Weshalb die Schweiz nach Honig schmeckt

Monika Bütler

Nach gut zweijähriger Pause wieder zurück bei der NZZaS als Kolumnistin. Hier also mein erster Text (veröffentlicht am 6. September):

Das Leitungswasser schmeckt ja wie Honig, meinte einer unserer Söhne nach der Rückkehr aus Zentralasien. Und auch sonst sei alles so angenehm zu Hause, sogar die Schule.

Die Streitereien um Sozialhilfe und Mittelstandspolitik lassen uns zu oft vergessen, dass wir praktisch gratis – quasi direkt vom Hahn – viele staatliche Leistungen beziehen können. Zu Unrecht, denn die vom Staat gebotene Lebensqualität entlastet die Haushalte direkt – finanziell und organisatorisch. Ein Stück Luxus für alle.

So ist, erstens, unser Leitungswasser nicht nur sauber und wohlschmeckend, es ist auch gesund. Für Getränke kann in einem engen Haushaltbudget getrost eine Null eingesetzt werden. Wer im Ausland gelebt hat – auch in vielen reichen Gegenden der Welt – weiss hingegen, wie mühsam das Nach-Hause-Schleppen von Wasserkanistern aus dem Supermarkt ist. Dort, wo Trinkwasser kostet, geht dies bei einer Familie rasch ins Geld.

Zweitens: wir haben sehr viel öffentlichen Raum, der allen als Erholungsraum und Treffpunkt offen steht. Die Kinder können auch ohne Einfamilienhaus im Freien spielen (falls man sie denn lässt). Selbst unsere Seeufer sind im internationalen Vergleich gut zugänglich. Viele Sportplätze und Schulareale sind öffentlich. Und unterwegs kann man sich zwischendurch gemütlich niederlassen – ohne Schilderwald „Privat!“ mit abgebildeten gfürchigen Hunden und Gewehren.

Der kleine Platz am Ende unserer Strasse ist ein wunderbares Beispiel: Er verwandelt sich von einem morgendlichen Spielplatz für die Krippen und Kindergärten der Umgebung zu einem Imbissplatz über Mittag. Nach den Drinks nach Arbeitsschluss grillieren am Abend Familien aller Nationen friedlich nebeneinander. Es gibt wohl kaum eine bessere Methode der Integration und der Gewaltprävention als ein einladender öffentlicher Raum.

Drittens: Unsere öffentlichen Schulen bieten qualitativ hochstehende Bildung auf allen Stufen. Und sie kosten bis zur Matura oder Lehrabschluss nichts; die Gebühren an den Hochschulen sind bescheiden. Mindestens 20‘000 Franken kostet die Schulbildung eines Kindes in vielen Ländern – pro Jahr! – und reisst so den Mittelstandsfamilien grosse Löcher in die Kasse.

Viertens: Der Öffentliche Verkehr würde es der Mehrheit der Einwohner erlauben, ohne Auto auszukommen. Die Arbeitsstelle ist mit ÖV erreichbar; die Kinder müssen nicht zu Schule oder Sport chauffiert werden; einkaufen lässt sich ohne Auto (nur schon weil man kein Trinkwasser tragen muss). Dass davon einkommensärmere Haushalte am meisten profitieren, zeigt das Gegen-Beispiel Neuseeland. Sogar in Städten sind Familien für Berufstätigkeit, Organisation des Schulalltags und Einkauf auf ein oder zwei Autos angewiesen. Die Kosten dafür verschärfen die ohnehin schon angespannte finanzielle Situation dieser Familien weiter.

Fünftens schliesslich geniessen wir ein grosses Mass an Sicherheit in allen Bereichen. Kaum jemand wohnt in gated communities; wir können uns auch nachts unbewacht bewegen; die Lebensmittelsicherheit ist hoch (einigen vielleicht zu hoch) und sogar die Tollwut ist ausgerottet.

Die Schweiz ein Land, wo Milch und Honig fliessen? Auf jeden Fall wäre es schade, wenn wegen Verteilungskämpfen solche staatlichen Leistungen in Zukunft zu kurz kämen. Sie bilden als „bedingungslose Lebensqualität“ einen wichtigen Pfeiler der Sozial- und Familienpolitik. Einen Pfeiler nota bene, der ohne bürokratische Kontrollen und ohne Schwelleneffekte auskommt und von dem wir alle profitieren können.

Kein Wunder schmeckt die Schweiz nach Honig.

Die Streberstrafe

Monika Bütler

Ein Mädchen aus der Nachbarschaft bemerkte vor einiger Zeit so beiläufig, dass sie ihrer Mutter „verboten“ hätte, an eine Gymi-Informationsveranstaltung zu gehen. Grund: Sie hatte Angst, als „bünzlige schweizerische Streberin“ verunglimpft zu werden.

Eine neue Studie zeigt nun, dass solche Ängste eine wichtige Rolle bei Bildungsentscheiden spielen. Wer sich anstrengt, riskiert, von den Kolleg(inn)en sozial abgestraft zu werden.

In ihrem Forschungspapier “How Does Peer Pressure Affect Educational Investments? beschreiben Leonardo Bursztyn (Anderson School of Management, LA, USA) und Robert Jensen (Wharton School, PA, USA) ein Experiment mit Schülern und Schülerinnen der 11. Klasse in den USA in zwei verschiedenen Leistungsniveaus: In „Honors“ Klassen sind die leistungsstärkeren Schüler(innen), in den non-Honors die anderen. Beiden Gruppen wurde ein kostenloser Vorbereitungskurs für den SAT Test angeboten. SAT ist ein standardisierter Test, der von Studienplatzbewerbern an (amerikanischen und gewissen internationalen) Universitäten gefordert wird.

Den Schülern wurden zwei Versionen der Anmeldung zufällig verteilt. In der einen Version stand explizit geschrieben, dass die Anmeldung geheim bleibt. In der anderen Version wurde darauf hingewiesen, dass die Anmeldung öffentlich ist. Resultat: Die Anmeldungshäufigkeit in den Honors Klassen hing nicht davon ab, ob die Anmeldung privat oder öffentlich war. In den non-Honors Klassen dagegen war die Anmeldungsrate 11 Prozentpunkte tiefer im Falle einer öffentlichen Anmeldung als bei einer geheimen Anmeldung.

Ein Teil des Unterschieds könnte allerdings davon rühren, dass in den Honors Klassen einfach die besseren Schüler sitzen. Die Entscheidung zur Weiterbildung würde dann nicht nur von Peer Effekten sondern auch von Selektionseffekten herrühren. Um dies auszuschliessen, verglichen die Forscher nun nur noch etwa gleich gute Schüler, also Schüler und Schülerinnen mit derselben Anzahl von Honors Klassen. (In den US High Schools ist es durchaus üblich, dass dieselben Schüler in einem Fach in einer Honors Klasse sitzen, in einem anderen Fach aber nicht).

Untersucht wurde nun, wie sehr das Verhalten ungefähr gleich guter Schüler davon abhing, ob sie am Testtag in einer Honors Klasse oder in einer nicht Honors Klasse sassen. Die Unterschiede waren noch grösser: Wurde der Gratiskurs in einer Non-Honors Klasse angeboten, war die Anmeldehäufigkeit bei öffentlicher Anmeldung 25 Prozentpunkte tiefer als bei einer privaten. In den Honors Klassen war dies genau umgekehrt, eine öffentlich bekannte Anmeldung erhöhte die Anmeldewahrscheinlichkeit um 25 Prozentpunkte.

Da in der zweiten Versuchsanordnung Leistungsunterschiede zwischen den Schülern ausgeschlossen wurden, lassen die Unterschiede in den Anmeldungszahlen auf Peer Effekte schliessen. Das heisst auf starke (leider oft negative) Beeinflussung durch Klassenkolleg(inn)en. In weniger leistungsstarken Klassen befürchteten Schüler(innen) sozial abgestraft zu werden, wenn sie sich für Bildungsangebote interessierten. Eine soziale Streberstrafe sozusagen.

Die Resultate dürften viele Eltern nicht überraschen. Mit der Bezeichnung Streber werden immer wieder Kinder „fertig gemacht“ und entweder ausgegrenzt oder vom Lernen abgehalten. Man sollte vielleicht die für Aussenstehende oft verbissen wirkenden Bemühungen gewisser Eltern, ihren Nachwuchs unbedingt zu einer gymnasialen oder Sek A Ausbildung zu bewegen, einmal in diesem Licht sehen. Sie tun dies vielleicht nicht immer aus Prestigegründen.

Das aufgeweckte und intelligente Nachbarsmädchen wird ihren Weg zweifellos machen. Nur: durch ihre offensichtliche Angst, ja nicht als Streberin aufzufallen, verbaut sie sich unter Umständen noch bessere Chancen. Ironischerweise ist das Nachbarsmädchen zwar durch und durch Schweizerin, hat wegen ihrer Vaters aber ein exotisches Aussehen. Und vielleicht dadurch noch mehr Angst, als Streberin zu gelten.

ADHS Therapie beim Literaturwissenschaftler

Monika Bütler

Aha, der NZZ von heute entnehme ich, dass nun auch ein Literaturwissenschaftler weiss, wie mit AHDS umzugehen ist. Beruhigend, dass er dieses Feld nicht einfach den Soziologen überlässt. Frei nach dem Motto: Je medizinisch ahnungsloser, desto besser wissen die Schreiber, was für die betroffenen Kinder und ihre Familien richtig ist.

Den betroffenen Familien macht diese Ahnungslosigkeit und die damit verbundene Stigmatisierung das Leben nicht leichter, wie wir vor einiger Zeit in der NZZ am Sonntag dargestellt haben (etwas ausführlicher und mit Links im batz.ch hier). Die Reaktionen auf unseren Artikel damals waren überwältigend: Sowohl Ärzte wie auch betroffene Menschen schilderten uns, wie sehr sie unter den negativen Vorurteilen litten. Niemand mag sich allerdings öffentlich äussern aus Angst vor Anfeindungen. ADHS, respektive Ritalin Bashing ist dermassen en-vogue.

Hat der Autor mal ein ADHS-Kind gesehen? Ich vermute nicht. Der Satz „ich war auch ein unruhiges Kind“ ist eine ADHS Verharmlosung der übleren Sorte. „Ach wissen Sie, ich bin manchmal auch vergesslich“ wäre für eine von Alzheimer betroffene Familie wohl auch nicht besonders tröstlich.

Der Literaturwissenschaftler geht auch ziemlich salopp mit der medizinischen Literatur um. So „beweist“ er die Nutzlosigkeit von Ritalin und ähnlichen Medikamenten mit einer Studie, die zeigt, dass mit Stimulanzien behandelte Kinder nur minimal bessere Leistungen erzielten als nichtstimulierte Kinder; sie schwänzten „nur“ weniger. Doch genau um letzteres geht es bei diesen Kindern – um die Chance, ein normales Leben zu führen. Nicht um Leistung. Auch dies ist in unserem Beitrag ausführlich erklärt.

Glücklicherweise finden sich in der NZZ auch ab und zu wissenschaftlich fundierte Beiträge zu ADHS (so zum Beispiel hier und hier). Sonst müssten wir befürchten, dass uns in der NZZ bald der Chirurg die Literatur erklärt.

Die Mühen von Ecopop mit Hong Kong und Singapur

Monika Bütler

Die Schweiz soll nicht wie Hong Kong oder Singapur werden. Ein griffiger und einleuchtender Slogan der Ecopop Befürworter. Nur leider falsch.

Natürlich möchten die meisten von uns (mich eingeschlossen) lieber in der Schweiz als in Hong Kong  leben. Nur ist der Vergleich der beiden asiatischen Städte mit der Schweiz unfair und berücksichtigt weder die Geschichte noch das wirtschaftliche, geopolitische und klimatische Umfeld der unterschiedlichen Gegenden. Das richtige Gegenstück im Vergleich mit Hong Kong oder Singapur wäre Hong Kong/Singapur ohne „Dichtestress“. Ein einfacher Blick über die Grenzen der beiden Städte zeigt: Die Wahl ist eben nicht zwischen 15 Quadratmetern/Person im Dichtestress und plus minus gleichem Lebensstandard auf 45 Quadratmetern/Person ohne Dichte. Sondern

  • zwischen 15 Quadratmetern/Person in guten hygienischen und relativ umweltfreundlichen Verhältnissen, mit Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Arbeitsstellen und guten Schulen, welche den Kindern die Tür zur Welt offen halten.
  • und 15 Quadratmetern/Person in prekären Behausungen ohne ÖV, ohne adäquate Arbeitsplätze mit beschränkter medizinischer Versorgung und qualitativ schlechten Schulen. Und ja: mit Dreck und Umweltbelastungen.

Kein Bewohner Singapurs würde mit einem Bewohner ännet der Johor Strait tauschen wollen. Umgekehrt hingegen schon.

Da ich Singapur viel besser kenne, hier etwas Hintergrund zu Singapur. Nach der Unabhängigkeit Singapurs von Grossbritannien schloss sich die Stadt nach dem 1962 Merger Referendum der Federation of Malaya an (im Wesentlichen Malaysia, Sarawak und Nord Borneo). Die Gründe: Grösse des Landes, Knappheit an Wasser, Land und natürlichen Ressourcen. Die zwei Jahre in Union mit Malaysia waren allerdings geprägt von Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten. So wollte Singapur eine Gleichbehandlung aller Rassen, Sprachen und Religionen, was vom Rest der Federation abgelehnt wurde. 1965 wurde Singapur aus der Federation geworfen, ohne in der Frage überhaupt angehört zu werden.

Interessanterweise wurde Singapur ein Stadtstaat contre coeur. Das heutige Singapur ist somit eine Antwort auf die Herausforderungen, welche dem neuen Staat mit dem knappen Land und der Abwesenheit von natürlichen Ressourcen erwuchsen. Wie auch die Schweiz setzte Singapur in der Folge auf eine wirtschaftliche Entwicklung, die auf Unternehmertum, technologischem Fortschritt und Ausbildung basierte. Und auf eine gewisse Einwanderung, welche den Fortschritt erst ermöglichte. Singapur hat heute eine durchaus restriktive Einwanderungspolitik; diese berücksichtigt jedoch die Bedürfnisse der Bevölkerung insbesondere nach Arbeitskräften, die im Lande selber fehlen. Mit einer Abschottung wäre der Vorsprung Singapurs gegenüber seinen Nachbarn schnell weg. Immigration ist eben nicht nur Folge der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch teilweise deren Ursache.

So unterschiedlich Hong Kong oder Singapur und die Schweiz auch sein mögen. Auch bei uns muss der breite Wohlstand in den ländlichen Gegenden zuerst erwirtschaftet werden. In den viel dichter bevölkerten Städten nämlich oder den nicht so idyllischen Industriezonen. Die Umsetzung eines weiteren Slogans der Ecopop Befürworter – die Arbeitsplätze zu den Bewohnern bringen und nicht umgekehrt – würde nie und nimmer die Wertschöpfung bringen, die nötig wäre, um unseren Lebensstandard zu halten.

PS: Die momentane Popularität von Ecopop hat allerdings nicht viel mit deren Argumenten zu tun als viel mehr dem Schweigen und der Untätigkeit der Politik in den Diskussionen um die Folgen Personenfreizügigkeit (siehe meinen früheren Beitrag). Niemand erklärte den besorgten Bürgern, woher die (nicht so zahlreichen) Ausländer kommen, die wirklich Probleme machen (nämlich mehrheitlich nicht aus der EU). Auf griffige – auch während der Personenfreizügigkeit mögliche – Massnahmen gegen eine Einwanderung in den Sozialstaat (Rückführungen, Einschränkungen des Familiennachzuges, Straffung des Asylwesens) wurde verzichtet. Und wir warten bis heute auf eine vernünftige Einwanderungspolitik für Bürger aus Drittstaaten. Statt den Zug sanft zu bremsen, schielte die Politik viel zu lange auf die Notbremse (in Form der Ventilklausel). Die Notbremse zogen am 9. Februar andere. Im Tunnel.

 

Sollen nicht berufstätige Akademiker die Kosten für ihr Studium zurückzahlen?

Gebhard Kirchgässner

Kürzlich wurde vorgeschlagen, dass Akademiker einen Teil ihrer Ausbildungskosten zurückzahlen sollen, wenn sie freiwillig über längere Zeit nicht berufstätig sind. Damit soll u.a. dem Fehlen qualifizierter Fachkräfte begegnet werden. Damit würden freilich nur Symptome und nicht die Ursachen bekämpft, und zweitens hätte dies aller Voraussicht nach sehr negative Nebenwirkungen.

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BR Schneider-Ammanns fromme Wünsche

Wer batz.ch regelmässig liest, weiss: Bundesrat Schneider-Ammanns Wünsche zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie nach der Annahme der MEI sind hochwillkommen. Wir haben uns vermehrt zu den negativen Arbeitsanreizen des schweizerischen Steuer- und Subventionssystems geäussert, zuletzt unmittelbar nach der Abstimmung vom 9. Februar hier. Wenn die Zweitverdienerin effektiv fast das gesamte zusätzliche Einkommen in Form von Steuern und Betreuungskosten abgeben muss, die Schulstruktur keine geregelte (Teil-)Zeitarbeit zulässt, so ist es nicht verwunderlich, dass die Beschäftigung der Frauen in der Schweiz gemessen in Vollzeitäquivalenten relativ tief ist. Siehe dazu unsere Beiträge: Wie der Schweizer Mittelstand vom Arbeiten abgehalten wird, Familienartikel: Umbau der antiquierten Schulstruktur!, Kinderkrippen helfen gegen Lohnungerechtigkeit, und viele mehr.

Nur: Blauäugig ist, wer von den Massnahmen – selbst wenn sie sofort umgesetzt werden könnten – eine schnelle Wirkung erwartet. Die meisten Familien haben angesichts des heute vorherrschenden Schul- und Betreuungsangebot geplant. Will heissen: viele Frauen haben bewusst Berufe gewählt, die eine relativ geringe Teilzeitarbeit zulassen. Darunter hat es Ärztinnen und vielleicht sogar die eine oder andere Ingenieurin. Aber für viele der „stillgelegten“ Fähigkeiten dürfte sich die Nachfrage in Grenzen halten. Um es etwas böse auszudrücken: Aus den nun wenig beschäftigten Kunsthistorikerinnen werden nicht über Nacht Hausärztinnen, aus den Ethnologinnen keine Informatikerinnen.

Die Ursache für die hohe Nachfrage nach ausländischen Fachkräften liegt eben nicht nur in der Unterbeschäftigung von Frauen, sondern auch in der schweizerischen Bildungslandschaft. Heute sind 60% und mehr der Schüler(innen) an den Mittelschulen weiblich. Problematisch ist selbstverständlich nicht der hohe Anteil Mädchen, sondern die Tatsache, dass wir vielen intelligenten aber eher technisch-naturwissenschaftlichen Kindern die Schule vermiesen und ihnen teilweise den Weg zu einer Universitätsausbildung verbauen. Darunter sehr viele Buben, aber auch Migrantenkinder, die sich mit dem Überhang an sprachlichen Fächern und der Wichtigkeit (schwierig beurteilbarer) soft skills schwer tun. So sehr ich den dualen Bildungsweg für eine grosse Stärke des schweizerischen Ausbildungssystems halte: Chirurgen und Physiker gibt es kaum über diesen Weg. Diese Leute, die wir eventuell selber hätten ausbilden können, importieren wir später aus dem Ausland.

Um Missverständnisse auszuräumen: Ich begrüsse die angekündigten Massnahmen selbstverständlich. Die Unterbeschäftigung der Frauen in der Schweiz ist sehr teuer. Der sogenannte Gender Employment Gap – der Unterschied in Vollzeitäquivalenten zwischen Männern und Frauen – beträgt rund 40%, gleich hoch wie in der Türkei und deutlich höher als der OECD Durchschnitt von 30%. Gelänge es, diesen Gender Employment Gap nur schon auf den OECD Durchschnitt zu senken, könnten wir uns ein ganzes Jahr Erhöhung des Rentenalters eigenfinanzieren – für Mann und Frau, notabene.

 

Ritalin-Verteufelung als Geschäftsmodell

Urs Birchler und Monika Bütler

Publiziert in der NZZ am Sonntag vom 6. April 2014.

Unwissenschaftlich – gefährlich – beängstigend. Das Interview mit dem Ritalin-Kritiker, Soziologen und angeblichen Uno-Berater Pascal Rudin in der NZZaS vom vergangenen Wochenende ist für uns als Familie mit einem ADHS-Buben ein Schlag in die Magengrube.

Ritalin ist das führende Medikament gegen die meist bei Kindern diagnostizierten Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Laut Rudin seien 95 Prozent der Ritalin-Verschreibungen in der Schweiz überflüssig. Diese Zahl ist frei erfunden. Umgekehrt weiss niemand, wie viele ADHS-Kinder Medikamente bräuchten, aber nicht bekommen. Noch dreister die längst widerlegte Behauptung: Ritalin führe zu Parkinson. Die Wirklichkeit: Ritalin wird heute als Mittel gegen Parkinson getestet! Es hat tatsächlich Nebenwirkungen – nur: Schlimmere Nebenwirkungen hat die Verweigerung von Ritalin an Kinder, die stattdessen den Verlockungen anderer beruhigender Substanzen (Alkohol, Nikotin, Drogen) erliegen.

Für Ärzte ist klar: ADHS ist keine gesellschaftliche Fehlentwicklung, sondern eine Krankheit. Und nur weil sie im Kopf ist, bringt man sie nicht einfach mit gutem Willen weg. Wir deuteten die Zappeligkeit und Wutanfälle bei nichtigstem Anlass im Kindergartenalter bei unserem Sohn noch als normales Kindsein. Spaghetti-Teller, die an die Wand flogen, wurden mit „ohne Znacht ins Bett“ bestraft. Die Schule ging zunächst gut; auch andere Kinder verlieren die Jacke oder lassen den Thek im Tram stehen. In der zweiten Klasse aber löste sich das Schriftbild unseres Älteren auf, er schaffte einfache Legomodelle nicht mehr, Anrufe der sehr verständnisvollen Lehrer wurden häufiger, Kameraden wandten sich ab, sein Selbstvertrauen zerfiel.

Ein befreundeter Arzt empfahl uns den Jugendpsychiatrischen Dienst. Familiengespräche, Abklärungen, Verhaltenskurs und die Diagnose: ADHS. Ganz zuletzt die verzweifelte Hoffnung namens Ritalin. Und tatsächlich: Unser Sohn ist heute ein immer noch zappeliger und zerstreuter Sechstklässler – von „ruhiggestellt“ keine Spur –, aber man kann seine Schrift lesen, er liest, liebt Mathe. Am allerwichtigsten: er hat wieder Freunde.

Die gängige Ritalin-Verteufelung verunsichert Eltern und zerstört Familien. Wissenschaftlich eindeutig belegt ist: Kinder mit ADHS-Symptomen haben – bei gleicher Intelligenz und Herkunft – schlechtere Noten, schlechtere Karrierechancen,und eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, eine Klasse zu repetieren und in der Drogensucht oder Kriminalität zu enden. Erwachsene mit unbehandeltem ADHS haben ein deutlich höheres Unfallrisiko. Wer diesen Kindern Ritalin vorenthält, prellt sie um die Chance auf einen Schulabschlusses, der ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht, auf ein entspanntes und gewaltfreies Leben.

Ritalin-Kritiker behaupten, ADHS habe es früher nicht gegeben. Tatsächlich sprach man nicht von ADHS, sondern band die unruhigen Störenfriede an die Stühle, warf sie später aus der Schule oder in die Sonderschule und sandte sie als billige Hilfskräfte auf einen Bauernhof.

Rudin haut auch wacker in die Kerbe „Ritalin versus Kreativität“. Wie bei der Angst vor den Ausländern scheint die Verteufelung von Ritalin umso ausgeprägter, je weiter jemand vom Problem entfernt ist. Besteht Kreativität in Schreikrämpfen, in verzappelten Nachmittagen über dann doch nicht gelösten Hausaufgaben und in Haarbüscheln von Bruders Kopf? Oder heisst Kreativität, auch mal stillsitzen können, Gedanken ordentlich aufschreiben und sich am Ende über eine gelöste Aufgabe oder eine gelungene Zeichnung freuen?

Kurz: Ritalin ist ein Segen für die Kinder, die es brauchen und – zugegebenermassen – für ihre Eltern. Es ist auch ein Segen für um Aufmerksamkeit ringende Geschwister, die, wie unser Jüngerer, das Glück haben, ihr Potential ohne Medikamente ausschöpfen zu können. Keine Mutter und kein Vater geben ihrem Kind leichtfertig Ritalin. Für viele ist es der letzte Ausweg.

Weshalb denn stürzt sich die Gesellschaft plötzlich auf ADHS-Kinder? Müssen Diabetiker fürchten, sich bald vor Insulingegnern rechtfertigen zu müssen? Sollen wir nächsten Winter heimlich zur Grippeimpfung gehen?

Das untrüglichste Anzeichen für Hexenjagd liefert Rudin gleich selbst: Die Mütter sind schuld. Sie seien es, die gegenüber den zögernden Vätern die Pille durchsetzen. Dass die Mütter auch den grössten Anteil an ADHS-bedingten Krisen abzuwettern haben, geht vergessen. Wetten, dass Mütter auch die meisten Fieberzäpfchen geben?

Damit bleibt die Kernfrage: Woher kommt die gesellschaftliche Ritalin-Hysterie, die zunehmende Bevormundung der Eltern? Und wie werden wir sie wieder los? Hier, endlich, wäre die Soziologie gefragt. Und genau hier bleibt Soziologe Rudin – mucksmäuschenstill.

Weiterwursteln nach Plan B

Monika Bütler

(Kurzkommentar zum Abstimmungsresultat über die Masseneinwanderungsinitiative der SVP, publiziert in der Weltwoche vom 13. Februar 2014)

Die Schweiz leistet es sich, junge Frauen sehr gut auszubilden, um sie später mit fehlenden Tagesschulen, steuerlichen Fehlanreizen und Vorurteilen aus dem Arbeitsmarkt zu ekeln. Nur knapp lehnte der Souverän eine explizite Belohnung des zu Hause-bleibens ab. Die Schweiz leistet es sich auch, intelligenten künftigen Ingenieuren und vollzeitarbeitenden Ärzten die Schule zu vermiesen mit einer Pädagogik, die weiche Faktoren höher gewichtet als Mathematik und Naturwissenschaften. Über eine längere Beschäftigung älterer Menschen denken wir schon gar nicht mehr nach. Für weniger ehrgeizige und produktive Junge ist Sozialhilfe ohnehin viel attraktiver. Damit sich die Anstrengung auch für die oben unerwähnten nicht lohnt, bietet der Staat Wohnraum und Betreuung einkommensabhängig an.

Die Lücken füllten motivierte Einwanderer. Und nun?

Wir sollten die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wenigstens zum Anlass nehmen, über die Verschwendung einheimischer Ideen und Fähigkeiten nachzudenken. Meine Vermutung: Am Schluss kommt doch Plan B zur Anwendung. Niemand wagt, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Gesuchte Fachkräfte kommen nach wie vor – einfach unter undurchsichtigen, teuren Kontingenten. Plan B, B für Bürokratie.

Alte Schule

Zum ersten Mal überhaupt äusserte unser Junior (ein 4. Klässler) heute morgen eine leise Kritik an einem Lehrer. Unser jüngerer Sohn begleitet mich momentan in meinem Sabbatical in Auckland, Neuseeland. Mit Neuseeland hat das Unbehagen allerdings nichts zu tun. Er war bisher begeistert von der Schule, seinen Kollegen und vor allem der Lehrerin, die sich immer an den Stärken der Kinder und nicht an deren Defiziten orientierte. Für die letzten Wochen unseres Aufenthalts erhielt er nun einen neuen Lehrer. Einen netten älteren Herrn, so meinte ich.

Mein Junior war etwas anderer Meinung. Superstreng und ungeduldig sei er, bei kleinster Unruhe würde er den Unterricht lange unterbrechen, er schimpfe, und so weiter. Und dann kursieren noch Gerüchte von seinen früheren Vertretungen in der Klasse. Ich kann und will dies alles nicht überprüfen, doch irgendwie erinnerten mich die Schilderungen meines Sohnes an meine eigene Schulzeit. Ständig tadelnde Lehrer (Männer und Frauen), fliegende Bücher und Kreidestifte, (ungerechte?) Strafen, offene Bevorzugungen von Schüler(inne)n.

Interessanterweise beklagen sich in Juniors Klasse gerade die Knaben über den neuen Lehrer. Müssten sie denn nicht froh sein, in der von Frauen dominierten Primarschulwelt endlich mal einer männlichen Autoritätsperson zu begegnen? Wenn man nämlich die schweizerischen Zeitungen liest, so scheint eines klar: An den – im Vergleich zu den Mädchen – schlechteren Leistungen der Knaben sind die weiblichen Lehrkräfte schuld.

Dass es die Knaben schwerer haben als die Mädchen in der Primarschule scheint mir (auch als Mutter zweier Knaben) unbestritten. Ich habe allerdings trotz aufwändiger Recherche noch keine Studie gefunden, die einen negativen Einfluss von Lehrerinnen auf die Leistungen der Jungs nachweisen würde. Falls überhaupt Effekte gezeigt wurden, war der Einfluss positiv. So zum Beispiel in der Studie von Escardíbul und Mora, bei der eine weibliche Lehrkraft zu einem besseren Testresultat in Mathematik führte – vor allem bei den Knaben. Dass die Verweiblichung des Lehrkörpers an den Problemen der Knaben schuld sein sollte, ist wohl genau so ein Mythos wie dass es früher (mit einer männlichen Lehrermehrheit) besser war.

Nur: Woran liegt es denn, dass weniger Knaben den Sprung ans Gymnasium schaffen? Knaben mehr Probleme in der Schule zu haben scheinen? Hier meine ganz persönlichen Beobachtungen ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit.

Offenbar scheint es in der Schule nun üblich zu sein, dass bei der Notengebung nicht nur die Prüfungsleistungen berücksichtigt werden, sondern auch andere Aspekte wie Motivation, Sorgfalt und Anstrengung. Als ob Motivation, Sorgfalt und Anstrengung nicht schon einen direkten Einfluss auf die Prüfungsleistungen hätten. Wer also (vermeintlich) weniger motiviert ist, unsorgfältiger arbeitet oder sich nicht offensichtlich anzustrengen scheint, wird doppelt bestraft. Oder anders ausgedrückt: Zapplige Knaben und Mädchen (!) haben kleinere Chancen auf gute Noten. Solange diese Art der Beurteilung pädogischer Standard ist, spielt es gar keine Rolle, wer die Kinder unterrichtet. Im Sinne einer Selbstselektion wählen nämlich nur diejenigen jungen Menschen, ob Mann oder Frau, die Lehrerausbildung, die sich grundätzlich mit der gängigen Unterrichts- und Beurteilungsmethode identifizieren.

Mit der Erinnerung an meine eigene Schulzeit wurde mir allerdings noch ein anderer Grund für das Aufholen der Mädchen bewusst: Im Gegensatz zu früher werden die Mädchen von Eltern und Schule nicht mehr zurückgehalten, sondern genau so wie die Knaben aktiv gefördert. Also kein Bremsen des Ehrgeizes mehr (“sonst kriegst du keinen Mann”, “bringt nichts, du heiratest ja doch”), nicht mehr Häkeln und Stricken anstelle von Geometrie wie es bei mir noch teilweise der Fall war.

Es gibt wohl noch viele weitere Gründe für die unterschiedlichen Erfahrungen von Mädchen und Knaben in der Primarschule. Die frühe Selektion zum Beispiel. Auch dies ist hier ein Neuseeland – einem Spitenreiter bei den PISA Resultaten – anders.

Mein Junior hat sich auf dem langen Schulweg wieder abgeregt und freute sich am Schluss sogar auf den neuen Lehrer. Dass seine Mutter überhaupt nicht gerne zur Schule ging und kaum eine Gelegenheit ausliess, “krank” zu Hause zu bleiben, konnte er fast nicht glauben. Echt, Mama? fragte er immer wieder. Früher war eben nicht alles besser.

Die ewige Angst vor dem Abstieg – etwas Hintergrund

Monika Bütler

Das NZZ Folio hat meinen Beitrag zum Zustand des schweizerischen Mittelstands freundlicherweise bereits verlinkt. Was ich noch nachliefern möchte, sind die wissenschaftlichen Grundlagen und andere Texte, auf die ich mich direkt oder indirekt abgestützt habe. Oder einfach interessante Hintergrundliteratur.

Treue batz Leser(innen) werden das eine oder andere schon früher gelesen haben. Die Problematik der steigenden Wohnkosten habe ich in „Mietzinsakrobatik“ diskutiert, die Steuerbelastung des Mittelstandes in „Steuerbelastung inflationsbereinigt“ und in „Sind Steuerzahler bessere Menschen?“. Dass der Lebenszyklus wichtig ist für die Beurteilung der Einkommen stand in der NZZ am Sonntag und im batz:  Einkommensverteilung und Lebenszyklus. Zum Thema Einkommensverteilung haben auch meine Kollegen Marius Brülhart in Land der begrenzten Ungleichheiten und Reto Föllmi (mit Isabelle Martinez) in Reich sein in der Schweiz…  beigetragen. Dass es wichtiger wäre Tagesschulen zu organisieren statt das Hortwesen zu perfektionieren stand in „Familienartikel: Umbau der antiquierten Schulstruktur!“ Und meine Kollegin Christina Felfe ergänzte mit vielen interessanten Informationen zur Kinderbetreuung in der Schweiz.

Hier die wissenschaftliche Literatur und weitere Hintergrundliteratur geordnet nach Themen:
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