Fama: „dramatisch“ mehr Eigenmittel

Urs Birchler

Gestern hat Eugene Fama den Nobelpreis erhalten, morgen gedenken wir der UBS-Rettung vor fünf Jahren. Die Verbindung zwischen den beiden Ereignissen findet sich in einem früheren Batz-Beitrag über ein Fernsehinterview mit Eugene Fama vom Fri 28 May 2010 (Video).

Fama spricht im Interview über die hohe (Informations-)Effizienz der Finanzmärkte und deren Rolle in einer Marktwirtschaft sowie (gegen Schluss des Interviews) über TBTF (faktische Staatsgarantie für Banken) als den Markt pervertierenden Eingriff („Dies ist nicht Kapitalismus“). Die richtige Medizin sieht er nicht in einer — meist nutzlosen — Detail-Regulierung sondern in „dramatisch höheren Eigenmittelanforderungen“ für Banken, „nicht von drei Prozent auf fünf Prozent, sondern auf vielleicht 40 oder 50 Prozent“ (gemeint in Prozenten der Bilanzsumme).

Nobel Prize 2013

Monika Bütler und Urs Birchler

„I can calculate the motion of heavenly bodies, but not the madness of people“, stellte Isaac Newton entnervt fest, nachdem er sein Vermögen im Aktienmarkt verloren hatte.

Die diesjährigen Empfänger des Wirtschaftsobelpreises ehrt drei Forscher, die Newton’s Anregung aufgenommen haben und versuchten, die Bewegungen der Preise finanzieller oder realer Anlagen wie Aktien, Bonds, Immobilien zu verstehen. Genauer: Sie haben die Instrumente entwickelt, die die Vorhersehbarkeit solcher Preise untersuchen.

  • Eugene Fama:
    Fama fragte sich: Sind künftige Aktienpreisbewegungen prognostizierbar, z.B. aufgrund vergangener Preisbewegungen? Und: Wie schnell geht neue Information in die Preisbildung ein? Seine Resultate wurden bekannt unter dem Titel „Efficient Market Hypothesis“: Die Marktpreise enthalten stets alle (mindestens die öffentlich bekannten) Informationen; vergangene Preise sagen deshalb nichts über die Zukunft. [Korrektur: Im ursprünglichen Text hatten wir Fama auch noch das CAPM angedichtet, für welches bereits 1990 William Sharpe und Harry Markowitz ausgezeichnet wurden.]
  • Robert Shiller:
    Robert Shiller nahm Fama’s Ball auf: Wenn Aktienpreise über kurze Zeiträume nicht prognostizierbar sind, dann vielleicht über längere Zeiträume! Aktien schwanken viel zu stark im Verhältnis zu den Schwankungen der Dividenden. Über- und Unterbewertungen im Verhältnis zu Aktien liefern sogar eine Prognose über mittelfristige Kursbewegung. Mit seinem Buch Irrational Exuberance (2000) warnte Shiller vor der Internet Bubble (die kurz darauf platzen sollte). Shiller hat auch wichtige „Handwerksarbeit“ geleistet: Der Case-Shiller-Index (mit Subindizes) ist der Index der amerikanischen Immobilienpreise. Shiller ist durch seine Forschung auch zum Pionier der Behavioral Finance geworden, einem Zweig der Ökonomie, der eine Reihe von Verhaltensmustern identifiziert hat, die nicht mit dem homo oeconomicus im strikten Sinne vereinbar sind.
  • Lars Peter Hansen:
    Dass der dritte Geehrte, Lars Peter Hansen, viel weniger bekannt ist als die beiden anderen, hängt mit der Art seiner Forschung zusammen. Er entwickelt nämlich statistische Methoden um rationale Bewertungsmodelle zu testen. Sein bekanntester Beitrag ist die sogenannte Generalized Method of Moments, die er bereits 1982 (!) im Alter von 30 Jahren entwickelte. In der Zwischenzeit hat seine Methode weit über die Finance hinaus eine breite Anwendbarkeit erlangt. Lars Peter Hansen interessiert sich insbesonder für die makroökonomischen Implikationen der Finanzmärkte. Denn die Preise auf den Finanzmärkten werden nicht nur beeinflusst durch makroökonomische Grössen wie Produktion, Konjunkturbewegungen und Staatseingriffe, sie beeinflussen diese im Gegenzug auch.

Die drei Forscher, vor allem Fama und Shiller, haben auch die Praxis stark beeinflusst. Fama’s Nachweis, dass sich mit kurzfristiger Aktienprognose kein Geld verdienen lässt und dass „Stock Picking“ Zeitverlust ist, bereitete den Boden für den Erfolg der Indexfonds. Auch den Chartismus, der versucht die aufgrund von Kursen aus der Vergangenheit mittels Trendlinien und typischen Mustern die künftigen Preise vorhersagen wollen, entlarvte die Forschung von und nach Fama als Lesen im Kaffeesatz. Shiller hat gezeigt, dass es — entgegen Famas Auffassung! — auf den Finanzmärkten „Bubbles“ gibt und weshalb diese manchmal so „vernunftresistent“ sind. Hansens Einfluss auf die Praxis ist eher indirekt. Immerhin basieren sehr viele der heute in den Notenbanken verwendeten Modelle auf seinen Arbeiten.

Mit der Wahl des Themas Assetpreise ehrt das Nobelpreiskommitee Arbeiten, die zum Verständnis von Finanzkrisen beitragen. Die Überbewertung von Immobilien stand am Anfang der noch nicht überwundenen Finanzkrise von 2007-08. Und wer weiss, wohin die von Notenbankgeld getriebenen Kurssteigerungen an den Börsen noch führen werden — dies vielleicht der versteckte Wink des Kommitees.

Teure Eigenmittel, billige Wissenschaft

Urs Birchler

Der unbedingte Glaube, Eigenmittel seien für die Banken teuer (im Vergleich zu Fremdmitteln, d.h. Schulden) kommt mehr und mehr ins Wanken. Das Buch The bankers‘ new clothes von Martin Hellwig und Anat Admati hat einem weiteren Leserkreis klar gemacht, dass es sich um einen Aberglauben handelt. In der Schweiz drängen SP und SVP denn auch auf strengere Eigenmittel-Anforderungen.

Jetzt bekommen die Banken Hilfe aus Wissenschaft und Presse. Schon im April lancierten Harry de Angelo und René Stulz ein Working Paper, in welchem sie die These von den teuren Eigenmitteln verteidigen. Das Argument: Bankeinlagen sind beim Publikum wegen ihrer Liquidität geschätzt, deshalb kosten sie die Banken weniger als Eigenmittel. Bereitwillig ist The Economist in der letzten Ausgabe unter dem Titel („Capital Punishment“) aufgesprungen und titelt: „Forcing banks to hold more capital may not always be wise“.

Die Bankenvertreter werden es mit Genuss gelesen haben. Sie hätten aber das Original-Papier lesen müssen. Dort passt nämlich einiges nicht zusammen. Beispiel: de Angelo und Stulz nehmen in ihrem Modell an, dass die Banken risikolose Portefeuilles halten. Wenn die Banken aber risikolos sind, so können sie sich natürlich problemlos zu 100% mit Fremdmitteln (Einlagen) finanzieren. Ein Schiff, das auf dem Trockenen steht, braucht auch keine Rettungsboote. Dass die Banken in Wirklichkeit nicht risikolos sind, müsste sich zwar herumgesprochen haben. Und, dass sie gerade dann, wenn sie wenig Eigenmittel haben, d.h. stark fremdfinanziert sind, gerne hohe Risiken eingehen, käme dann noch dazu.

Eine ausführlichere Kritik des Modells von de Angelo und Stulz muss ich meinen Fachkollegen überlassen. Aber soviel sei festgehalten: Offenbar ist es schwierig (wenn nicht unmöglich), ein solides Argument zugunsten der teuren Eigenmittel zu führen. Wenn es René Stulz nicht schafft (er ist einer der renommiertesten Finance-Professoren und war lange Herausgeber des Journal of Finance), wer dann?

Die Behauptung, Eigenmittel seien teuer, bleibt daher einstweilen, was sie war: eine — ziemlich leere — Behauptung.

Zürich spart

Urs Birchler

Wie die Presse meldet, hat Zürich kein Geld, um die Wanderwege am Uetliberg zu unterhalten. Erste Zweifel keimen aber bereits am Fuss des Zürcher Hausbergs, genauer: bei der Tramschleife Laubegg. Diesen Sommer war diese — mit Budget-Mischung besät — vielleicht die schönste Tramschleife Zürichs (erstes Bild). Leider war dies offenbar zu billig. Nach mehrwöchigen Bauarbeiten prangt die Schleife (zweites Bild) in neuem Schmuck aus Kies und vorbereiteten Mini-Pflanzbeeten, das Ganze umrahmt mit einer Reihe von Steinen, die zwar offenkundig nicht von Zen-Mönchen gesetzt wurden, aber dennoch auch auf der Rechnung stehen dürften.

Ästhetisch dürfen wir nicht vor nächstem Sommer urteilen. Polit-ökonomisch vermuten dürfen wir bereits jetzt: Die Sparübung am Uetliberg riecht nach Alibi. Verwaltungen versuchen ihre Gesetz-(und Geld-)geber gerne unter Druck zu setzen, indem sie dort sparen, wo es sichtbar ist und weh tut, damit das Geld für weniger Nützliches weiter sprudelt.

Überhaupt: Wollte die Stadt nicht Gemüse in die Tramschleifen pflanzen? Die Kiesschleife Laubegg sieht jedenfalls nicht danach aus. Drum suchte ich im Internet. Und fand Unerwartetes: Meinen Suchbefehl „grün zürich gemüse tramschleifen“ beantwortete Google mit einer poetischen Gegenfrage: „Meinten Sie ‚grün zürich gemüse traumschleifen‚?“

In diesem Sinne: Gute Nacht!

LaubeggVor
LaubeggNach

Sparsocken

Unser Jüngster spielt Fussball bei den E-Junioren. Nach dem letzten Match entspann sich folgende E-Mail-Korrespondenz (Namen geändert, Text original):


Liebe Eltern
befindet sich in einer Club-Tasche Antons zweite grüne Stulpe sowie darin eine schwarze Angry Birds-Socke?


Hallo
Boris vermisst folgendes:
– Trainingsjacken
– Stulpen
– Trainings-T-Shirt


Carlo vermisst:
– grüne kurze Club-Hose (ohne Namen).
Carlo hat übrig:
– Club-Regentrainerjacke (ohne Namen).


Der real existierende Realtausch ist offensichtlich selbst dann mühsam, wenn die Bedürfnisse eigentlich gegenseitig übereinstimmen müssten (double coincidence of wants).

In den Wirtschaftslehrbüchern wird mit der Mühsal der Tauschwirtschaft gerne die Existenz des Geldes als Tauschmitel erklärt. Wie kommt — ohne Geld — der Friseur zu seinem Braten, wenn der Metzger kahl ist? Oder die Socke wieder zur Stulpe?

Jetzt bin ich plötzlich nicht mehr sicher. Im vorliegenden Fall würde Geld als Tauschmittel wenig nützen. Seine Stärke liegt daher wohl eher in der Wertaufbewahrung. Dazu eignet es sich besser als eine gebrauchte Angry Birds-Socke. Drum ist der stabile Geldwert so wichtig. Und drum haben Währungen, die morgen alles oder nichts wert sein können, wie die Bitcoins keine wirkliche Chance. Jedenfalls nicht gegen stabile Währungen. Wenn natürlich die grosse Hyperinflation kommt, dann liegt die Währung von morgen vielleicht heute schon in Mutter Shaqiris Sockenschublade.

Banking Union in der Schweiz

Ich war am Montag nicht in erster Linie wegen des (Wintermantels) in Wien, sondern für ein Referat bei Erste Bank zum Thema „European Banking Union — a Swiss Perspective“. Dazu wurde sogar ein Trailer gedreht:

Hier die Kurzfassung:

In der Schweiz sind die politische Union (1848) und die Währungsunion (1848: Münzen; 1907: Banknoten) zuerst erfolgt. Anschliessend folgte über einen längeren Zeitraum (1834-2011) verteilt die „Bankenunion“ (zentrale Aufsicht, einheitliches Sanierungsrecht, harmonisierte Einlagenversicherung). Das Beispiel Schweiz zeigt, dass für eine erfolgreiche Bankenunion nicht nur das Konzept stimmen muss, sondern, dass der Erfolg im Detail liegt.

Wichtig für die EU-Staaten wären insbesondere das Konkursprivileg für Bankeinlagen und die Möglichkeit zur Zwangssanierung einer Bank unter Einbezug der Aktionäre und Gläubiger. Die diesbezügliche Gesetzgebung in der Schweiz bietet zahlreiche Anhaltspunkte, wie die Bestimmungen im einzelnen gestaltet werden müssten.

Zollunion CH-EU

Urs Birchler und Monika Bütler

Erster Akt. Flughafen Wien Schwechat, Terminal 3. Zwei Stunden bis zum Abflug nach Zürich. Im Handgepäck mein neuer Wintermantel. Da wir immer brav verzollen, möchte ich auch die „Detaxe“ (offiziell: Mehrwertsteuer-Rückerstattung) geltend machen. Darf man aber erst nach erfolgtem Check-in. Check-in ist weiter kein Problem, ausser dass ich den Koffer nicht abgeben darf, bevor die Steuerrückerstattung geregelt ist. Der Hinweis, dass ich die „Ware“ (ein fades Wort für meinen dunkelblauen Mantel) im Handgepäck habe, sticht nicht. Der Koffer muss zum Zollschalter und geht dann von dort direkt weiter nach ZRH.

Zweiter Akt. Am Zollschalter stehen zwei Dutzend nahöstliche Familien mit Bergen von Gepäck in der Warteschlange. Der Beamte, mit einer Hand am Telefon, stempelt geduldig ganze Bündel von Kaufquittungen. Nach 20 Minuten trotzdem noch kein Zentimeter weiter. Monika, als fast einzige Frau unverschleiert, macht ein besorgtes Gesicht. Daher Plan B: Im Terminal 1 hat’s auch einen Zollschalter.

Dritter Akt. Am Schalter in Terminal 1 kommen wir gleich dran. Nur: Hier können wir den Koffer nicht lassen, da er von Terminal 1 nicht nach ZRH kommt. Es gebe aber einen Zollschalter auch nach der Passkontrolle. Daher Plan C: Zurück zum Terminal 3, den Koffer halt doch einchecken und mit dem Handgepäck an den Zoll-Schalter hinter der Passkontrolle. Bis zum Einsteigen bleiben immer noch 30 Minuten. Sicherheitskontrolle mit Fehlalarm bei Monika. Bitte dahin stehen, gnädige Frau. Bitte Arme heben, etc. Zollschalter zwei Treppen höher.

Vierter Akt. Ein Beamter in bester Laune (er durfte grad frisch von der Nahost-Schlange an den ruhigeren Schalter wechseln) drückt den begehrten Stempel aufs Formular: Gleich nebenan erhalten Sie das Geld. Voreilig beglückt warten wir, bis am Auszahlungsschalter die Dame mit dem Kollegen auf Ungarisch fertig geredet hat. Immer noch 20 Minuten bis zum Einsteigen. Bis alles kontrolliert ist, bleibt Zeit, die Wechselkurstabelle zu studieren: Zwischen An- und Verkauf klafft eine Differenz von rund 30 Prozent. Zum Glück sind wir nicht zum Wechseln hier. Dachten wir jedenfalls. Die Dame will uns nämlich Schweizer Franken oder US-Dollars auszahlen: In Euro hätten sie eine Cash-Limite. Ist der Euro nicht offizielles Zahlungsmittel in Österreich? Bloss: Wie sollen wir das Recht auf Euro einklagen, ohne den Flieger zu verpassen? In der Zwischenzeit ist’s nämlich noch zehn Minuten bis zum Einsteigen. Gutschrift auf Kreditkarte? Ja, gerne. Nur dauert das weitere 5 Minuten.

Vierter Akt. Endlich ausbezahlt möchten wir gerne zum Gate. Jetzt platzt die Bombe: Da müssen Sie wieder aus der Flughafenzone raus und nochmals durch die Sicherheitskontrolle. Und wo lang bitte? Da zwei Treppen runter. Nichts wie los, nur leider Sackgasse. Zum Glück treffen wir auf eine Beamten. Wie kommen wir zu den F-Gates bitte, Einsteigen ist in 5 Minuten? Das können Sie gleich vergessen!

Fünfter Akt. Nach einem weiteren Fehlalarm bei der Sicherheitskontrolle (diesmal piepst’s bei mir) haben wir den Flieger im Schweisse nicht nur des Angesichts noch erwischt. Zum Glück wurden wir nicht als Schmuggler entlarvt, denn streng genommen hatte ich doch beim vorübergehenden Verlassen der Flughafenzone meinen neuen Wintermantel, ohne ihn zu verzollen, für kurze Zeit zurück nach Österreich eingeführt.

Per Saldo: 13% österreichische MWst gespart, 8% Schweizer Zoll bezahlt, für die esparten 5% (und das gute Gewissen) eineinhalb Stunden herumgeirrt, dass selbst Franz Kafka gestaunt hätte, und schliesslich noch fast den Flieger verpasst. Dazu die Arbeitszeit all derer, durch deren Hände die Formulare gehen. Volkswirtschaftlich ein sicheres Verlustgeschäft. Schmuggeln wäre billiger!

Drum unsere Folgerung: Zollunion mit der EU! Für Artikel bis 2’000 Franken am besten sofort. Die Schweiz übt sich dumm und dämlich, um mit der EU bezüglich Abgeltungssteuern auf verwalteten Vermögen oder einen Informationsaustausch ins Reine zu kommen, sie hofft auf ein Dienstleistungsabkommen, sie übernimmt laufend Regulierungen — aber das Einfachste geht vergessen: Ein Schengen-Abkommen nicht nur für Personen, sondern auch für Güter.

Batz.ch erteilt deshalb dem Bundesrat ein Verhandlungsmandat. Mal sehen, ob mein Wintermantel den Abschluss noch erleben wird.

„Armut“

Urs Birchler und Monika Bütler

Die Ferien sind vorbei, aber der Schock wirkt nach. Die Schlagzeile „Jeder 7. Schweizer von Armut bedroht“ erreichte uns in den Anden auf 3’500 müM. In Zürich hätte man gedacht: „Ach, schon wieder“, und hätte umgeblättert. Aber in Peru gelesen löst die Meldung Schreikrämpfe aus.

Monika hat in einem früheren Beitrag gezeigt, dass die international gebräuchliche relative Messung der Armut (z.B. die ärmsten 10 Prozent) absurd ist. Die Zielsetzung, die Armut zu halbieren erinnert deshalb an den Mathematiklehrer, der sagt: Ich möchte, dass möglichst viele in der besseren Hälfte der Klasse sind.

Das BFS misst die Armut ergänzend auch absolut, ausgehend von einem Existenzminimum. Dieses umfasst allerdings auch Versicherung, Kinobillette und selbstverständlich Fernsehen. Nicht berücksichtigt wird allerdings der Lebenszyklus (bereits gebatzt): Als Studenten waren wir gemäss BFS-Definition beide arm (und hatten es trotzdem lustig). Ebenfalls nicht berücksichtigt wird das Vermögen. Ein Rentner, der das Pensionskassenkapital anstelle einer Rente bezogen hat, wird dabei sofort „arm“. Wer sich einer brotlosen Kunst verschreibt, weil er eine Erbschaft erwartet, zählt ebenfalls als arm.

Wir haben hoch in den Anden und tief am Amazonas Menschen getroffen, die knapp ein Dach über dem Kopf haben, einige wenige Kleidungsstücke und grad genug zu Essen. Von einer Versicherung oder einem Kinobillet haben sie kaum je gehört, und die Schule wäre ein bis zwei Tage entfernt. Und jeder siebte Schweizer soll am Rande der Armut stehen!?

Weshalb nur brauchen wir solche eingebildeten Schreckmümpfeli? Ist das Leben in der Schweiz sonst zu langweilig? Oder kultivieren wir in der Schweiz eine „Insel der Angst“? (Siehe dazu den Beitrag über Ariel Magnus, ebenfalls im batz.ch).

Dass die Organisationen, die von der Armutsbekämpfung (bzw. von den zu diesem Zweck gespendeten Geldern) leben, unbelehrbar sind, ist noch verständlich. Aber warum nehmen die Medien (mit Ausnahme der BAZ) nicht zur Kenntnis, dass Armut in der Schweiz im wesentlichen eine statistische Fabel ist?

Service Privé

Monika Bütler und Urs Birchler

Reisen in der Schweiz. Da und dort trifft man auf den stillen Abbau des Service Public. Wir möchten (nur mit Rucksack) von Arosa nach Davos wandern und dann mit der Bahn weiter nach Muottas Muragl. Eine Tasche mit Reservekleidern soll schon mal per Bahn voraus. Nur befördert die RhB Reisegepäck nicht mehr zur Muottas Muragl Bahn (weder Berg- noch an die RhB-Talstation Punt Muragl); ja nicht einmal mehr zum Bündner Bahnknotenpunkt Filisur.

Samedan wäre im Angebot. Nur: die kurze Umsteigezeit erlaubt dort kein Abholen. Da springt der Bahnhofvorstand von Samedan grosszügig ein und offeriert, die Tasche aufs Perron zu bringen. Man müsse dann nur kurz vorher anrufen. Das macht die geplante Reise wieder möglich. Als der Zug verspätet ist, ruft der Stationsvorstand seinen Kollegen bei der Muottas-Muragl-Bahn an, es käme eine Familie etwas knapp, man möge doch notfalls mit der Abfahrt eine Minute warten.

Auf dem Rückweg hätten wir die Tasche gerne über Nacht am Bahnhof Filisur eingestellt. Doch: Der nur noch halb-bemannte Bahnhof (bei dem sich immerhin drei Linien kreuzen) bietet keine Gepäckaufbewahrung mehr. An Stelle des Service Public tritt aber wiederum ein freiwilliger Service Privé: Die Betreiberin des Bahnhofcafé, die auch die Billete verkauft, erlaubt uns, den Koffer eine Nacht neben dem Kühlschrank zu lagern.

Die private Flexibilität und der Sinn für pragmatische Lösungen kompensieren Lücken im offiziellen Angebot. Vielleicht ist es — so der Schluss aus unserer Wanderung — dieser Service Privé, der die Schweiz im innersten zusammenhält. Wieviel Abbau des Service Public er verträgt, bzw. kompensieren kann, ist allerdings die andere Frage.

Jedenfalls: Danke an die RhB, den Bahnhof Samedan (insbesondere Herrn Marco Kollegger) und ans Bahnhofcafé Filisur — mit den gemütlichen Tischen unter dem romantischen Vordach allein schon die Reise wert. (Ab ZH stündlich in 2h24, inbegriffen die Fahrt über den Landwasser-Viadukt).