Sollen Versicherungen Gentests verwenden dürfen?

Publiziert in der NZZ am Sonntag vom 20. Mai 2012 (unter dem Titel: Wenn Versicherungen Gentests verlangen dürften)

Die Wirklichkeit war wieder einmal schneller. Vor zwei Jahren schlug ich in der NZZ am Sonntag höhere Renten für Dicke und Raucher vor. Damit wollte ich nur zeigen, was die Forderung nach risikogerechten Prämien für Renten und Krankenkassen bedeutet. Zu dieser Zeit wurden in England allerdings bereits Verträge über sogenannte „enhanced annuities“ (aufgebesserte Renten) angeboten. Regelmässige Raucher, Übergewichtige oder ehemalige Minenarbeiter – also Menschen mit einer kürzeren Lebenserwartung – erhalten damit eine substantielle Rentenaufbesserung.

Von Risikoselektion profitieren manchmal auch Benachteiligte. Dennoch beschäftigen uns eher die Fälle, in denen sie darunter leiden. Wen Gentests zum Hochrisiko stempeln, kann sich nur noch unter höheren Kosten versichern oder – meistens – gar nicht. Richtig Angst macht, wenn genetische Informationen sogar über Leben entscheiden können. Weil die Eltern behinderter Kinder nicht nur die Betreuung bewältigen müssen, sondern auch noch finanzielle Folgen befürchten.

Wie würden Menschen entscheiden, bevor sie wüssten ob sie reich oder arm, gesund oder krank, als Mann oder Frau geboren werden? Klar: sie würden sich für Versicherungen entscheiden, die nicht nach angeborenen Risiken unterscheiden. Der „Schleier der Ungewissheit“ taugt allerdings wenig in einer Welt, die vor Informationen nur so strotzt. Schon vor mehr als 40 Jahren bemerkte der Ökonom Jack Hirshleifer, dass mehr Informationen nicht immer zu mehr Wohlstand führen. Eben weil sie die Möglichkeit nehmen, sich gegen gewisse Schäden zu versichern.

Doch was tun wir mit immer mehr Informationen, immer billigeren und zuverlässigeren Tests? Verbieten? Gar nichts?

Gar nichts ist oft besser als regulatorischer Übereifer. Wir vergessen, dass dieselbe Information für eine Versicherung ein Vorteil, für eine andere ein Nachteil ist. Beispiel Geschlecht – etwas, was man den meisten ohne Gentests ansieht: Frauen sind für die lebenslange Rente ein schlechtes Risiko (weil sie länger leben), für die Lebensversicherung hingegen ein gutes (weil sie länger leben). Viele Diskriminierungen heben sich daher gegenseitig ungefähr auf. Leider nicht alle: Wenn sich Menschen nicht mehr gegen wichtige Lebensrisiken versichern können, taugt Laisser faire definitiv nichts.

Heikle Informationen lassen sich auch nicht verbieten. Wer über vorteilhafte Informationen verfügt, wird diese auch kommunizieren wollen, wenn bessere Bedingungen locken. Wer dies nicht kann oder nicht will, hat das Nachsehen. Zudem: Wir geben scheinbar harmlose Informationen preis, ohne zu merken, dass diese versicherungstechnisch heikel sind. Der Schulabschluss verrät die Lebenserwartung, die Schuhgrösse das Geschlecht. Versicherungen wissen daher oft mehr über uns als wir selber – und zwar nicht wegen der nun kritisierten Gentests.

Kann denn den Versicherungen wenigstens untersagt werden, genetische Informationen in ihren Verträgen zu berücksichtigen? Rechtlich schon, in der Praxis wird es teuer – für alle. Denn Versicherungen und Versicherte passen sich an. Gewisse Verträge werden nicht mehr angeboten, andere nur noch als Paket. Die guten Risiken versichern sich nicht mehr, was eine Versicherung der schlechten Risiken noch schwieriger macht. Auch Wahlmöglichkeiten für die Versicherten sind heikel – sogar in obligatorischen Versicherungen: Sie erlauben nämlich eine Selbstselektion der guten Risiken.

Das heisst nicht, dass wir Menschen mit versicherungstechnisch ungünstigen Genen und Eltern behinderter Kinder keine Sicherheiten bieten können. Wir müssen sorgen, dass wenigstens die Sozialversicherung die Schwächsten angemessen gegen die finanziellen Folgen von Krankheit, Erwerbslosigkeit und Alter schützen. Sozialversicherung müssen die Individuen auch versichern gegen das Risiko ein schlechtes Risiko zu sein. Ohne Wenn und Aber.

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