung der Gesellschaft.

Frauen: Früher zogen sich Mütter aus dem Arbeitsleben zurück, heute bleiben viele berufstätig – vor allem solche mit tiefen Löhnen (weil sie arbeiten müssen und die Kinderbetreuung subventioniert erhalten) und solche mit hohen Löhnen. Mütter aus dem Mittelstand hingegen werden mit einem absurden Subventions- und Steuerregime aus dem Arbeitsmarkt geekelt. Dazu kommt, dass sich das Bildungsniveau der Ehepartner immer mehr annähert; gleich und gleich gesellt sich heute lieber als früher. Beides zusammen führt im Quervergleich zu mehr gemessener Ungleichheit.

Demographie: Abschlussklassen einer Ausbildung ähneln sich alle; mit jedem Klassentreffen aber werden die Unterschiede innerhalb der Klasse grösser. Je mehr Menschen im fortgeschrittenen Alter es in einem Land gibt, desto grösser fallen auch die Einkommensunterschiede aus, ohne dass sich – ausser der Demographie – etwas ändert.

Ausbildung: Eine berufliche Weiterbildung oder eine akademische Laufbahn vergrössert die Einkommensunterschiede über den Lebenszyklus automatisch. Wie in meinem Fall: In jungen Jahren sind die Einkommen wegen Studium und Praktika gering, später schlagen sich die Ausbildungsinvestitionen (hoffentlich) in höheren Löhnen nieder.

Ironie der Politik: Gerade die Investitionen in die Bildung eint rechte und linke Kreise im Bestreben nach mehr Wohlstand. Mehr Gleichheit sollten sie dabei nicht erwarten: Bildungsinvestitionen mögen die gefühlte Ungleichheit verringern. Die gemessenen Einkommensunterschiede in der Volkswirtschaft verkleinern sie dagegen kaum.

 

 

Die Tücken der Jugendarbeitslosigkeit

Monika Bütler

Wer kennt sie nicht, die alarmierenden Zahlen – vor allem aus den südlichen Ländern: Über 50% Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Griechenland, 30-40% in den anderen PIIGS Ländern Portugal, Italien und Irland. Doch was heisst das genau? Sechs namhafte Wissenschaftler sind der Frage nachgegangen (Giuseppe Bertola, John Driffill, Harold James, Hans-Werner Sinn, Jan-Egbert Sturm und Akos Valentinyi). Ihre spannenden Resultate finden sich im EEAG Report on the European Economy (chapter 3: auch online erhältlich).

50% Jugendarbeitslosigkeit heisst eben gerade nicht, dass jeder zweite Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos ist. Die Arbeitslosigkeit wird nämlich gemessen als Anteil der Erwerbslosen an der Erwerbsbevölkerung in einer Altersklasse. Zwischen 15 und 24 Jahren befinden sich die meisten jungen Menschen noch in der Schule, im Studium oder sonst in einer Ausbildung, sie gehören somit nicht zur Erwerbsbevölkerung. Die klassisch gemessene Arbeitslosenquote überschätzt das Problem, da nur eine Minderheit der Jugendlichen (und meist erst noch diejenigen mit schlechter Ausbildung) überhaupt zur Erwerbsbevölkerung gehört.  

Ein einfaches Zahlenbeispiel illustriert dies schön: Nehmen wir an, dass sich zwei Drittel der 15-24 jährigen in Ausbildung befinden (dies entspricht ungefähr den realen Verhältnissen). Somit gehört höchstens ein Drittel der Jungen überhaupt zur Erwerbsbevölkerung. Ist nun die Hälfte von ihnen ohne Arbeit, so beträgt die statistisch gemessene Arbeitslosigkeit 50%. Dies obwohl „nur“ ein Sechstel der Jugendlichen insgesamt betroffen ist.

Setzt man die Anzahl der jungen Arbeitslosen in Relation zur Gesamtbevölkerung im gleichen Alter (es dürften ja fast alle prinzipiell erwerbsfähig sein), so erhält man für alle Länder deutlich tiefere Zahlen. Zwar ist immer noch jeder fünfte junge Spanier und jeder sechste Grieche arbeitslos, aber der Unterschied zu „mehr als die Hälfte“ ist offensichtlich gross. Bei den Italienern ist jeder 10 Jugendliche ohne Arbeit oder Ausbildung, bei den Deutschen nur einer in 25.

Etwas anderes fällt bei der Lektüre des Reports auf. Die europäischen Länder haben die (vermeintlichen) Boom-Jahre vor der Finanzkrise nicht genutzt, um das Problem der Jugendarbeitslosigkeit anzugehen. Auch in „guten“ Zeiten lag die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland und Italien bei rund 25%, in Spanien und Portugal bei rund 20%.

Fazit: Die traditionell gemessenen Arbeitslosenquoten lassen das Problem Jugendarbeitslosigkeit viel schlimmer aussehen als es wirklich ist. Das heisst nicht, dass die betroffenen Länder nicht etwas unternehmen sollten – im Gegenteil. Auch 20% Jugendliche ohne Arbeit sind viel zu viele. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit schon vor der Krise zeigt, dass das Probleme wahrscheinlich in den völlig verkrusteten Arbeitsmärkten liegt. Am Elend der Jungen der in den südeuropäischen Staaten sind nicht primär die Finanzkrise und schon gar nicht die geizigen Nordeuropäer „schuld“

Familienartikel: Umbau der antiquierten Schulstruktur!

Monika Bütler

Publiziert in der NZZaS vom 24. Februar unter dem Titel „Die Schulstruktur muss in jedem Fall umgebaut werden. Es braucht bessere Möglichkeiten, um Beruf und Familie zu verbinden.“

Beruf und Familie sind noch immer noch schwer zu verbinden. Die externe Kinderbetreuung ist überreguliert und sündhaft teuer; verbilligte Plätze sind rar und werden intransparent zugeteilt. Wer beim Eintritt der Kinder in den Kindergarten denkt, das Gröbste hinter sich zu haben, erwacht böse. Als wohl einziges Land der westlichen Welt kennt die Schweiz kaum Tagesschulen, die den Namen verdienen. Das Angebot besteht vielmehr aus einem grotesk zersplitterten Mix aus Schule, Hort und Mittagstisch. Unsere gestylten Schulhäuser sind zu schade, um als Verpflegungs- oder Betreuungsstätten entweiht zu werden. Dazu kommen krasse Ungerechtigkeiten: Die Urnerin, die zur Aufbesserung des kargen Bergbauernbudgets extern arbeitet, bezahlt den vollen Krippentarif (112 Franken pro Kind und Tag), die sich selbst verwirklichende, nicht arbeitstätige Zürcher Akademikerin nur einen Bruchteil.

Zeit, dass endlich etwas geschieht. Doch was?

Drehbuch A: Die Schweiz krempelt ihr Schulsystem um und geht über zu einem flächendeckenden Angebot an Tagesschulen für Kinder ab circa 4 Jahren. Blockzeiten, beispielsweise von 9–15 Uhr inklusive kurzer Mittagszeit; eine betreute (freiwillige) Aufgabenstunde am Nachmittag; je nach Schulstufe ein bis zwei freie Nachmittage um den Eltern Wahlmöglichkeiten zu bieten. Abgerundet durch eine kostenpflichtige Randstundenbetreuung (im Schulhaus!) wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu geringen Kosten stark verbessert. Damit auch Mütter mit tiefen Löhnen ihre Berufsfähigkeit erhalten können, wird das Steuersystem angepasst und durch Betreuungsgutscheine (wie in Luzern) ergänzt. Alle Vorschläge sind übrigens in der Praxis erprobt und für gut befunden.

Drehbuch B: Sogenannte Bedarfsanalysen decken Lücken bei Hort und Krippe im bestehenden System auf. Je höher der ausgewiesene Bedarf, desto mehr sorgen staatliche Ämter für angemessene Qualität: vier Quadratmeter pro Kind im Hort und am Mittagstisch – ausserhalb des Schulareals, nota bene; frisch gekochtes Essen zur Überbrückung der viel zu langen Mittagszeit; Rücksicht auf die Heterogenität der Schüler (vegetarisch, schweinefrei, laktosefrei, ponyfrei), Betreuungspersonal mit akademischem Abschluss. Selbstverständlich ist dieser Bedarf mit normalen Löhnen nicht zu finanzieren. Hinzu kommen daher einkommensabhängige Subventionen, welche dann wiederum eine mehr als symbolische Berufstätigkeit für viele Mütter zum unerschwinglichen Luxus machen.

Die hohen Kosten rufen die andere Seite auf den Plan: Mit einem gewissen Recht fordern diejenigen, die ihre Kinder selber betreuen oder sich mit Grosseltern und Kinderfrau helfen, ebenfalls Unterstützung. Schliesslich ist nicht einzusehen, weshalb die Grossmutter mit der knappen Rente nicht auch entlohnt werden soll. Am Schluss bezahlen alle sehr viel höhere Steuern, die sie teilweise in Form von Subventionen und Herd- und Hüteprämien wieder zurückerhalten. Nur: Je mehr eine Mutter arbeitet, desto schlechter der Deal.

Die Leser(-innen) die hier eine Abstimmungsempfehlung für den Familienartikel erwarten muss ich enttäuschen: Es handelt sich hier um eine vorgezogene Abstimmungsanalyse. Nicht jedes NEIN wird von hinterwäldlerischen Ewiggestrigen oder egoistischen Singles stammen. Viele Gegner fürchten, dass ein überholtes Schulsystem künstlich am Leben erhalten wird, wenn der „Bedarf“ an Betreuungsplätzen innerhalb eines nicht mehr zeitgemässen Systems gemessen wird. Umgekehrt wird nicht jedes JA von subventions-maximierenden Etatisten kommen. Viele Befürworter erhoffen sich, dass das Schulsystem endlich keine Eltern mehr daran hindert, ihre beruflichen Fähigkeiten nach eigenem Gutdünken einzusetzen.

Wie die Abstimmung auch ausgehen mag: Es ist Zeit, dass etwas geschieht. Dazu braucht es das richtige Drehbuch. Gefragt sind Ideen und Mut zur Veränderung, nicht Geld.

 

Ziellos wandern

Monika Bütler

(publiziert in der Handelszeitung vom 20.12.2012, unter dem etwas krassen Titel „Migration: Gefährliches Spiel im Bunkerstaat“)

Mein älterer Sohn begleitete mich letztes Jahr nach Sydney. Er besuchte dort die gleiche Schule, an der er vier Jahre zuvor eingeschult wurde. Seither erhält er regelmässig elektronische Post aus Australien: „Dear Peter, Australia needs your skills…“ In den Newsletters wird er über die neuesten Entwicklungen an der Einwanderungsfront informiert und eingeladen, sich eine Emigration ernsthaft zu überlegen. Peter ist zwar erst in der fünften Klasse, er erfüllt aber – jung und in Ausbildung – offensichtlich die wichtigsten Kriterien für ein Arbeitsvisum – im Gegensatz zu seiner Mutter, die bereits an der Altersgrenze scheitert.

Mit Peters erstem Newsletter erreichte mich eine Anfrage meiner Uni: „Bitte teilen Sie uns mit, ob Sie neben der schweizerischen auch noch eine ausländische Staatsbürgerschaft besassen oder aktuell besitzen.“ Hintergrund des Schreibens: Die Internationalität der Faculty ist eine wichtige Einflussgrösse für die Platzierung einer Universität in den Rankings. Zerknirscht musste ich eingestehen, dass ich das Ranking belaste. Ich lebte zwar fünf Jahre im Ausland, aus meiner Familie stammen zahlreiche Auswanderer in die ganze Welt – sogar eine Kolumbien (Wunder) wirkende und später heiliggesprochene Nonne. Dennoch finden sich nicht einmal Spuren ausserhelvetischer Gene; sogar die Katze ist einheimisch. Meine Kinder beklagen sich schon, weil sie keinen spannenden Background haben, nun tut dies auch meine eigene Universität.

Das aktive Werben um hochqualifizierte Einwanderer wie in Australien wäre in der Schweiz unvorstellbar. Einwanderer verursachen zuerst einmal Probleme. In Australien unvorstellbar wäre hingegen, dass sich Australier für ihren Pass rechtfertigen oder sich die Kinder dafür schämen müssen. Man ist stolz, Australier(in) zu sein.

Die Situation ist paradox: Wie Australien hat die Schweiz ihren Wohlstand nicht zuletzt den unternehmerischen Einwanderern zu verdanken. Es gelingt unserem Land vorbildlich, selbst die Kinder wenig gebildeter Einwanderer zu integrieren. Nur noch Kanada hat eine höhere Erfolgsquote, dies mit Einwanderungsregeln, die Qualifizierte bevorzugen. Die Schweiz ist zudem ein äussert erfolgreiches Auswandererland; viele Spitzenköche, Hoteldirektoren, Spitzenmanager und Professoren stammen aus der Schweiz. Eigentlich müssten die Eidgenossen stolz auf diese Erfolgsgeschichte sein. Doch weit gefehlt: Die Ausländer stören, die Schweizer ebenfalls. Ein ausländischer Pass ist ein attraktives Accessoire; fürs Ranking bei den Universitäten, für die Diversity bei den Firmen, um auf dem Pausenplatz nicht als bünzlige Schweizerin zu gelten.

Passend dazu geht die öffentliche Diskussion oft völlig an der Realität vorbei. Erstes Beispiel: Wir hätten momentan eine aussergewöhnliche Masseneinwanderung, bildlich dargestellt durch eine jährlich einwandernde Stadt St. Gallen. (Warum wohl ausgerechnet St. Gallen für diesen Vergleich herhalten muss?) Dabei wanderten in den 60-er und 70-er Jahren jährlich sogar zwei St. Gallen ein. Und brachten der Schweiz nicht nur Wohlstand, sondern auch etwas Italianità und – wer wollte es heute bestreiten – besseres Essen.

Zweites Beispiel: Die Personenfreizügigkeit (PFZ) mit der EU sei die Quelle allen Übels, schuld an der Kriminalität, der Belastung der Sozialwerke, den Integrationsproblemen in den Schulen, der räumlichen Enge. Doch die widerlichen Drogenhändler im Zürcher Kreis 4, wegen der wir unsere Kinder noch immer in die Musikschule begleiten müssen, stammen offensichtlich nicht auf den PFZ Ländern. Die herumlungernden Halbwüchsigen im St. Galler Bahnhof ebenfalls nicht. Kaum einer der in der Presse präsentierten Sozialhilfebetrüger ist aus einer PFZ Region. Und die PFZ Kinder integrieren sich genau so gut wie die Schweizer Auswanderkinder im Ausland. Bei genauerem Hinsehen sind die EU Ausländer nicht einmal schuld an den hohen Mietpreisen und den überfüllten Zügen. Die Hauptreiber sind die Schweizer selber, die sich – unter tatkräftiger Mithilfe der Tiefzinspolitik – mehr Wohnraum (und wenn man böse sein wollte: mehr Scheidungen) leisten können.

Drittes Beispiel: Der Glaube, dass es uns ohne Ausländer genauso gut ginge – einfach ohne Ausländer. Es ginge uns eben kaum so gut. Und dies nicht nur wegen den Ärztinnen, Ingenieuren und Putzfrauen, die an allen Ecken und Enden fehlen. Wie bei Güterexporten bringt der Austausch von Fähigkeiten und der Wettbewerb der Talente mehr Produktivität. Wettbewerb stört zwar die Gemütlichkeit. Doch ohne Ausländer gäbe es viele der Arbeitsplätze, die uns die Ausländer angeblich streitig machen, gar nicht. Mit der Gemütlichkeit ist es schnell vorbei, wenn die Mittel dafür fehlen.

Einige Ausländer stören tatsächlich. Die schweizerische Migrations- und Asylpolitik ist nämlich genauso schräg wie die öffentliche Diskussion. Doppelt so viele Nicht-Europäer kommen zu einer Aufenthaltsbewilligung via Asyl als via reguläres Arbeitsvisum. Eines der bedeutendsten Ein- und Auswandererländer der Welt empfängt ausgerechnet die Hochqualifizierten mit der Migrationspolitik eines unattraktiven und verschlossenen Bunkerstaates. Und bestätigt dabei genau das Bild, welches den Schweizern im Ausland oft präsentiert wird und das unser Selbstbild prägt.

Höchste Zeit, selbstbewusster und optimistischer aufzutreten. Eine vernünftige Migrationspolitik sorgt dafür, dass wir nicht so werden wie es in der Anfrage der Handelszeitung für diesen Artikel so schön hiess: verwöhnt, verunsichert und international verlassen.

Sind Professor(inn)en Mimosen?

Monika Bütler

Kolumne in der NZZ am Sonntag, 4. November (veröffentlicht unter dem Titel: Professoren wollen nicht mehr an die Öffentlichkeit; Angst vor Anfeindungen, Forschungsdruck – Rückzug in den Elfenbeinturm ist schlecht)

 Warum machst Du das bloss?», fragten mich zwei Kolleginnen kürzlich anlässlich einer Konferenz. Dabei mache ich gar nichts Unanständiges. Ich hatte nur erzählt, dass wir – eine Gruppe von Volkswirtschaftsprofessoren an den Universitäten Zürich, Lausanne und St. Gallen – einen Blog betreiben; ein Online-Forum zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen, das ab und zu auch für Aufregung sorgt. Etwa wenn der Chef einer Grossbank selber einen Kommentar auf dem Blog hinterlässt. Oder wenn Beiträge von der Presse aufgenommen werden – freundlich oder weniger freundlich.

Die mögliche Aufregung fanden meine Kolleginnen fast schon bedrohlich. Zwar sind beide keine stereotypen Modellschreinerinnen im Elfenbeinturm, sondern international beachtete Forscherinnen mit relevanten Themen. Zum Beispiel: Wie reagieren Individuen auf aktive Arbeitsmarktmassnahmen? Führt eine Erhöhung des Rentenalters zu mehr Arbeitslosigkeit? Wie unterscheidet sich die Sozialhilfeabhängigkeit zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen? Themen, die auch die Allgemeinheit interessieren. Gleichwohl ist ihnen Öffentlichkeitsarbeit nicht geheuer.

Warum die Zurückhaltung? Zum einen frisst Öffentlichkeitsarbeit der Forschung wertvolle Zeit weg. Sie kostet sogenannten Impact, das heisst Zitate in vielzitierten Publikationen – die Einheitswährung im Forschungsbetrieb. Da ist privates Schreiben und öffentliches Schweigen Gold. Allgemein verständliche Aufsätze zu schreiben oder mit den Medien zu reden, ist bestenfalls Blei. Dieses zieht nach unten: Jede Minute verlorene Forschungszeit rächt sich: weniger Forschungsgelder, tieferes Ansehen, noch weniger Forschungszeit, usw. Attraktiv bleibt die Öffentlichkeitsarbeit für jene, die in der Forschung nichts zu verlieren haben – nicht immer die besten Ratgeber des Volkes.

Die öffentliche Sprechhemmung vieler Kollegen liegt, zum andern, auch an der Angst vor Anfeindungen und Angriffen. Besonders ausgeprägt ist dies in Disziplinen, in denen sich wissenschaftliche Inhalte nicht so leicht von politischer Meinung unterscheiden lassen. In den Sozialwissenschaften riecht – anders als in den meisten Naturwissenschaften – ein Forschungsergebnis oft gleich nach Politik. Jede(r) ist Experte für das Rentenalter oder die Sozialhilfeabhängigkeit. So löst schon das Wort «Anreiz» gereizte Reaktionen aus. Immer.

Sind Forscher Mimosen? Zur Wissenschafts- und Meinungsäusserungsfreiheit gehört nämlich auch die Bereitschaft, Kritik – selbst unfaire – zu ertragen. Obschon noch immer davon überzeugt, kamen mir in den letzten Monaten Zweifel. Medienschelte ist das eine; sie zeigt immerhin, dass man gelesen wird. Was aber, wenn Forscher für ihre Aussagen nicht bloss kritisiert, sondern auch rechtlich zur Verantwortung gezogen werden? So wie kürzlich die Seismologen in Italien. Oder wenn unter tatkräftiger Mithilfe aus den Universitäten vertrauliche Interna in den Medien breit getreten werden. Nicht aufzufallen, ist immer noch der beste Schutz.

Traurige Ironie: Dank einer grösseren Forschungsorientierung sind die Schweizer Universitäten in den letzten Jahren qualitativ viel besser geworden; gleichzeitig verbreiteten sich die Gräben zwischen Akademie und Öffentlichkeit. Ausgerechnet in einer Zeit, in der wir am meisten von der Forschung lernen könnten, schweigen viele Wissenschafter. Und jeder Angriff ist – je nach Standpunkt – guter Grund oder billiger Vorwand für ein weiteres Stockwerk im Elfenbeinturm.

Es liegt an allen Seiten, den Dialog lebendig zu erhalten und Gräben zu überbrücken. Professoren sollten ihr Wissen der Öffentlichkeit zugänglich machen können, bevor diese fragt: «Was machen die bloss?» Die Professoren, die sich die Mühe machen, mit der interessierten Öffentlichkeit zu reden, sollten sich anderseits nicht ständig fragen müssen: «Warum mache ich dies bloss?»

Achtung Professoren: Die Weltwoche warnt

Die Anfrage der Weltwoche klang harmlos. „Für einen kommenden Artikel über die Universitätslandschaft in der Schweiz suchen wir nach Portraits von Professoren. Im Falle der HSG wären das Professor Manfred Gärtner & Professor Rolf Wüstenhagen.“ Mehr dazu stand in der email Anfrage nicht. Unsere Pressestelle war besorgt.

Zu Unrecht. Was da in Philipp Guts Warnung vor Schweizer Professoren steht, ist teilweise falsch, vor allem aber belanglos und oberflächlich. Genauso harmlos wie die Anfrage eben.

Das fängt schon bei der Auswahl der Professoren an, vor denen gewarnt werden muss. Es sind die usual suspects der Weltwoche, unter anderem Andreas Fischlin (Systemökologie/Klima ETHZ), Philipp Sarasin (Geschichte UZH), Andrea Maihofer (Gender Forschung, Uni Basel), Kurt Imhof (Soziologie, UZH). Neue, nicht schon x-fach wiederholte Informationen zu diesen Personen und zu ihren furchterregenden Forschungsgebieten fanden sich im Artikel jedenfalls keine. Die Anzahl gefährlicher Professoren scheint auf jeden Fall ziemlich klein zu sein.

An der HSG lokalisierte Philipp Gut genau zwei der Professoren (Manfred Gärtner und Rolf Wüstenhagen), die schon früher in lokalen Medien politisch angegriffen wurden.  So nach dem Motto: Die Wissenschaft solle sich nicht in die Politik einmischen. Wenn es Grund zur Besorgnis gegeben hätte, dann wäre es dieser Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit gewesen. Ich kann mich auf jeden Fall nicht erinnern, dass in St.Gallen je von linker Seite gegen einzelne HSG Professoren Stimmung gemacht wurde.

Ich teile, wie andere HSG Kolleg(inn)en, längst nicht alle Meinungen von Manfred Gärtner und Rolf Wüstenhagen. Doch die Ökonomie ist keine genaue Wissenschaft und man kann – wissenschaftlich fundiert – zu unterschiedlichen Schlüssen gelangen. Letztlich ist es der wissenschaftliche Diskurs, welcher die Forschung und dadurch auch deren wirtschaftspolitische Anwendung weiterbringt.  Dazu tragen meine beiden Kollegen bei – zum Glück. Wären denn der Weltwoche weltfremde Modellschreiner im Elfenbeinturm lieber?

Philipp Guts Analyse zur makroökonomischen Lehre an der HSG ist zudem nachweislich falsch. Er schreibt: Dieses weitverbreitete Gedankengut (MB: gemeint ist der Keynesianismus) wäre auszuhalten, wenn es innerhalb der HSG ein Gegengewicht zu Gärtner gäbe. Das ist nicht der Fall“. Wie bitte? Hat Gut denn überhaupt meine anderen Kollegen und ihre Forschung angeschaut. Wer die Debatte nach der Finanzkrise auch nur halbwegs verfolgt hat, muss zum Schluss kommen, dass der Autor die letzten fünf Jahre im Tiefschlaf verbracht haben muss. Wenn der HSG von verschiedenen Seiten etwas vorgeworfen wurde, dann dass sie sich dem neoliberalen Gedankengut verpflichtet fühlte und die Finanzkrise durch die unkritische Ausbildung ihrer Studenten mitverursachte.

Zum Schluss gibt Gut noch ein bisschen Entwarnung, indem er den Studenten ein Kränzchen windet. Er schreibt: „Bildet die HSG also seit Gärtners Stellenantritt 1986 nur noch Unternehmer und Ökonomen aus, die von höheren Staatsschulden träumen und die Finanzmärkte als Problem betrachten? So schlimm steht es nicht: Unter Absolventen mit Finance-Hintergrund kursierten nach Gärtners Veröffentlichungen E-Mails mit dem Betreff: «Wer stoppt Manfred Gärtner?» „ Na also. Wenn Philipp Gut noch ein wenig mehr recherchiert hätte und ein bisschen über den Tellerrand geblickt hätte, wäre ihm eventuell etwas Entscheidendes aufgefallen: Die Forschung ist sich nämlich in einer Frage einig: Studenten lassen sich von ihren Professoren ideologisch gar nicht beeinflussen.

 

Das unsägliche Drehen an der Geschlechterschraube

Monika Bütler

Publiziert in der NZZ am Sonntag, 9. September 2012 (unter dem Titel: „Mädchen und Knaben sind mit der gleichen Elle zu messen“)

„Warum muss Blake gleich weit rennen wie Bolt; er ist doch kleiner?“, fragte unser Jüngster nach dem Olympia-Sprint. Als Erfinder der individualisierten Leistungsmessung darf er sich dennoch nicht fühlen. Der Kanton Waadt war ihm schon zuvorgekommen: Lange Zeit galten im Kanton von Liberté et Patrie (statt Egalité) für Mädchen strengere Eintrittsbedingungen in die Sekundarschule als für Knaben. Sonst hätten zu viele Mädchen bestanden. Erst 1982 stoppte das Bundesgericht auf Klagen der Eltern (und beflügelt durch den neu eingeführten Gleichstellungsartikel) diesen Unsinn.

Nun greift die Universität Wien in die Mottenkiste und wendet das umgekehrte Verfahren an. Weil in den letzten Jahren ein höherer Prozentsatz der Männer die Hürde des Eignungstests für das Medizinstudium meisterte, genügte den weiblichen Bewerbern heuer eine tiefere Punktezahl. Die Frauen seien offensichtlich durch den Test benachteiligt, gaben angewandte Psychometriker zu bedenken.

„Gleichberechtigung auf österreichisch“ spottete die Financial Times Deutschland. Doch Häme allein ist fehl am Platz. Auch in andern Fächern und Universitäten zerbrechen sich die Verantwortlichen die Köpfe, weshalb junge Frauen in den Zulassungsprüfungen und den Prüfungen im ersten Studienjahr häufiger scheitern. Es scheint, dass die Prüfungen ungewollt diskriminieren.

Tun sie dies wirklich? Könnte es nicht auch sein, dass die „Diskriminierung“ der Frauen in den Prüfungen beim Übergang in eine Universitätsausbildung andere Gründe hat? Bei der Maturandenquote liegen die Mädchen (rund 60%) noch vor den Buben. Obwohl Frauen also quasi die Vorläufe gewinnen, erreicht ein kleinerer Prozentsatz von ihnen den Final.

Die Lösung des Rätsels liegt in der Statistik: Im Durchschnitt sind Männer und Frauen bekanntlich gleich intelligent (wenn auch in anderen Dimensionen verschieden). Auch in den vielgescholtenen standardisierten IQ Tests unterscheiden sich, wie neue Studien belegen, die Intelligenz von Frauen und Männern nicht. Dies gilt, falls die Testpersonen repräsentativ, d.h. zufällig ausgewählt und nicht irgendwie gefiltert sind.

Die Gruppe „mit Matura“ ist aber eben gerade nicht repräsentativ. Weil es bei der Matura mehr Frauen hat, ist anzunehmen dass es unter ihnen einen höheren Prozentsatz hat, der die Anforderungen nur knapp übertrifft. Eine höhere Durchfallquote ist dann die logische Konsequenz – selbst wenn die Prüfung an sich ist perfekt geschlechterblind wäre. In den unterschiedlichen Erfolgszahlen widerspiegeln sich frühere Selektionsprozesse und freiwillige Entscheidungen.

Ironie der Geschichte: Gäbe es die alte Waadtländer Bevorzugung der Knaben beim Übertritt in die Sekundarschule noch, wären wohl die Unterschiede in den Durchfallquoten bei der Medizinerprüfung zwischen den Geschlechtern deutlich geringer. Trotzdem ist sie nicht die Lösung. Die Prüfungen sollen wenn schon, dahin verbessert werden, dass sie den Erfolg in der nächsten Stufe geschlechterblind prognostizieren.

Das Drehen an der Genderschraube bei jedem Schulstufenübergang macht hingegen wenig Sinn. Es versperrt nur den kritischen Blick auf die ganze Ausbildungszeit. Erstens hängt Prüfungserfolg nicht nur von der Intelligenz ab, sondern auch von früheren Entscheidungen. Sind diese unerwünscht, müssen sie direkt angegangen werden: Den Buben muss die Schule schmackhafter gemacht werden, den jungen Frauen die Mathematik.

Zweitens sind die Unterschiede innerhalb der Geschlechter sehr viel grösser als zwischen den Geschlechtern. Wenn die psychometrische Sicht zu Ende gedacht wird, müsste auch nach anderen Kriterien (soziale Herkunft, Körpergrösse, usw) differenziert werden. Im Endeffekt hätte jeder und jede einen individualisierte Punktezahl, die er/sie erreichen müsste. Und an der Olympiade gingen wir alle gleichzeitig durchs Ziel – samt Blake und Bolt.