Credit Suisse: Ist die Löschung der AT1-Bonds unfair?

In diesen Tagen wird immer wieder diskutiert, ob es fair war, die sogenannten AT1-Bonds zu löschen, während die Aktien geschont werden [AT1 = zusätzliches Tranche-1-Kapital]. Deshalb hier in aller Kürze ein Versuch, die Frage zu entschärfen.

Naheliegend ist die Interpretation, Aktienkapital sei das erste Verlustpolster einer Unternehmung. Erst danach kämen die Schulden, beginnend mit nachrangigen, dann „normalen“, dann privilegierten. Die AT1-Bonds, als Schulden gesehen, kämen dann tatsächlich erst nach den Aktien „zur Kasse“.

Richtiger ist es jedoch, AT1-Bonds als Versicherung zu sehen. Wenn das versicherte Ereignis eintritt, zahlt die Versicherung. Anders als be einer normalen Versicherung ist die Versicherungssumme schon zum voraus ausbezahlt. Der Grund: Wenn die Bank falliert, will die Aufsichtsbehörde nicht den Versicherern nachrennen müssen, um das Geld einzutreiben.

Das Geld liegt also schon bei der Bank, aber die Versicherer haben eine „Quittung“ (den AT1-Bond) erhalten: Tritt während der Laufzeit das versicherte Ereignis nicht ein, bekommen sie gegen diese Quittung ihr Geld zurück.

Interpretiert man die AT1-Bonds als Versicherung, wird klar, dass es nicht unfair ist, dass die Versicherung zahlen muss, bevor die Aktien gelöscht werden. Brennt das Bankgebäude nieder, kommt auch niemand auf die Idee, die Aktionäre und Aktionärinnen müssten zuerst bezahlen und erst danach die Feuerversicherung.

Soweit relativ einfach. Nur, wie immer bei einer Versicherung, lautet die entscheidende Frage: Was ist das versicherte Ereignis? Feuer und Hagelschlag sind einigermassen objektiv feststellbar. Nicht so, die Veränderungen im Zustand einer Bank. Ein Unterschreiten der Eigenmittelquote von x Prozent? Hängt von der Bewertung von Tausenden von Positionen durch die Bank, das Revisorat und die Aufsicht ab? Ausserordentliche Liquiditätshilfe durch die Notenbank? Ist beobachtbar, aber kein exogenes Ereignis. Dito eine Sanierungsmassnahme der Aufsicht. Schlitzohrige Behörden könnten durch ihre Massnahmen die Löschung der AT1-Bonds aktiv auszulösen.

Kurz: Das Problem ist nicht die (in den Emissionsprospekten klar vorgesehene) Löschung der AT1-Bonds bei Schonung des Aktionariats. Das Problem, und einiges Juristenfutter, liegt in der Definition des „Triggers“, der die Löschung auslöst.

Mein Medientagebuch zur Credit Suisse

Die vergangenen Tage war ich vollauf beschäftigt, Medienanfragen zum Thema Credit Suisse zu beantworten. Hier die Zusammenstellung:

Das Lohngefüge im öffentlichen Dienst steht schief

Monika Bütler

Meine NZZaS Kolumne vom 19. März 2023 („Einige Staatsangestellte verdienen zu viel, andere zu wenig – und das ist ein Problem“) in etwas ausführlicherer Form

Die Stadt Zürich erhält von einem grosszügigen Gönner 500 Millionen Franken. Einzige Auflage: die Mittel müssen für jene Angestellten eingesetzt werden, die in unentbehrlichen Berufen arbeiten und am Arbeitsplatz am meisten unter Stress stehen.

Der Gemeinderat beschliesst darauf: Die wöchentliche Arbeitszeit der Angestellten mit Schichtarbeit wird während vier Jahren auf 35 Stunden reduziert – bei gleicher Entlöhnung. In den Genuss kommen Mitarbeitende in Pflege und Betreuung, in der Reinigung, bei der Stadtpolizei und den Verkehrsbetrieben. Mit der Spende werden die zusätzlich notwendigen rund 1200 Vollzeitstellen finanziert. Der Versuch wird wissenschaftlich begleitet.

Den edlen Spender gibt es natürlich nicht. Alles andere jedoch entspricht genau der Realität, genauer: dem Mitte März 2023vom Zürcher Gemeinderat vorgeschlagenen Pilotversuch, eingeschlossen dessen vom Stadtrat geschätzten Kosten und der geplanten wissenschaftlichen Begleitung.

Als Gedankenexperiment hat der vorgeschlagene Pilotversuch auch ohne Gönner einen gewissen Charme. Er legt den Finger, wohl eher unbeabsichtigt, auf einen wunden Punkt. Bei den Anstellungsbedingungen öffentlicher Angestellter stimmt nämlich etwas nicht, nicht nur bei der Stadt Zürich: Das Lohngefüge im öffentlichen Dienst steht schief und dies schadet nicht nur dem Gemeinwesen, sondern auch der Gesamtwirtschaft.

Nicht erst seit der Pandemie wissen wir, dass die Belastung an der “Front”, d.h. in Bereichen wie der Pflege, der Polizei, der Müllabfuhr und den Verkehrsbetrieben hoch ist. Viel höher als bei administrativen Berufen, bei denen es – so mindestens lassen es viele Stimmen in den Medien vermuten – möglich wäre, die bisherige Leistung in weniger Zeit zu erbringen bei erst noch viel flexibleren Arbeitszeiten.

Aussagen über zu grosszügige Gehälter beim Staat sind deshalb teils verständlich, aber vor allem zu pauschal. In einigen Bereichen hat der Staat Mühe, Fachkräfte zu finden. In anderen, zum Beispiel bei gewissen Stabstellen, erhält der Bund dermassen viele Bewerbungen, dass selbst hochqualifizierte und genau aufs Profil passende Leute nicht einmal in die zweite Runde kommen.

Die einen verdienen zu wenig, die anderen zu viel – dies wäre meine lapidare Einschätzung als Ökonomin. Bei der öffentlichen Hand bestimmt hängt der Lohn tatsächlich in den allermeisten Fällen von zwei Dingen ab: von den geforderten (nicht den schwierig messbaren vorhandenen!) Kompetenzen und von der Ausbildung. Gleichzeitig berücksichtigen die Funktionsstufen der staatlichen Organisationen vieles nicht: Die unterschiedliche körperliche und psychische intensive Belastung nur am Rande, die Knappheit der verschiedenen Berufe gar nicht und den Nutzen für die Bevölkerung noch zuallerletzt.

Diese Verzerrungen haben ihren Preis. Die Angestellten in den unentbehrlichen Front-Bereichen, von der Kehrichtabfuhr bis zur Notfallaufnahme, müssen immer mehr leisten. Jene in den – sogenannt direkt produktiven – Dienstleistungsbereichen wie Betreuung oder Reinigung müssen immerhin mitansehen, wie administrative – sogenannt indirekt produktive – Berufe unter viel besseren Anstellungsbedingungen arbeiten: Der Job-Magnet Bürokratie funktioniert, weil die Verwaltung selber Stellen schaffen kann auf Kosten der Leute an der Front, die dies nicht können.

Die schiefen öffentlichen staatlichen Lohnstrukturen wirken weit über den Staat hinaus. Marktblinde Vergütungssysteme verzerren nicht nur die Studien- und Berufswahl. Zahlt der Staat „zuviel“, entweder direkt oder über eine geringere Arbeitsbelastung, fehlen dem Privatsektor die Fachkräfte. Oder sie sind zu teuer. Die internationale Konkurrenz limitiert die Löhne in den Privatfirmen stärker als die immer noch passiven privaten Steuerzahler die Löhne beim Staat. Dazu kommt noch, dass der Anteil der Steuerzahler aus der Privatwirtschaft dauernd abnimmt gegenüber jenem aus dem stark wachsenden öffentlichen Sektor.

Bei aller Kritik am vorgeschlagenen Zürcher Pilotversuch: Es ist richtig und wichtig, über die Arbeitsbedingungen von Pflege, Polizei und ähnlich gelagerten Diensten mit Schichtbetrieb zu diskutieren und Verbesserungen anzubringen. Aber welche? Hat jemand die Beschäftigten gefragt? Der Zürcher Vorschlag mit seinem Einheitsguetsli, einem höheren Stundenlohn via eine geringere Arbeitszeit, scheint reichlich paternalistisch. Vielleicht würde die eine Fachfrau Betriebsunterhalt oder der andere Flughafenpolizist lieber die ursprüngliche Arbeitszeit beibehalten, aber mehr verdienen. Oder ein bisschen von beidem.

Das Verstecken der Lohnerhöhung hinter einer verkürzten Arbeitszeit für einen Teil der Angestellten hat möglicherweise einen tieferen Grund. Der Pilotversuch riecht nach Trojanischem Pferd. Für einmal bedienen nämlich die Initianten aus linken Kreisen nicht primär die eigene Klientel – scheinbar. Dass dies nämlich kaum so bleiben wird, zeigt die Reaktion des Zürcher Finanzvorstandes Daniel Leupi: «Wir wollen auf keinen Fall den Lohnfrieden gefährden», meint er: eine 35-Stunden-Arbeitswoche nur für Angestellte im Schichtbetrieb würde das Gebot der Gleichbehandlung aller städtischen Angestellten verletzen. Als gäbe es sonst keine Ungleichbehandlungen …

UBCS — Einsprache, Hochwürden

In der Presse überstürzen sich die Meldungen, der Bundesrat orchestriere eine Übernahme der Credit-Suisse durch die UBS. Diese Idee wäre dermassen schlecht, dass ich wenigstens vor der Zwangsheirat noch Einsprache erheben will — nach dem Motto der Hollywood-Filme, in denen der Priester sagt: „Wenn jemand etwas gegen diese Verbindung einzuwenden hat, möge er jetzt sprechen oder auf ewig schweigen.“

Eine Übernahme der CS als Ganze oder in grossen Teilen, wäre zunächst ein Riesenlupf für die UBS selbst. Das weiss sie selber natürlich auch. Aber der Reiz, Retter zu sein, kann die Sinne vorübergehend trüben. Ich erinnere mich, als ich kurz nach der UBS-Rettung beim Nachtessen in der Jugendherberge Figino (TI) gefeiert wurde, als jemand aus einen welschen Unihockey-Team hörte, ich arbeite [damals] bei der Nationalbank. „Amis, il ya un de la BNS!“ schrie jemand, und dann wurde Schnaps aufgefahren. Trotzdem wäre die Integration der CS in die UBS tatsächlich eine Schnapsidee. Die Schweizer Banken haben nicht mehr die Rentabilitätsversicherung des Bankgeheimnisses in alter Form und den Komfort eines eher lahmen Wettbewerbs. Eine Bank wie die UBS hat im scharfen internationalen Wettbewerb selber genug zu kämpfen, ohne sich mit einem chronisch kranken Notfallpatienten abzumühen.

Eine Grossbank UBCS hätte in der Schweizer Bankenszene eine Sonderstellung als XL-Too-Big-To-Fail. Eine künftige Krise wäre noch schwieriger zu lösen. Ferner stünde eine solche Bank dauernd unter der Lupe der Politik. Handelt sie umweltfreundlich, genderneutral, angestelltenfreundlich im Sinne der Work-Life-Balance und nimmt sie auch ja kein Geld von jenen, die irgendwann als die Bösen gelten werden? Und wenn es etwas zu retten gibt: Die UBCS hat doch Geld. Alles recht und gut, aber es gibt auch die Ertrags-Kosten-Balance, ohne die alles andere auch nichts wird.

Was wäre denn mit dem Wettbewerb im inländischen Kreditgeschäft und auf dem Hypothekarmarkt. Bei der Fusion UBS-Bankverein im Jahr 1997 formulierte die Wettbewerbskommission immerhin eine Liste von Bedingungen, die den Wettbewerb schützen sollten. Und wollen wir eine Super-GrossBank, die fast zwangsläufig zur Marktführerin im Hypothekargeschäft würde, deren Zinssetzung also die Znssätze der anderen Banken mit sich zöge.

Vor allem ist eine Rettung durch die UBS — wenn wir den Behörden glauben durften — gar nicht notwendig. Die TBTF-Regulierung wurde in mehreren Schritten verschärft und verbessert. Heute kann eine Bank — mindestens ihre inländischen Teile — im Prinzip ohne Konkurs saniert werden. Bei der CS und ihren systemrelevanten Konkurrentinnen gibt es erstens die gesetzlichen Eigenmittel, die offenbar noch vorhanden sind. Zweitens gibt es zwei Tranchen von Anleihen, die automatisch von Schulden zu neuen Eigenmitteln werden, die erste bei Eigenmittelknappheit, die zweite bei einer Zwangssanierung unter Regie der Finma. Drittens gibt es die Konkursprivileg und Einlegerschutz für die „kleinen“ Einleger (bis 100’000 CHF). und last but not least, hat die Finma weitreichende Kompetenzen, eine Bank zu restrukturieren und notfalls entlang der „Sollbruchstellen“ aufzuteilen. Diese Architektur soll sicherstellen, dass Banken bei laufendem Betrieb saniert werden kömnnen und dass die Verluste von den Aktionären getragen werden, also von jenen, denen in einer Marktwirtschaft Gewinne und Verluste gehören.

Diese Regeln gehen letztlich auf die Bankenkrise der frühen 1990er Jahre — vor allem den Untergang der S+L Thun — zurück. Damals zeigte sich, dass es in der Schweiz bei einem Bankenproblem nur zwei „Lösungen“ gab: Konkurs mit Scherbenhaufen oder Rettung durch eine Gotte. Dreissig Jahre, ein Dutzend Expertengruppen sowie ein paar Gesetze später sind wir angeblich wieder am selben Punkt: Die Gotte UBS muss uns vor dem Scherbenhaufen retten.

Wenn das stimmt, sind wir einem Wolkenkuckucksheim — der Sanierung einer TBTF-Bank ohne öffentliche oder private Gönnerschaft — aufgesessen. Et mea culpa: Ich habe einen grossen Teil meines beruflichen Engagements in diese angebliche Illusion investiert. Und ich habe der Finma und der SNB geglaubt, dass der Werkzeugkasten in einer Krise angewendet und funktionieren würde. Und jetzt machen sie ihn nicht einmal auf.

Der Bundesrat sei daran erinnert, dass in vielen Ländern Banken auch einmal vorübergehend verstaatlicht wurden, bevor sie dann mit der notwendigen Geduld wieder in die Marktwirtschaft ausgewildert wurden.

Schlussbemerkung: Ich habe diesen Beitrag unter Zeitdruck, den Umständen entsprechend unvollständiger Information und im Schock über die Idee der UBCS-Fusion geschrieben. Für beruhigende Kritik bin ich äusserst dankbar.

50 Jahre und kein bisschen weiter?

Am 23. Januar 1973, einem trübkalten Dienstag, um 08.30 Uhr fand in der Schweiz ein Staatsstreich statt – mehr oder weniger unfreiwillig, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, und nur als provisorisch gedacht. Putschistin contre coeur war die Schweizerische Nationalbank. Nach kurzer Rücksprache mit dem Bundesrat teilte sie den Banken mit, dass sie “heute darauf verzichtet, ihre Interventionen am Dollarmarkt aufzunehmen. Sie wird sich vom Markte fernhalten, bis eine Beruhigung eingetreten ist.” 

Die Nationalbank zog damit die Notbremse: Die Notenbankgeldmenge hatte allein am Vortag um fast vier Prozent zugenommen; dies bei einer Inflationsrate von bereits über sieben Prozent pro Jahr. Sie wollte deshalb den Kurs des amerikanischen Dollars vorläufig nicht weiter durch Dollarkäufe stützen, zumal Präsident Nixon schon 1971 den Dollar vom Gold abgekoppelt hatte.

Indem die SNB die Fessel der vom Bundesrat festgelegten Goldparität (und – indirekt – Dollarparität) sprengte, mutierte sie – salopp gesprochen – von einem passiven Währungskiosk zu einer mündigen Notenbank. Sie übernahm erstmals in ihrer Geschichte die Kontrolle über die von ihr geschaffene Geldmenge. 

Die anderen Europäischen Notenbanken folgten der Pionierin kurz darauf und lösten ihre eigenen Währungen vom Dollar. Dies bedeutete, wie im Artikel von Thomas Fuster in der gestrigen NZZ nachzulesen ist, das Ende der Währungsordnung von Bretton-Woods (an der die Schweiz offiziell nicht einmal beteiligt war).

Aus dem “vorläufig” wurde ein “dauernd”: So begann im Januar 1973 das Zeitalter der flexiblen Wechselkurse – der Verantwortung der Nationalbank für Inflation oder Deflation. Die Währungen der wichtigen Länder wurden zu FIAT-Money, zu Geld, das allein in der Hand der einzelnen Notenbank liegt.

Der Ausstieg aus der Dollar-Parität bedeutete auch das Ende der Finanzierung von Staatsdefiziten (konkret: der Kosten des Vietnamkriegs und der amerikanischen Sozialpolitik) durch die Notenbanken der Partnerländer. Den meisten Notenbanken gelang es in der Folge, ihre Politik am Ziel der Preisstabilität auszurichten und von den Finanzbedürfnissen des Staates zu lösen.

Doch knapp vierzig Jahre später stand das FIAT-Geld auf dem Prüfstand. In der Finanzkrise von 2007-08 und der darauffolgenden Eurokrise von 2011 mussten die FIAT-Währungen beweisen, dass sie die Wirtschaft vor einem Absturz in die Deflation bewahren können – anders als das “barbarische Relikt” des Goldes in den 1930er Jahren. Dies gelang eindrücklich, doch wie die Katze durch den offenen Türspalt, schlich sich eine alte Bekannte ein: Die Finanzierung von Staatsdefiziten durch die Notenbanken.

Im Juli 2012 versprach der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, alles zu tun, was es brauchen würde, um den Euro zu retten. Dazu musste er den Anstieg der Risikoprämien auf italienische und griechische Staatsanleihen auf unbezahlbare Höhen wieder rückgängig machen. Er übersetzte “FIAT money“ von “Es werde Geld” in “Es werde beliebig viel Geld”. Draghi löste damit die Ankerleine des Euro, genauso wie der amerikanische Präsident Nixon 1971 den goldenen Anker des Bretton-Woods-Systems versenkt hatte. 

Mit seinem “all in” hat Präsident Draghi seine riskante Wette fürs erste gewonnen: Der Euro überlebte vorerst ohne Austritte. Doch ob die EZB und die anderen Notenbanken aus dem Gravitationsfeld der Staatsschulden wieder auf einen konsequenten Kurs der Preisstabilität zurückfinden werden, scheint 50 Jahre nach 1973 – mit viel grösseren Staatsschulden und mit viel grösseren Geldmengen als damals – noch offen. Die damals errungene Autonomie muss erneut verdient werden.

Auch dieser Beitrag beruht auf dem “Das Einmaleins des Geldes” (hep-Verlag, Sommer 2023)

Kann die Nationalbank Pleite gehen?

Dieser Beitrag beruht auf dem
im Sommer 2023 erscheinenden
Buch das Autors

“Das Einmaleins des Geldes” (hep-Verlag)

Der Rekordverlust der SNB im Jahr 2022 hat die Frage aufgeworfen: Kann die Nationalbank Pleite gehen? Die Medien — z.B. Handelszeitung, Blick und NZZ — sind sich weitgehend einig: Nein. Doch die Sache ist komplizierter. Zunächst umschreibt “Pleite” mehrere unterschiedliche Tatbestände:

Das Pleiten-Vokabular

Illiquid ist, wer fällige Schulden nicht zahlen kann. 
Wenn Bill Gates in der SAC-Hütte übernachtet hat, und am Morgen merkt, dass er auf der Wanderung sein Portemonnaie verloren und in der Hütte keinen Handy-Empfang hat, ist er illiquid. Insolvent ist er aber keineswegs.

Insolvent ist, wer mehr Schulden hat als Vermögen.
Wenn ein Student bei der Grossmutter 100‘000 Franken borgt und mit der Hälfte eine Party schmeisst, ist er insolvent, aber mit 50‘000 Franken in der Tasche (einstweilen) noch liquid.

Konkurs (von concursus creditorum, dem Zusammenlaufen der Gläubiger) ist ein gerichtliches Verfahren, in welchem die Ansprüche der Gläubiger festgestellt (Kollokation) und die Verwendung der verbliebenen Vermögensteile (Konkursmasse) geregelt werden. Die Bank Lehman Brothers fiel 2007 in Konkurs, nachdem die Zeitlimite für eine Rettung verstrichen war. Für die Schuldnerin ist der Konkurs eigentlich eine Wohltat: Die Gäubiger erhalten den vorhandenen Rest des Vermögens; die Schuldnerin wird die Schulden los. Dies spiegelt sich in der Herkunft des Begriffs “Pleite” aus Hebräisch und später Jiddisch: “Rest, Überbleibsel; Entrinnen, Rettung, Flucht (vor den Gläubigern)”.

Bankrott ist wie Pleite ein umgangssprachlicher Begriff, der sowohl Illiquidität, Überschuldung oder Konkurs meinen kann. In Deutschland beinhaltet Bakrott auch ein Element der Strafbarkeit.

Die Begriffe Illiquidität, Insolvenz und Konkurs hängen zusammen: Illiquid heisst: Ich kann jetzt nicht zahlen. Insolvent heisst: Ich werde nach aller Voraussicht früher oder später nicht mehr zahlen können. Gelingt es nicht, Illiquidität oder Insolvenz zu beheben, z.B. durch eine Sanierung (Einschuss frischen Kapitals oder Verzicht von Gläubigern), folgt in der Regel ein Konkursverfahren.

Anwendung auf die SNB

Klar ist: Die Nationalbank kann nicht illiquid werden. Sie kann nämlich Geld drucken.

Wer für 50 Rappen pro Stück Tausendernoten drucken kann, sollte auch nicht insolvent werden. Doch der Eindruck täuscht. Die Nationalbank verbucht nämlich die ausgegebenen Banknoten als Schulden. Dies kommt aus der Zeit, da die Banknoten noch in Gold konvertibel waren. Die Nationalbank kann also buchhalterisch gesehen wie jede andere Aktiengesellschaft insolvent werden. Wenn sie mehr Schulden hat als Vermögen, ist sie überschuldet. Wenn sich der Jahresverlust von 2022 noch ein oder zweimal wiederholen sollte, wäre dies der Fall. 

Tatsächlich hatte die Nationalbank in den 1970er Jahren mehrmals, wie sie es nannte, ein “negatives Eigenkapital”. Grund war die damals starke Aufwertung des Frankens gegenüber dem amerikanischen Dollar. Der Bund “rettete” die Nationalbank, indem er (mit Billigung des Parlaments) eine unverzinsliche Schuld gegenüber der SNB einging. Die SNB tilgte diese später aus ihren Gewinnen (zum Teil durch Auflösung der massiven stille Reserven auf dem Goldbestand hatte, den die SNB damals zur offiziellen Parität, d.h. weit unter dem Marktwert bilanzieren musste).

Heute kann die SNB eine Überschuldung auf ähnliche Weise zum Verschwinden bringen: Sie kann den Posten “Reserve für die Gewinnausschüttungen an Bund und Kantone” als negativ ausweisen. Diese Ausschüttungsreserve war tatsächlich schon Ende 2010 und 2013 negativ. Anstatt wie in den 1970er Jahren ein Guthaben beim Bund, weist die SNB also eine negative Schuld bei Bund und Kantonen aus – da minus mal minus plus ergibt, kommt’s auf dasselbe raus: Die Buchhaltung zeigt nie direkt eine Überschuldung an – solange der Bund und allenfalls die Kantone mitspielen und der Nationalbank – als systemrelevanter Institution 😉 – Kredit einräumen.

Ein Konkurs der Nationalbank ist auch bei tiefer Überschuldung kaum möglich. Bei einer normalen Aktiengesellschaft kommt bei Überschuldung ein vom Gesetz definierter Prozess in Gang, der entweder zu einer Sanierung mit neuem Kapital oder Gläubigerverzicht führt oder in eine Konkursliquidation mündet. Bei der Nationalbank ist jedoch kein solcher Prozess vorgesehen. Den Feinschmeckern unter den Juristen sei der Fall überlassen, in dem der Bankrat und/oder die Generalversammlung (d.h. de facto die Kantone) die Jahresrechnung der SNB wegen einer negativen Ausschüttungsreserve in der Jahresrechnung ablehnen würde.

Geldpolitik mit negativem Eigenkapital

Eine Notenbank kann mit negativem Eigenkapital leben. Die tschechische Notenbank beispielsweise war nach 2002 jahrelang buchhalterisch überschuldet. Die australische Notenbank verlor ihr Kapital im Herbst 2022. Notenbanken erholen sich früher oder später, da die Erträge auf ihrem Vermögen langfristig höher sind als die Zinsen auf ihren Schulden. 

Doch ein Problem hat eine überschuldete Notenbank: Eine überschuldete Notenbank verliert Handlungsspielraum. Sie kann einen Teil der geschaffenen Geldmenge nicht mehr abbauen. Sie kann nur so viel Geld zurückkaufen, wie sie auf der Gegenseite Vermögen hat. Der Bestand an Notenbankgeld bekommt eine abbaubare (durch Vermögenswerte gedeckte) und eine nicht-abbaubare (ungedeckte) Komponente. Nicht-abbaubares Geld behindert die Geldpolitik und kann das öffentliche Vertrauen in die Währung gefährden. In der Wirkung ist nicht-abbaubares Geld gleich wie Helikoptergeld, das – einmal abgeworfen – nicht mehr eingesammelt werden kann. Zwar kann eine Notenbank Schuldverschreibungen ausgeben, die nicht als Geld zählen, aber diese haben ein Verfalldatum und schieben das Problem nur auf. Zudem müssen sie von der Notenbank verzinst werden; dadurch bleibt weniger Geld zum Wiederaufbau des Kapitals oder zur Ausschüttung.

Die SNB kann also nicht “Pleite” gehen im Sinne von Illiquidität oder Konkursliquidation. Aber sie kann durch eine Überschuldung ihre geldpolitische Handlungsfähigkeit einbüssen und das Vertrauen in die Währung schädigen. Ein solches Szenario ist vielleicht nicht das wahrscheinlichste. Aber mit einer weit über das längerfristig Vernünftige aufgeblähten Bilanz sind solche Überlegungen auch nicht ganz überflüssig.

Bedingungsloses Grundeinkommen nach Räuberart

Dieser Post gehört meinem Sohn Peter (20). Er sah gestern im Zürcher Hauptbahnhof dieses Reklame-Bild und kam aufgebracht nach Hause: „Papa, schau Dir diesen Schwindel an: Robin Hood hat gerade kein bedingungsloses Einkommen geschaffen. Er beraubte die Reichen und gab das Geld den Armen. Das ist doch das genaue Gegenteil von bedingungslos.“

Recht hat er. Drum habe ich mich als bedingungslosen Grundautor zur Verfügung gestellt, um seinem Entsetzen eine öffentliche Stimme zu geben. Den Namen des Verlags haben wir ausgeblendet. Wir hoffen bloss, dass in der Öffentlichkeit nicht zu viele auf die Romantisierung des Grundeinkommens mit dem edlen Räuber hereinfallen. Übrigens, ergänzt Peter: Die moderne Version von Robin Hood heisst, wenn schon, Negative Einkommenssteuer. Auf die Post des real existierenden Robin Hood freut sich Peter schon jetzt: nur zu bald ist wieder Steuererklärung.

Nobelpreis an Diamond und Dybvig

Douglas W. Diamond und Philip Dybvig wurde heute – zusammen mit Ben Bernanke – der Wirtschaftsnobelpreis verliehen. Hier eine kleine Einordnung.

Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau beschrieb in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) eine Entscheidungssituation, welche den Ursprung sozialer Zusammenarbeit illustrieren sollte: Eine Gesellschaft von Jägern ist hinter einem Hirsch her. Anstatt auf dessen Fährte zu bleiben (Kooperation), können die einzelnen Jäger aber auch ausscheren und einen Hasen erlegen (Desertion). Wenn zu viele Jäger ausscheren, entwischt der Hirsch. Nur wenn genügend Jäger kooperieren, wird der Hirsch, die grosse Beute, erlegt. Kooperation ist also im kollektiven Interesse. Ob sich für Individuen dennoch die Desertion lohnt, hängt davon ab, wie viele andere Jäger desertieren.

Rousseaus Beispiel ist keineswegs rein theoretisch. Beim Ausbruch der Covid-19-Pandemie wurden plötzlich Schutzmasken gehamstert. Kollektiv gesehen wäre es gescheiter gewesen, wenn alle einige Masken erhalten hätten, als einzelne viele und viele gar keine. Das wichtigste praktische Beispiel ist jedoch der Bank Run: Selbst wenn alle Einleger glauben, die Bank sei eigentlich solvent, kann es sich aus individueller Perspektive lohnen, sein Guthaben sofort zurückzuziehen. Wenn nämlich genügend andere in Panik geraten, bleibt am Ende zuwenig Flüssiges in der Bank und die Bank falliert.

Ein schönes Beispiel lieferte der Run auf die britische Bank Northern Rock im September 2007. Northern Rock war kaum in jenen faulen Hypothekarpapieren investiert, welche die Finanzkrise 2007-08 auslösten. Hingegen war die Bank stark von der Finanzierung durch sogenannte wholesale deposits abhängig. Da nun die einen Gläubiger den anderen nicht trauten, zogen viele ihr Geld zurück. Dies führte auch zur Panik unter den Kleinanlegern. Einer von ihnen berichtete: Die Webseite war nicht erreichbar, da war es für mich klar: Nichts wie mein Geld holen.

Die ökonomische Theorie des Bank Run (Bankensturm) wurde von Diamond und Dybvig (1983) formalisiert. Die Individuen können für eine oder für zwei Perioden in eine gemeinsame Bank investieren. Die langfristige Investition bringt nach dem Ausreifen den höheren Ertrag. Muss sie jedoch vorzeitig liquidiert werden, bringt sie weniger ein, als investiert wurde. Die Individuen erfahren erst, nachdem sie investiert haben, ob sie früh sterben (und allenfalls langfristige Investitionen liquidieren müssen) oder spät. Ob jemand früh oder spät sterben wird, ist für die anderen nicht beobachtbar. Das Resultat: Wenn einige der langlebigen Individuen vorzeitig liquidieren, kommt Panik auf; die Bank bricht zusammen.

(Für ökonomische Gourmets: Das Diamond-Dybvig Modell beruht auf einem Overlapping-Generations-Modell, aus dem die zweite Lebenshälfte der jüngeren Generation herausgeschnitten wurde. Die integration eines Bankensektors in ein volles Overlapping-Generations-Modells scheint bis heute nicht gelungen.)

Die Rousseau-Diamond-Dybvig-Entscheidungssituation ist nicht etwa jene im berüchtigten Prisonners Dilemma. Dort lohnt sich individuell gesehen Desertion immer. Hier lohnt sich in einer genügend kooperativ eingestellten Gesellschaft die Kooperation. Die Theorie der recht vielfältigen kooperativen Situationen ist näher beschrieben in unserem guten alten Information Economics (2007), Kap. 9.

Während Diamond noch zahlreiche weitere Forschungsbeiträge lieferte, zog sich Dybvig weitgehend zurück und widmete sich seinem Hobby als Jazzmusiker. Douglas Diamond wurde im übrigen 2013 mit dem Ehrendoktorat der Universität Zürich geehrt.

Gratis-Milliarden für die Banken?

Die NZZaS ist in ein Minenfeld getreten. In der heutigen Ausgabe (S. 25) behauptet Albert Steck , die SNB müsse den Banken demnächst Milliarden Franken zahlen. Der Grund: Am kommenden Donnerstag wird die SNB vermutlich die Periode der Negativzinsen auf Giroguthaben beenden. Die Autoren bei der NZZaS schliessen daraus, die Nationalbank müsse inskünftig den Banken positive Zinssätze auf deren Sichteinlagen bei der SNB (den sogenannten Giroguthaben) vergüten. Bei einem Bestand von fast 700 Mrd. würde dann jeder Prozentpunkt 7 Mrd. Franken mehr Zins kosten (mehr als die SNB heutzutage jährlich maximal an Bund und Kantone ausschüttet).

Ich nehme an, die kantonalen Finanzdirektor/innen waren nach der morgendlichen Lektüre ebenso wach wie die Kassenwarte der Banken — wenn auch aus gegenteiligen Gründen. Meinerseits fragte ich mich: Wann hat die SNB beschlossen, die Giroguthaben künftig positiv zu verzinsen? Die Idee der NZZaS, ab nächstem Donnerstag würden die Giroguthaben der Banken verzinst, ist in den Publikationen und der Kommunikation der SNB nicht zu finden. Auch dass die Verzinsung der Giroguthaben dem SNB-Leitzins folgen müsste, steht m.W. nirgends (sachdienliche Hinweise werden verdankt).

Die SNB hat auf die Sichteinlagen der Banken über hundert Jahre lang mit einer gewissen Selbstverständlichkeit einen Zins von null bezahlt. Auf Banknoten zahlt sie schliesslich auch keinen Zins. Doch so einfach ist es nicht. Eine positive Verzinsung der Giroguthaben ist der Elefant im Raum der Geldpolitik, spätestens seitdem die Negativzinsen eingeführt wurden. Wer negative Sätze befürwortet, kann konzeptionell auch positive Sätze kaum mehr ausschliessen. In einem Artikel in der SZW bezeichnet Chefjurist Martin Plenio die Zinssätze auf Giroguthaben denn auch ganz neutral als geldpolitisches Instrument. Auch bei der Erläuterung der geldpolitischen Instrumente auf der SNB-homepage heisst es lakonisch-neutral: „Die Verzinsung der Sichtguthaben zählt ebenfalls zu den geldpolitischen Instrumenten.“

Die NZZaS hat den Elefanten geweckt und ins Minenfeld geschickt. Sprengstoff hat es genug: Finanziell geht es, wie erwähnt um rund 7 Mrd. Franken pro Zins-Prozentpunkt. Das ist ziemlich genau so viel, wie der Bund für die Sicherheit (Armee etc.) ausgibt. Mit jeder Zinserhöhung um einen Prozentpunkt könnte sich die SNB (bzw. ihre Ausschüttungsberechtigten) also eine Armee weniger leisten.

Auch konzeptionell steht einiges auf dem Spiel. Die eine Sicht: Die SNB soll den Banken auf ihren Giroguthaben einen marktgerechten Zins bezahlen; der Wettbewerb zwingt die Banken, die Zinsen an ihre Einleger weiterzugeben. Dadurch verbilligt sich für das Publikum die Geldhaltung. Dies kommt, da das Geld das Öl im Wirtschaftsmotor ist, der gesamten Wirtschaft zugute. Der Vorteil ist allerdings für die Einzelnen genauso unsichtbar wie früher die Kosten der Nicht-Verzinsung der Giroguthaben.

Die andere Sicht: Der Gewinn aus Geldschöpfung gehört dem Staat, d.h. erstinstanzlich der SNB, letztinstanzlich (via Gewinnausschütung) den Kantonen und dem Bund. Wenn die SNB also einen Gewinn erzilelt, weil sie zinstragende Anlagen hält, aber auf ihren Schulden (Banknoten und Giroguthaben) keinen Zins zahlt, ist dies vertretbar.

Der pragmatische Mittelweg könnte lauten: Zwar leuchtet ein, dass eine Verzinsung der Giroguthaben die gesamthaft effizienteste Lösung wäre. Dies aber nur, wenn die Banken ihre Zinseinnahmen auch weitestgehend an ihre eigene Einlegerschaft weitergeben. Falls dies nicht der Fall ist, ist die Nicht-Verzinsung der Giroguthaben vertretbar als eine relativ effiziente Steuer, effizienter als andere Steuern, mittels derer die Zinsen auf Giroguthaben (bzw. die entsprechenden Ausfälle bei den Ausschüttungen an Bund und Kantone) ansonsten finanziert werden müssten.

Der Blick ins Ausland: Die amerikanische Federal Reserve bezahlt geldpolitisch variable Zinsen auf den Reservekonti der Banken (Mindestreserven plus Überschussreserven); gegenwärtig beträgt der Satz 2,40 Prozent. Die EZB verzinst lediglich die Mindestreserven, gegenwärtig mit 0,50 Prozent.

Wie man sich auch stellt: Das Thema ist wohl das letzte, was die Nationalbank vermisst hätte. Genauso wie Kinder irgendeines Tages fragen, wo die Babies herkommen, musste bei Einführung der Negativzinsen aber klar sein, dass eines Tages die Frage kommen müsste: Und was, wenn die Zinslandschaft wieder einmal in den positiven Bereich steigt?

EZB: Fehlüberlegung hinter dem neuesten Instrument (TPI)?

Die Europäische Zentralbank hat an ihrer Sitzung vom 21. Juli ein neues Instrument eingeführt. Der wie üblich trockene Name Transmission Protection Instrument (TPI) zeigt nicht auf den ersten Blick, wie revolutionär dieser Schritt ist.

Ein kurze Rückblende: Die EZB ist eine monetäre Behörde, zuständig für die Geldpolitik im Euro-Raum. Die Fiskalpolitik, die Schwester der Geldpolitik, bleibt in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Dies wurde bei der Gründung des Euro klar festgelegt. Theoretisch. Mit der Zeit liessen die Euro-Länder eine Aufweichung der fiskalischen Spielregeln zu. Zudem verschwamm die Grenze zwischen Geld- und Fiskalpolitik: EZB-Präsident Draghi erklärte, gegen die steigenden Risikoaufschläge auf den Zinsen italienischer und griechischer Staatsanleihen zu tun, was immer es braucht (”whatever it takes”); “und es wird genug sein”, fügte er hinzu.

Jetzt scheint es genug: Angesichts der steigenden Inflationsraten scheint Geldschöpfung als Beruhigungspille nicht mehr möglich. Hier kommt das TPI zum Zuge: Die EZB soll die Anleihen mit steigender Risikoprämie (d.h. jene von Ländern wie Italien oder Griechenland) anstatt mit neuem Geld mit dem Erlös aus Verkäufen von Ländern mit tiefer Risikoprämie (wie Deutschland oder Finnland) finanzieren. D.h. Umschichtung der Bilanz anstatt Verlängerung. Das TPI soll als „Anit-Fragmentierungs-Instrument“ die Einheit des europäischen Zinsniveaus bewahren. Betragsmässig ist das Instrument wie schon Mario Draghis Geldspritzen a priori unbegrenzt.

Wie der Grandseigneur der deutschen Wirtschaftswissenschaften, Hans-Werner Sinn, vorgestern an einem Podiumsgespräch in München erklärte, beruht das Argument der EZB zur Begründung das TPI auf einer simplen Fehlüberlegung: Einheitliche Zinssätze sind nicht gleich einheitliche Finanzierungskosten. Die Finanzierungskosten eines Kredits sind die Zinszahlungen plus die erwartete Rückzahlung. Eine unsichere Rückzahlung wird deshalb im Markt mit einem Risikozuschlag auf den Zinssatz (spread) abgegolten. Eine unsichere italienische Anleihe hat deshalb tiefere Finanzierungskosten als eine zum selben Zinssatz begebene sicheren deutsche Anleihe. Ein Instrument wie das TPI, das die Zinssätze europäisch einebnet, subventioniert deshalb de facto die schlechten Schuldner.

Das Argument der EZB, das TPI sei ein Anti-Fragmentierungs-Instrument, ist daher Mumpitz. Im Gegenteil: es führt mit der Einebnung der Zinssätze zu einer Fragmentierung der Finanzierungskosten. Die schlechteren Schuldner unter den Euro-Ländern werden fürs vergangene und weitere Schuldenmachen belohnt.

Die EZB hingegen endet mit dem TPI dort, wo sie nie hinwollte (und gemäss Währungsvertrag auch nicht hingehört): im Bereich der Staatsfinanzierung. (Oder schlimmer: Das TPI schliesst nicht einmal Käufe privater Schulden völlig aus.) Die europäische Geldpolitik unterstützte zwar die Staatshaushalte der südlichen Mitgliedstaaten schon mit ihrer bisherigen Tiefzinspolitik. Immerhin betrieb sie nicht direkt Fiskalpolitik. Dies hat sich mit der Einführung des TPI geändert, mit dem die EZB beispielsweise die Finanzierungskosten Italiens auf Kosten jenr Deutschlands senken kann. Ob und wie lange die Mitgliedläder einen solchen „Finanzausgleich“ tolerieren, wird sich zeigen.

Natürlich sind der Verwendung des TPI verbale Grenzen gezogen. Aber diese sind noch schwammiger formuliert als jene (längst ignorierten) im Währungsvertrag und laden geradezu zu politischen Kuhhändeln ein. Ohnehin klingen sie unrealistisch: Zum Beispiel muss ein Land, um in den Schutz des TPI zu erlangen, „nachhaltige öffentliche Finanzen” haben und “nicht an schweren makroökonomischen Ungleichgewichten“ leiden — in welchem Fall das Land auch keine hohen Risikoprämien zu befürchten hat und das TPI gar nicht braucht.

Angesichts der instabilen politischen Situation in Italien wird “lo spread“ die EZB und ihr neues Instrument vielleicht bald auf die Probe stellen. Ironisch wäre, wenn die EZB via TPI Italien indirekt für die Entlassung des ehemaligen EZB-Präsidenten Draghi als Regierungschef belohnen müsste.