Halt, Sichern!

Urs Birchler

Das VBS legt eine Studie vor zu Kosten und Nutzen der Armee. Leider enthält die Studie einen ökonomischen Blindgänger, den es zu entschärfen gilt.

Einmal mehr (wie oft noch?) kommt das Argument, die Ausgaben eines Wirtschaftsteilnehmers (hier der Armee) seien wertvoll, weil sie Einnahmen für Arbeitnehmer oder für andere Wirtschaftssektoren darstellen. Die Studie sprich von 1,4 Mrd. Fr., die die Armee als Arbeitgeberin für 14’000 Arbeitsplätze ausgibt, sowie von 2,5 Mrd. Fr., die an Lieferanten fliessen (S. 38, Originaltext unten).

Dies ist genau so alt, wie falsch. Wir haben das in batz.ch schon hier, am Beispiel der Cleantech-Initiative der SP (die mit demselben Trick arbeitet), erklärt und hier, mit Hinweis auf einen Artikel von Reto Föllmi, erwähnt. Ob die Ausgaben eines Sektors (z.B. Gesundheit) Kosten oder Nutzen darstellen, ist im übrigen Ansichtssache; dies liegt im Wesen der doppelten Buchhaltung.

Die richtige Frage ist, ob die Armee ihr (unser) Geld sinnvoll ausgibt oder nicht. Die Studie enthält dazu einiges; überzeugender wäre dieses ohne pseudo-volkswirtschaftliche Nebelpetarden.

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Nutzen als Auftraggeber der zivilen Wirtschaft (2,5 Mrd. CHF 24):

„Die jährlichen Rückflüsse der Armee zu Gunsten der Privatwirtschaft sind mit 2,8 Mrd. CHF bedeutend. Davon fliessen 0,3 Mrd. CHF ins Ausland ab, was aber über Offset-Geschäfte wieder kompensiert wird. Von den im Inland verbleibenden 2,5 Mrd. CHF werden beispielsweise durch Rüstungsaufträge ca. 13.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer direkt in der Rüstungsindustrie und in rüstungsnahen Bereichen beschäftigt. Massgeblich von Armeeaufträgen profitieren Unternehmen wie z.B. Bereiche der Rheinmetall-Gruppe, die MOWAG (General Dynamics), die Pilatus Flugzeugwerke AG, die THALES Schweiz, ATOS Schweiz (früher Siemens) oder der Technologiekonzern RUAG. Die Armee fördert jedoch nicht nur rüstungsnahe Unternehmen, sondern lässt durch Investitionen und Unterhaltsarbeiten an Immobilien und Verkehrsinfrastruktur, über Materialbeschaffungen, Verpflegungseinkäufe sowie Truppenkonsumationen ihre Ausgaben mit hoher Breitenwirkung in die Volkswirtschaft der Schweiz zurückfliessen.“

Zweite Gotthardröhre: Wider das Vorhaben von Economiesuisse

Von Laure Athias und Mario Jametti

Economiesuisse möchte uns eine Public-Private Partnership (PPP) für den zweiten Gotthardtunnel schmackhaft machen und hat dazu eine Studie veröffentlicht („PPP Lösung für zweite Gotthardröhre“). Wir haben uns diese Studie im Detail angeschaut und finden, dass das Projekt von Economiesuisse noch viele Fragen offen lässt. In unserem in der NZZ erschienenen Gastbeitrag gehen wir auf zwei kritische Punkte ein: wie erfolgreich sind PPP-Projekte? Wie sieht die Risikoallokation des Projektes aus?

Artikel (pdf)

 

Die Trisomie-21-Test-Debatte in Zahlen

Von Monika Bütler

Der neue pränatale Trisomie-21-Test bewegt die Gemüter. Viele fürchten sich davor, dass die Akzeptanz für behinderte Kinder noch weiter sinken könnte und/oder dass die IV (oder die Gesellschaft) die werdenden Eltern unter Druck setzen würde (Siehe dazu auch den hervorragenden Kommentar von Markus Hofmann in der NZZ).

Hier ein paar nüchterne Zahlen zur Abkühlung: Geburtsgebrechen machen nur rund 5% der jährlichen Neuzugänge zur IV aus. Da Menschen mit Geburtsgebrechen länger in der IV verbleiben, ist ihr Anteil am gesamten Bestand höher; er liegt bei knapp 12%. Davon wiederum dürfte nur ein relativ geringer Teil auf Behinderungen fallen, die mit pränatalen Tests überhaupt entdeckt werden können (genaue Zahlen kenne ich nicht). Zum Vergleich: Psychische Krankheiten machen sowohl bei den jährlichen Neuzugängen zur IV wie auch am gesamten Bestand über 40% aus (2011: 44% bei den Neuzugängen, 43% beim Bestand).

Trisonomie-21 und andere Geburtsgebrechen machen somit einen sehr sehr kleinen Teil der Behinderten in der Schweiz aus. Wenn die IV sparen will, so eignen sich Geburtsgebrechen dafür sicher nicht. Die IV scheint dies auch nicht zu wollen: Tatsächlich sind zwischen 2003 und 2011 die Neuzugänge zur IV bei den Psychischen Krankheiten um fast 40%, bei den Knochen- und Bewegungsorganen gar um rund 65% gesunken. Die Neuzugänge bei den Geburtsgebrechen blieben hingegen konstant (bei etwa 800-900 Personen pro Jahr).

Es ist unbestritten, dass es behinderte Menschen und ihre Eltern nicht leicht haben. Ein Gentest (welcher ja nur die heute viel gefährlicheren invasiven Tests ersetzt) kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Auf jeden Fall ist ein Verbot für solche Tests der falsche Weg (wie ich in meiner NZZaS Kolumne vom 20. Mai dargelegt habe).

Wie bitte? Umweltschutz kostet Geld?

Beat Hintermann

Im Artikel „Ökosteuer kostet Wachstum und Wohlfahrt“ (NZZ am Sonntag vom 22.7.2012) beschreibt Sarah Nowotny inoffizielle Zwischenresultate einer Studie von Ecoplan, welche die Auswirkungen einer ökologischen Steuerreform für die Schweiz quantifiziert.  Das Fazit der Autorin: Eine Öko-Steuer vermindert unseren Wohlstand, im Gegensatz zu anderslautenden Äusserungen des Finanzdepartements.  Online-Kommentare wie „und wer soll das bezahlen?“ liessen erwartungsgemäss nicht lange auf sich warten.

Die Ecoplan-Studie ist noch nicht veröffentlicht, und deswegen ist es unmöglich, die Ergebnisse quantitativ zu überprüfen. Zwei Beobachtungen genereller Natur lassen sich aber trotzdem machen: Erstens scheinen die Resultate qualitativ richtig, und zweitens implizieren sie, dass die betreffende Steuerreform effektiv ist.

Bei den vorzeitig veröffentlichen Zahlen handelt es sich um Bruttokosten der Steuerreform, d.h. um Kosten ohne Berücksichtigung des zu erwartenden Nutzens, der bei einer Internalisierung von negativen Externalitäten per Definition auftritt. Gestützt auf verschiedene Nutzenabschätzungen entscheidet dann idealerweise die Bevölkerung, ob der Nutzen die Kosten den Nutzen rechtfertigt, oder eben nicht.

Dass die Einführung einer Lenkungsabgabe mit voller Rückerstattung der Einnahmen zu positiven Bruttokosten führt, wissen wir spätestens seit der Debatte um die „double dividend“ Hypothese in den 1990er Jahren.  Ebenso bekannt ist, dass die Bruttokosten höher sind, wenn man die Steuereinnahmen pauschal statt durch eine Reduktion von verzerrenden Steuern zurückerstattet.  Die Zwischenresultate der Ecoplan-Studie kann man also vor allem als (bestandener) Qualitätstest interpretieren.  Alles andere hätte nach einer grundsätzlichen Hinterfragung der verwendeten Methodologie verlangt.

Zum zweiten Punkt: Die Bruttokosten einer Lenkungsabgabe sind proportional zum „tax base erosion“ Effekt, d.h. zum Ausmass der Verschiebung von Angebot und Nachfrage weg vom besteuerten Gut.  Null Bruttokosten würde schlicht heissen, dass die Lenkungsabgabe nichts bewirkt.  Die Ecoplan-Resultate bedeuten also, dass die Reform ihr Ziel erfüllen und zu einer Verlagerung weg von fossiler und thermischer hin zu erneuerbarer Energie führen würde.  Ein gegenteiliger Befund wäre beunruhigend.

Der NZZ-Artikel ereifert sich darüber, dass eine ökologische Steuerreform nicht den Fünfer und das Weggli bietet, und dass wir für mehr Umweltschutz etwas bezahlen müssen.  Das ist keine besonders interessante Feststellung und schon gar kein Grund, die Ökosteuer von vornherein zu desavouieren, vor der Publikation der relevanten Studie notabene.  Die relevante Frage ist doch, wie viel uns welches Ausmass von Umweltschutz kostet, und was es uns wert ist. Darüber verliert der NZZ-Artikel aber kein Wort.

Zirkusträume

Urs Birchler

Wir sollten träumen, bat der Zirkusdirektor zu Beginn der Vorstellung. Der Traum, das halbvolle Zelt möge sich noch füllen, blieb allerdings unerfüllt. Offenbar gilt auch in der Zirkuswelt mittlerweile „the winner takes all“, wo nur noch Superstars zählen, wo alle nur noch das Beste gesehen haben wollen. Und das traut man nicht dem kleinen Zirkus Royal zu, der am Stadtrand an der Stelle eines geschleiften Fussballstadions gastiert.

An den Darbietungen kann es nicht liegen. Natürlich ist die Artistik vielleicht nicht ganz Weltspitze, aber vieles ist ausgezeichnet, wie beispielsweise der Jongleur, dessen Ballkünste dem verschwundenen Stadion Hohn spotten. Und dann die blonde Dame die ihre Tiger (1 ♂, 4 ♀) straff im Zaum hält und dafür mit einem Gutenachtkuss belohnt wird.

Aber die beste Nummer ist eine versteckte: Das Sparprogramm. Der ganze Abend wird von ca. 8 Artisten (plus wenige Hilfskräfte) bestritten, wobei einige zwei hinreichend verschiedene Nummern anbieten. Und Pausenglacé verkauft halt der Schlangenmensch gleich selber. Zum Thema Frühpensionierung tritt der Alt-Patron (deutlich über 70) des Zirkus Medrano mit seinen Kamelen auf. Seinem eigenen Zirkus brach vor zwei Jahren die Fussball-WM plus Hitzewelle das finanzielle Genick. (Auch die Zusammenarbeit mit pro specie rara half nichts. Hinterwäldler-Rind wollen die Schweizer dann doch lieber auf dem Bio-Teller sehen als im Zirkusrund).

Zirkus mit Tieren — die Quadratur der Manege. Wegen der vielen Ortswechsel wird ein Zirkus bis zu 45 mal im Jahr veterinäramtlich kontrolliert (laut Aussage des Direktors). Dazu kommt der Tierschutz, der auf seiner Homepage über den Zirkus Royal schreibt: „der Umgang mit den Tieren in der Manege … ist oft hektisch und wenig behutsam“. So habe ich’s nicht erlebt. Sogar die Tiger waren behutsam mit ihrer Gebieterin.

Also insgesamt ein wehmütiger Abend. Ein innerer Abschied von einem Zirkus mit Wasserlachen vor dem Zelt, mit Tiergeruch, mit Artisten, die alles geben, nicht nur für ihre Nummer, sondern für den Zirkus, mit der Poesie der Zerbrechlichkeit. Was bleiben wird, ist der Regulierungszirkus, diese Myriaden gutgemeinter Vorschriften, jede einzelne sinnvoll — aber in ihrer Gesamtheit kein Traum, sondern ein Albtraum.

Ferienlektüre

Urs Birchler

Spass am Lesen und gleichzeitig das wohlige Gefühl etwas fürs Fach zu tun? Für Ökonomen dieses Jahr kein Problem. Hier drei Empfehlungen:

  • von Braun, Christina, Der Preis des Geldes: Eine Kulturgeschichte (Aufbau Verlag), 2012.
  • Sedláček, Tomáš, Die Ökonomie von Gut und Böse (Hanser Wirtschaft), 2012. (Hat-tip: Marc Chesney)
  • Graeber, David, Schulden. Die ersten 5000 Jahre. (Klett-Cotta), 2012. [Englische Originalausgabe: Debt: The first 5000 years (Melville House), 2011.]

Ein früher Pfiff des Bademeisters

Monika Bütler

„Aufgrund der für die Regulierung massgeblichen risikogewichteten Eigenmittelquote (Verhältnis zwischen Eigenmitteln und risikogewichteten
Positionen) liegen sie (MB: die Grossbanken) im internationalen Vergleich allerdings weiterhin auf den vorderen Rängen. Wird dagegen die ungewichtete Eigenmittelquote (Verhältnis zwischen Eigenmitteln und Bilanzsumme) als Massstab herangezogen, ist die Eigenmittelausstattung der Grossbanken im internationalen Vergleich nach wie vor niedrig.“

Der Satz stammt aus dem Bericht zur Finanzstabilität (Financial Stability Report) der SNB von – Juni 2006 (mit Daten bis 2005!).

Haben CS und UBS genügend Eigenmittel?

Urs Birchler

Die Meinungsverschiedenheit zwischen SNB und den Grossbanken ist dem breiteren Publikum der Steuerzahler — um deren Geld geht es nämlich — nicht ganz einfach zu vermitteln. Versucht sei es wenigstens.

Genügend Eigenmittel ist immer Eigenmitel pro irgendwas. Im einfachsten Fall pro Bilanzsumme einer Bank. Das ist wie beim Hauseigentümer: Die Bank verlangt, dass er das Haus nur zu 80% mit Schulden belastet und 20% des Immobilienwertes selber, aus dem eigenen Sack, berappt.

Im anspruchsvolleren Fall bezieht man die Eigenmittel auf die sogenannten risikogewichteten Anlagen der Bank (die RWA, für risk weighted assets). Das wäre, wie wenn die Bank vom Hauseigentümer Eigenmittel verlangte in der Höhe von (beispielsweise): 10% des Grundstückwerts (da dieser risikoarm ist), 30 Prozent des Wohnzimmers, 50% des Kellers (da feuchtigkeitsgefährdet) und 120% der (potentiell explosiven) Gasheizung.

Welcher Ansatz ist der richtige: die Pauschallösung pro Bilanzsumme (Leverage Ratio) oder die (einzel-)risikogerechte Lösung (auf Basis der RWA unter Basel II und III)? Grundsätzlich wäre der risikogerechte Ansatz wohl der richtige — liessen sich die Risiken einer Bank denn hinreichend genau messen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zum einen ist die Messung (und die Aggregation) der Risiken schon konzeptionell schwierig. Zum andern versuchen die Banken auch, den gemessenen Risiken auszuweichen. Mit den gemessenen Risiken verschwinden aber nicht unbedingt die effektiven Risiken. Der Hauseigentümer, der auf die Gasheizung verzichtet, braucht — in unserem Beispiel — weniger Eigenmitteln. Was aber, wenn er insgeheim mit Propangas aus der Flasche kocht? Dann hat er das Risiko in den eigenmittelfreien Bereich verschoben.

Ein Arbeitspapier des IMF zeigt sehr sorgfältig, dass die risikogewichteten Assets (RWA) ein unzuverlässiges Mass der Risiken einer Bank sind. Die Autorinnen legen auch dar, dass es grosse Unterschiede zwischen Banken, vor allem auch zwischen Banken aus verschiedenen Weltregionen gibt.

Am deutlichsten zeigt sich die Unzulänglichkeit der Risikogewichtung gegenwärtig in der Behandlung von Staatsanleihen. Diese werden in den meisten Ländern mit niedrigen Risikogewichten, wenn nicht mit null, gezählt. Die Grafik (ursprüngliche Quelle: Standard&Poor’s und Bloomberg) zeigt, dass Guthaben gegenüber Staaten nur für 1% der Eigenmttelerfordernisse der international tätigen Banken verantwortlich sind. Bei einer solchen Rechnung fehlen schnell einmal ein paar Prozentpunkte an Eigenmitteln, wenn sich eine Krise verschärft. Drum leuchtete wohl bei der SNB das Alarmsignal auf. Genauso schöpft ein Bankier Argwohn, wenn der Hauskäufer behauptet, er brauche dank auschliesslich krisenfester Bauweise und Ausstattung zu seiner Hypothek nur 1,7% Eigenmittel.

Bezogen auf die risikogewichteten Aktiven gehören die Schweizer Grossbanken zu den besser kapitalisierten der Welt. Bezogen auf die Bilanzsumme sind sie jedoch im Tanga unterwegs. Kein Wunder hat der Bademeister gepfiffen.

Good bye Elinor Ostrom

Mit grosser Trauer haben wir heute vernommen, dass die amerikanische Politikwissenschafterin Elinor Ostrom, Nobelpreisträgerin für Ökonomie 2009, gestorben ist. Elinor war in vieler Hinsicht ein Vorbild sowohl für Ökonominnen als auch für Politikwissenschaftler.

Hier ist die Begrüssungsrede, die ich bei ihrem Besuch an der Universität St. Gallen vor nur einem Jahr halten durfte:

Who would be a better person to stand for the mission of our newly founded School of Economics and Political Science? Who would be the perfect figurehead for a University which aims at excellence in research and teaching, but also at diversity, international visibility and interdisciplinary research? Elinor Ostrom epitomizes the successful combination of insights and methods from Political Science and Economics.

I vividly remember how my colleagues in economics, at least those who were familiar with Elinor’s work, did not mind a bit that a Political scientist was going to receive the highest honor in our own field. At the same time Elinor Ostrom is a cheerful likeable person who sticks out in many other ways, particularly among her generation.

„To an outside observer, my career may look rather successful at the current time. Has it always been this way?“ Elinor Ostrom asks in her article „A Long Polycentric Journey“ (an exciting reading I would recommend to all of you). „To be honest, the answer is no“ she goes on. It is very fascinating to read how Elinor Ostrom dealt with the many obstacles she faced as a young ambitious woman at that time. I also realized with a smile that she ignored the same two pieces of advice as I did many years later. The first was that the best major for a girl was in education – to become a teacher. The second was that one should not only diversify financial assets but also the professions in a marriage.

Probably I would not have dared to invite Elinor Ostrom to St. Gallen. My colleagues in Political science tried. And here she is. I am very proud to be the dean of such an active school and of course to have the privilege of welcoming Elinor Ostrom to our University.

 

Ergänzungen zu Ergänzungsleistungen

Viele Medien nahmen in den letzten Tagen (endlich) das Problem mit den Ergänzungsleistungen auf. An unserem Institut beschäftigt uns die Frage allerdings schon lange (siehe hier und hier und hier). Dass die Individuen auf Anreize reagieren ist wohl eines der robustesten Ergebnisse empirischer Forschungen.

Die Anreize sind gerade bei den Ergänzungsleistungen enorm: Wer im Alter 90% der vollen Rente aus der AHV erhält (circa 25‘000 Franken), nur ein kleines Vermögen besitzt (wenige 10‘000 Franken) und bei der Pensionierung weniger als circa 180‘000 Franken Alterskapital hat, fährt mit einem Kapitalbezug besser. Weshalb? Wenn die Person ihr Altersguthaben verrentet erhält sie zur AHV Rente eine jährliche BVG Rente von rund 12‘000 Franken. Zusammen also gerade etwa so viel wie wenn sie keine BVG Rente erhielte und den Rest ihres Lebensbedarfs mit Ergänzungsleistungen decken würde, rund 37‘000 Franken pro Jahr. Lieber also das Kapital beziehen und wenn es aufgebraucht ist, EL beantragen.

In der Realität sind die Anreize noch grösser: EL müssen im Gegensatz zu den BVG Renten nicht versteuert werden, viele Rentner haben Lücken in der AHV (sie bräuchten somit noch mehr BVG Kapital) und der Kapitalbezug wird gegenüber der Rente steuerlich begünstigt. Deshalb ist es auch für viele Mittelständer „günstiger“, das Kapital zu beziehen. Das ist ihnen nicht zu verargen. Von den zusätzlichen Anreizen, die von den EL als faktische Pflegeversicherung ausgeht, noch gar nicht zu reden.

Die Frage ist nur was tun. Hier sind einmal vier Möglichkeiten:

1)   Obligatorische Verrentung: Keine Kapitaloption mehr.

2)   Mindestverrentung: Obligatorische Verrentung bis zum Niveau, welches für durch die EL gesichert ist. Wer grössere Lücken in der AHV ist, muss entsprechend mehr verrenten.
Variante 2a) obligatorische Verrentung nur des obligatorischen Teils des BVG.

3)   Verschärfung der Bedürftigkeitsprüfung auf das Niveau der heutigen Sozialhilfe: Bevor EL beantragt werden können, müsste somit das ganze Vermögen verzehrt werden.

 Gemäss unseren Simulationen senken alle Möglichkeiten die zu erwartenden Kosten für die EL (siehe Tabelle unten). Alle haben Vor- und Nachteile. Die obligatorische Verrentung schränkt Menschen mit einer kürzeren Lebenserwartung massiv ein (und begünstigt daher eher die besser gestellten). Bei der Variante 2a) besteht die Gefahr, dass Anreize geschaffen werden – sowohl für Versicherte wie auch für Pensionskassen – Alterskapital als überobligatorisch auszuweisen. Option 3), welche keine Einschränkung des Kapitalbezugs vorsieht führt ebenfalls zu einer starken Reduktion der erwarteten EL Kosten. Dies aus zwei Gründen: Erstens direkt durch den vollständigen Vermögensverzehr. Zweitens indirekt: Für den Mittelstand wird der Kapitalbezug unattraktiver und ein grösserer Teil der Leute entscheidet sich für eine Rente.

Was würden die Individuen selber wählen, müssten sie sich für eine der 3 obigen Möglichkeiten entscheiden? Wir haben nachgerechnet: Wenig überraschend ist die obligatorische Verrentung des gesamten Alterskapitals für alle am wenigsten attraktiv (wir hätten uns verrechnet, wenn dies anders rausgekommen wäre). Die beiden anderen Optionen unterscheiden sich nur wenig. Insbesondere für die Versicherten mit kleinerem BVG Kapital schwingt die Variante 3) etwas oben aus: Lieber etwas strengere Bedürftigkeitsprüfungen als eine Einschränkung des Kapitalbezugs. Für den Staat wären die Kosten vergleichbar. (Legende: Meanstested benefits = Status quo; Mandatory annuitization = Option 1), obligatorische Verrentung; Minimum income requirement = Option 2); Consumption Floor = Option 3))

 

Tabelle: Kosten für verschiedene Formen der Grundsicherung im Alter in 1000 Franken für eine alleinstehende Person über die gesamte Rentenphase. Bei allen vier Massnahmen wird derselbe Mindestkonsum garantiert (3000/Monat für Alleinstehende). Konsumgarantie = Option 3), Verschäfung der Bedürftigkeitsprüfung.