Zirkusträume

Urs Birchler

Wir sollten träumen, bat der Zirkusdirektor zu Beginn der Vorstellung. Der Traum, das halbvolle Zelt möge sich noch füllen, blieb allerdings unerfüllt. Offenbar gilt auch in der Zirkuswelt mittlerweile „the winner takes all“, wo nur noch Superstars zählen, wo alle nur noch das Beste gesehen haben wollen. Und das traut man nicht dem kleinen Zirkus Royal zu, der am Stadtrand an der Stelle eines geschleiften Fussballstadions gastiert.

An den Darbietungen kann es nicht liegen. Natürlich ist die Artistik vielleicht nicht ganz Weltspitze, aber vieles ist ausgezeichnet, wie beispielsweise der Jongleur, dessen Ballkünste dem verschwundenen Stadion Hohn spotten. Und dann die blonde Dame die ihre Tiger (1 ♂, 4 ♀) straff im Zaum hält und dafür mit einem Gutenachtkuss belohnt wird.

Aber die beste Nummer ist eine versteckte: Das Sparprogramm. Der ganze Abend wird von ca. 8 Artisten (plus wenige Hilfskräfte) bestritten, wobei einige zwei hinreichend verschiedene Nummern anbieten. Und Pausenglacé verkauft halt der Schlangenmensch gleich selber. Zum Thema Frühpensionierung tritt der Alt-Patron (deutlich über 70) des Zirkus Medrano mit seinen Kamelen auf. Seinem eigenen Zirkus brach vor zwei Jahren die Fussball-WM plus Hitzewelle das finanzielle Genick. (Auch die Zusammenarbeit mit pro specie rara half nichts. Hinterwäldler-Rind wollen die Schweizer dann doch lieber auf dem Bio-Teller sehen als im Zirkusrund).

Zirkus mit Tieren — die Quadratur der Manege. Wegen der vielen Ortswechsel wird ein Zirkus bis zu 45 mal im Jahr veterinäramtlich kontrolliert (laut Aussage des Direktors). Dazu kommt der Tierschutz, der auf seiner Homepage über den Zirkus Royal schreibt: „der Umgang mit den Tieren in der Manege … ist oft hektisch und wenig behutsam“. So habe ich’s nicht erlebt. Sogar die Tiger waren behutsam mit ihrer Gebieterin.

Also insgesamt ein wehmütiger Abend. Ein innerer Abschied von einem Zirkus mit Wasserlachen vor dem Zelt, mit Tiergeruch, mit Artisten, die alles geben, nicht nur für ihre Nummer, sondern für den Zirkus, mit der Poesie der Zerbrechlichkeit. Was bleiben wird, ist der Regulierungszirkus, diese Myriaden gutgemeinter Vorschriften, jede einzelne sinnvoll — aber in ihrer Gesamtheit kein Traum, sondern ein Albtraum.

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