Urs Birchler
Vorgestern, früher Abend. Regen, Pfützen voller Lichtreklamen, hupende Autos, Verspätungsmeldungen aus den Lautsprechern der Tramhaltestellen. Nicht einmal der kleine Chor der Heilsarmee hat heute Zeit, sich dem Strom der eiligen Fussgänger entgegenzustellen.
Drinnen, in der Lebensmittelabteilung des Warenhauses duftet es nach Luxus und nach Weihnachtsabend. Mein einziger Kauf: Ein Döschen Kaviar. Ich habe noch nie im Leben Kaviar gekauft, wusste daher nur, dass er teuer ist. Aber so teuer?! Beschämt über meinen Geiz – es soll ja ein Geschenk werden – und gleichzeitig über meinen Hang zur Verschwendung entscheide ich mich schliesslich für ein Döschen (das mittlere).
Angesichts meines scheinbar mageren Einkaufs bietet mir an der Kasse eine Kundin den Vortritt an. Ich nehme gerne an, auch Zeit ist kostbar. Beim Bezahlen sehe ich eine dicke Brieftasche daliegen und erwische die rechtmässige Besitzerin gerade noch bei der Rolltreppe. Stolz über die gute Tat gebe ich meinen Kreditkarten-Pin ein und achte darauf, die eigene Brieftasche auch wirklich einzustecken. Ich danke der freundlichen Dame hinter mir nochmals fürs Vorlassen und stürze mich wieder ins Getümmel der Einkaufstaschen und Lichter.
Kaum wieder im Regen durchfährt mich der Blitz: Der Kaviar!!! Manteltaschen, Plasticsack — nichts. Ich habe, fixiert auf meine Brieftasche, das Döschen liegenlassen. Keine Zeit, mich einen Idioten zu schimpfen; zurück, Rolltreppe runtergerannt, zur Einpackzone hinter der Kasse. Noch einen Blick vor der Wahrheit steht alles still: mein Atem, mein Herz, die Zeit. Auch die Menschen. Man hat mich erwartet. Drei Gesichter — die geduldige Dame, die Kassierin und ein Kunde von der Kasse daneben — lächeln mir zu, milde wie die drei Könige dem Kinde. In ihrer Mitte liegt glänzend wie ein Geschenk mein kostbares Döschen für mich bereit. Weihnachten.