Sind Steuerzahler bessere Menschen?

Monika Bütler

Tribüne im Tagblatt (St. Gallen), 22. September 2012

Mitt Romney hätte Freude an unserem Land: In der Schweiz bezahlen nur 20% der Haushalte keine Einkommenssteuern. Anders als in den USA, wo dies 47% nicht tun und sich stattdessen – immer gemäss Romney – lieber an den staatlichen Tropf hängen. Offenbar übernehmen 80% der Schweizer Haushalte persönliche Verantwortung und halten ihr Leben in Ordnung. Doch sind wir Schweizer wirklich bessere Menschen, wie uns der republikanische Präsidentschaftskandidat suggeriert?

Viele (bürgerliche) Politiker sind der Meinung, dass die Besteuerung aller Einwohner wichtig sei. Oder wie es das Bundesgericht ausdrückt: “Aus dem aus [der Bundesverfassung] hergeleiteten Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung kann auch gefolgert werden, dass alle Einwohner entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit einen – wenn auch unter Umständen bloss symbolischen – Beitrag an die staatlichen Lasten zu leisten haben.” Damit würde auch allen bewusst, dass die Leistungen des Staates nicht gratis zu haben seien.

Wer daraus schliesst, dass nur Einkommenssteuern dieses Bewusstsein auslösen, verkennt drei wichtige Punkte. Erstens sind Einkommenssteuern nicht die einzigen Steuern. Zweitens zahlen viele heute Steuerbefreite in der Zukunft Einkommenssteuern oder haben sie in der Vergangenheit geleistet. Drittens sagt die Steuerlast eines Haushalts nichts aus über seinen effektiven Beitrag an die staatlichen Leistungen.

Zum ersten Punkt: Auch die Ärmeren beteiligen sich an den staatlichen Lasten, nämlich über Sozialversicherungsbeiträge, Konsumsteuern (wie die Mehrwertsteuer) und Gebühren. Diese Steuern sind in der Regel sogar leicht regressiv, sie belasten einkommensschwache Haushalte proportional stärker als gutverdienende. Ironischerweise sind es gerade bürgerliche Exponenten, die eine Reduktion der Einkommenssteuern zugunsten der Konsumsteuern fordern – was letztlich den Anteil der Einkommenssteuer-Befreiten erhöht.

Zum zweiten Punkt. Romneys Sichtweise blendet den Lebenszyklus aus. Unsere Student(inn)en an der HSG bezahlen ihre Einkommenssteuern nicht jetzt, sondern später im Leben. In der Momentaufnahme gehören die meisten von Ihnen zum „Romney-Proletariat“, den ominösen 47 Prozent in den USA bzw. zu den steuerbefreiten 20% in der Schweiz. Auf ein Leben am Busen des Staates spekuliert kaum eine(r) von ihnen. Im umgekehrten zeitlichen Verlauf gilt dasselbe für Pensionierte, deren Rente unter dem Grenzwert für die Einkommenssteuer liegt. Oder ist ein Rentner, der von seinen Ersparnissen lebt, ein linker Schmarotzer?

Der dritte Punkt geht in die andere Richtung. Wer in der Schweiz Einkommenssteuern bezahlt, ist nicht unbedingt ein Nettozahler. So erhalten Freunde von uns ihre Einkommensteuern fast auf den Franken genau als Prämiensubvention der Krankenkasse wieder zurück. Sie sind keine Ausnahme. Die Einnahmen aus der Einkommenssteuer werden dem Mittelstand in verschiedener Form als einkommensabhängige Subventionen teilweise wieder zurückerstattet. Diese Umlagerung von der rechten in die linke Hosentasche scheint, abgesehen vom administrativen Leerlauf, harmlos. Genau das ist sie aber nicht.

Was faktisch aussieht wie eine Einkommenssteuerbefreiung für kleinere und mittlere Löhne ist genau das Gegenteil – nämlich eine doppelte Besteuerung des Einkommens. Verdienten unsere Freunde einen Franken mehr, würden sie doppelt gestraft: Zum einen zahlten sie mehr Einkommenssteuern; zum andern erhielten sie weniger einkommensabhängige Prämiensubvention. Das Bewusstsein, dass die staatlichen Leistungen etwas kosten, wächst so kaum. Eher leidet dadurch das Ansehen des Staates.

Die USA versuchen seit Jahren, eben diese negativen Spar- und Arbeitsanreize für die einkommensschwächeren Haushalte zu mindern, sei es durch Steuergutschriften für Geringverdiener (sogenannte Earned Income Tax Credits) oder die Steuerbefreiung des Existenzminimums. Diese Politik wurde in der Vergangenheit sowohl von republikanischen wie auch demokratischen Präsidenten unterstützt. Der Anteil der Haushalte, die keine Einkommenssteuer bezahlen, ist in den USA genau aus diesem Grund höher als bei uns. Unsere Freunde gehören in der Schweiz zu den „Verantwortungsvollen“ 80%, in den USA hingegen zu den geschmähten 47%. 

Vielleicht sollten wir Romneys unbedarfte Bemerkungen als Anlass nehmen, über die Besteuerung des Existenzminimums nachzudenken. Zwar meinte das Bundesgericht vor einiger Zeit: Aus der verfassungsmässigen Existenzsicherung könne nicht abgeleitet werden, dass “ein bestimmter Betrag in der Höhe eines irgendwie definierten Existenzminimums von vornherein steuerfrei belassen werden könnte.” Ob es allerdings gescheiter ist, Einkommensteuern auch auf geringen Einkommen zu erheben und diese dann in Form von Subventionen wieder zurückzuerstatten, bezweifle ich. Das Dickicht von Steuern und einkommensabhängigen Subventionen bestraft in der Schweiz am härtesten diejenigen, die sich aus eigener Kraft aus der Armut befreien wollen.

Sei es in den USA oder bei uns: Man kann über das Steuersystem unterschiedlicher Meinung sein. Aber Steuern in irgendeiner Form zahlen wir letztlich alle. Und fast alle zahlen über das Leben gesehen auch Einkommenssteuern. Wir sind alle bessere Menschen.

 

Das unsägliche Drehen an der Geschlechterschraube

Monika Bütler

Publiziert in der NZZ am Sonntag, 9. September 2012 (unter dem Titel: „Mädchen und Knaben sind mit der gleichen Elle zu messen“)

„Warum muss Blake gleich weit rennen wie Bolt; er ist doch kleiner?“, fragte unser Jüngster nach dem Olympia-Sprint. Als Erfinder der individualisierten Leistungsmessung darf er sich dennoch nicht fühlen. Der Kanton Waadt war ihm schon zuvorgekommen: Lange Zeit galten im Kanton von Liberté et Patrie (statt Egalité) für Mädchen strengere Eintrittsbedingungen in die Sekundarschule als für Knaben. Sonst hätten zu viele Mädchen bestanden. Erst 1982 stoppte das Bundesgericht auf Klagen der Eltern (und beflügelt durch den neu eingeführten Gleichstellungsartikel) diesen Unsinn.

Nun greift die Universität Wien in die Mottenkiste und wendet das umgekehrte Verfahren an. Weil in den letzten Jahren ein höherer Prozentsatz der Männer die Hürde des Eignungstests für das Medizinstudium meisterte, genügte den weiblichen Bewerbern heuer eine tiefere Punktezahl. Die Frauen seien offensichtlich durch den Test benachteiligt, gaben angewandte Psychometriker zu bedenken.

„Gleichberechtigung auf österreichisch“ spottete die Financial Times Deutschland. Doch Häme allein ist fehl am Platz. Auch in andern Fächern und Universitäten zerbrechen sich die Verantwortlichen die Köpfe, weshalb junge Frauen in den Zulassungsprüfungen und den Prüfungen im ersten Studienjahr häufiger scheitern. Es scheint, dass die Prüfungen ungewollt diskriminieren.

Tun sie dies wirklich? Könnte es nicht auch sein, dass die „Diskriminierung“ der Frauen in den Prüfungen beim Übergang in eine Universitätsausbildung andere Gründe hat? Bei der Maturandenquote liegen die Mädchen (rund 60%) noch vor den Buben. Obwohl Frauen also quasi die Vorläufe gewinnen, erreicht ein kleinerer Prozentsatz von ihnen den Final.

Die Lösung des Rätsels liegt in der Statistik: Im Durchschnitt sind Männer und Frauen bekanntlich gleich intelligent (wenn auch in anderen Dimensionen verschieden). Auch in den vielgescholtenen standardisierten IQ Tests unterscheiden sich, wie neue Studien belegen, die Intelligenz von Frauen und Männern nicht. Dies gilt, falls die Testpersonen repräsentativ, d.h. zufällig ausgewählt und nicht irgendwie gefiltert sind.

Die Gruppe „mit Matura“ ist aber eben gerade nicht repräsentativ. Weil es bei der Matura mehr Frauen hat, ist anzunehmen dass es unter ihnen einen höheren Prozentsatz hat, der die Anforderungen nur knapp übertrifft. Eine höhere Durchfallquote ist dann die logische Konsequenz – selbst wenn die Prüfung an sich ist perfekt geschlechterblind wäre. In den unterschiedlichen Erfolgszahlen widerspiegeln sich frühere Selektionsprozesse und freiwillige Entscheidungen.

Ironie der Geschichte: Gäbe es die alte Waadtländer Bevorzugung der Knaben beim Übertritt in die Sekundarschule noch, wären wohl die Unterschiede in den Durchfallquoten bei der Medizinerprüfung zwischen den Geschlechtern deutlich geringer. Trotzdem ist sie nicht die Lösung. Die Prüfungen sollen wenn schon, dahin verbessert werden, dass sie den Erfolg in der nächsten Stufe geschlechterblind prognostizieren.

Das Drehen an der Genderschraube bei jedem Schulstufenübergang macht hingegen wenig Sinn. Es versperrt nur den kritischen Blick auf die ganze Ausbildungszeit. Erstens hängt Prüfungserfolg nicht nur von der Intelligenz ab, sondern auch von früheren Entscheidungen. Sind diese unerwünscht, müssen sie direkt angegangen werden: Den Buben muss die Schule schmackhafter gemacht werden, den jungen Frauen die Mathematik.

Zweitens sind die Unterschiede innerhalb der Geschlechter sehr viel grösser als zwischen den Geschlechtern. Wenn die psychometrische Sicht zu Ende gedacht wird, müsste auch nach anderen Kriterien (soziale Herkunft, Körpergrösse, usw) differenziert werden. Im Endeffekt hätte jeder und jede einen individualisierte Punktezahl, die er/sie erreichen müsste. Und an der Olympiade gingen wir alle gleichzeitig durchs Ziel – samt Blake und Bolt.

Die Tücken der Arbeitsproduktivität

von Monika Bütler

Aus aktuellem Anlass: Daniel Binswanger beklagt heute im Magazin, dass die Schweizer bloss fleissig, aber nicht produktiv seien. Doch das Konzept der Arbeitsproduktivität ist ein schlechtes Mass um den Erfolg einer Volkswirtschaft zu messen. Der untenstehende Text wurde unter dem Titel „Weshalb Französinnen effizienter Brote backen als wir“, in der NZZ am Sonntag, 28. Februar 2010, publiziert.

Alle Jahre wieder legt die OECD den Finger auf die Produktivität der Schweiz. Trotz einem Pro-Kopf-Einkommen, das kaum von einem anderen OECD-Mitglied erreicht werde, liege die Schweiz bei der Arbeitsproduktivität nur im Mittelfeld und habe in den letzten zehn Jahren weiter Terrain eingebüsst. Laut OECD liegt dies vor allem an der geringen Leistungsfähigkeit der abgeschirmten Sektoren im Binnenmarkt.

Letzteres wird wohl stimmen. Der eigenen Wahrnehmung entspricht es nicht in jedem Fall: Immerhin wurde unsere kaputte Heizung in Zürich jedes mal schnell repariert. Nicht so in den USA, wo wir als verzweifelte Kunden in endlose „your call is important to us“-Schlaufen abgeschoben wurden. Die Heizung funktionierte auch zwei Tage später noch nicht. Und als die schliesslich „geflickte“ Heizung nach weiteren zwei Tagen explodierte, erschien zwar nach einigen Stunden die Feuerwehr – der Brand war unter Opferung zweier Bettdecken längst gelöscht -, von der zuständigen Firma fehlte jede Spur.

Aber zurück zur Arbeitsproduktivität. Genau so wichtig wie die Leistungsfähigkeit der Binnenwirtschaft ist, dass hohe Einkommen und tiefere Produktivität oft Hand in Hand gehen. Nicht alle der 1415 jährlichen Arbeitsstunden pro Schweizer im Erwerbsalter (15-64) können gleich produktiv sein wie die 985 Stunden pro Franzosen.

Zur Illustration ein einfachen Beispiel. Nehmen wir an, alle Länder stellten nur ein Gut her, sagen wir Brot. Alle Länder hätten gleich leistungsfähige Arbeiternehmer. Aber auch die fleissigste Arbeiterin schafft nicht in jeder der 168 Stunden pro Woche gleich viel. Nehmen wir also an, sie backe in den ersten 30 Stunden 10 Brote pro Stunde. Ab der 31. Wochenstunde sinke ihre Arbeitsleistung auf 6 Brote pro Stunde.

Nun ist die wöchentliche Arbeitszeit in der Schweiz rund 42 Stunden, in Frankreich nur 35 Stunden. Eine Schweizerin bäckt somit im Durchschnitt 372 Brote pro Woche (wer es nachprüfen will: 30*10 Brote + 12*6 Brote), eine Französin 330 Brote pro Woche. In der Arbeitsproduktivität übertreffen uns daher die Franzosen mit 9.42 Broten pro Stunde (=330 Brote geteilt durch 35 Stunden) um volle 6.5 Prozent. Die französische Gesamtproduktion (und somit das Einkommen) bleibt dennoch 13% tiefer als die schweizerische.

Doch es gibt einen noch wichtigeren Grund, weshalb die Schweiz eine relativ geringe Arbeitsproduktivität bei gleichzeitig hohem Einkommen hat: Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern werden bei uns auch Menschen in den Arbeitsmarkt integriert, die aus verschiedenen Gründen eine tiefere Produktivität haben. Dies lässt sich an den vergleichsweise geringen Arbeitslosenzahlen und den hohen Erwerbsquoten in allen Bevölkerungsgruppen zeigen.  So arbeiten in der Schweiz rund 55% der 60-64 jährigen, in Frankreich sind es lediglich 15%.

Je mehr nicht ganz so produktive Menschen am Erwerbsleben teilnehmen, desto tiefer liegt die durchschnittliche Arbeitsproduktivität des Landes. Umso höher ist dafür das Einkommen. Liessen wir nur Roger Federer arbeiten, hätten wir eine viel höhere Arbeitsproduktivität. Zum Wohlstand der Schweiz trägt er dennoch weniger bei als die gescholtene Binnenwirtschaft.

Gerade die Diskussion um die Armutsbekämpfung zeigt, dass neben der materiellen Absicherung auch das Gefühl des „Gebrauchtwerdens“ für die in der globalisierten Welt nicht ganz so produktiven Menschen wichtig ist. Eine tiefere Arbeitsproduktivität ist somit ein Preis, den wir für eine bessere soziale Integration zahlen.

Vielleicht sogar für eine höhere Lebensqualität: Auf jeden Fall geniesse ich meine sorgfältig (= wenig produktiv)  in der Briefkasten gelegte NZZ am Sonntag mehr als die bei grosser Geschwindigkeit hoch produktiv aus dem Auto geworfene Zeitung in den USA. Dort musste ich oft zuerst die Salatsauce aus dem vom Aufprall geplatzten Warenmuster von der Kolumne abkratzen.

Die Trisomie-21-Test-Debatte in Zahlen

Von Monika Bütler

Der neue pränatale Trisomie-21-Test bewegt die Gemüter. Viele fürchten sich davor, dass die Akzeptanz für behinderte Kinder noch weiter sinken könnte und/oder dass die IV (oder die Gesellschaft) die werdenden Eltern unter Druck setzen würde (Siehe dazu auch den hervorragenden Kommentar von Markus Hofmann in der NZZ).

Hier ein paar nüchterne Zahlen zur Abkühlung: Geburtsgebrechen machen nur rund 5% der jährlichen Neuzugänge zur IV aus. Da Menschen mit Geburtsgebrechen länger in der IV verbleiben, ist ihr Anteil am gesamten Bestand höher; er liegt bei knapp 12%. Davon wiederum dürfte nur ein relativ geringer Teil auf Behinderungen fallen, die mit pränatalen Tests überhaupt entdeckt werden können (genaue Zahlen kenne ich nicht). Zum Vergleich: Psychische Krankheiten machen sowohl bei den jährlichen Neuzugängen zur IV wie auch am gesamten Bestand über 40% aus (2011: 44% bei den Neuzugängen, 43% beim Bestand).

Trisonomie-21 und andere Geburtsgebrechen machen somit einen sehr sehr kleinen Teil der Behinderten in der Schweiz aus. Wenn die IV sparen will, so eignen sich Geburtsgebrechen dafür sicher nicht. Die IV scheint dies auch nicht zu wollen: Tatsächlich sind zwischen 2003 und 2011 die Neuzugänge zur IV bei den Psychischen Krankheiten um fast 40%, bei den Knochen- und Bewegungsorganen gar um rund 65% gesunken. Die Neuzugänge bei den Geburtsgebrechen blieben hingegen konstant (bei etwa 800-900 Personen pro Jahr).

Es ist unbestritten, dass es behinderte Menschen und ihre Eltern nicht leicht haben. Ein Gentest (welcher ja nur die heute viel gefährlicheren invasiven Tests ersetzt) kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Auf jeden Fall ist ein Verbot für solche Tests der falsche Weg (wie ich in meiner NZZaS Kolumne vom 20. Mai dargelegt habe).

Im falschen Film

Monika Bütler

Veröffentlicht, leicht gekürzt, in der NZZ am Sonntag vom 12. August 2012 unter dem Titel „Die Altersgrenzen für Kinofilme sind sinnlos“

Regensonntage sind Kinosonntage, dachten wir vor einigen Wochen und bestellten Tickets für den Dokumentarfilm Violinissimo. Mit dabei waren unsere Kinder, der Jüngste ein Drittklässler und begeisterter Geigenspieler. „Sie wissen, dass der Film erst ab 16 Jahren freigegeben ist?“ fragte uns die freundliche Dame an der Kasse. Lange Gesichter; nein, das war uns nicht bewusst. Was denn um Himmelswillen am Film schlimmer sei als an den unsäglichen Folgen von Star Wars, die wir Eltern gelegentlich erdulden, meinte mein Mann verzweifelt. Violinissimo begleitet drei Teilnehmer durch die Höhen und Tiefen des Joseph-Joachim-Violinwettbewerbs. Der Film ist sehr interessant und spannend – und absolut harmlos. Kein Schuss, kein Kuss, auch keine mentale Gewalt. Wettbewerb schon, und nicht alle können am Ende gewinnen. Aber keine verstörende Geschichte, welche eine Begleitung durch einen Psychologen notwendig machte.

 Des Rätsels Lösung (hier verkürzt wiedergegeben): Aus Kostengründen wurde der Film nicht der privaten Freiwilligen Selbstkontrolle der deutschen Filmwirtschaft FSK zur Visionierung vorgelegt. Dieses Gremium – uns zuvor unbekannt – hätte den Film nach einer eingehenden Prüfung durch diverse Fachleute mit einem entsprechenden Label versehen. Ohne dieses Zertifikat aber gilt automatisch das gesetzliche Mindestalter von 16 Jahren. Gesetzliche Grundlagen des Verfahrens sind Jugendschutzgesetze, welche verhindern sollen, dass den armen Kindern durch böse Filme Angst gemacht wird.

 Wer sich durch die Unterlagen der FSK durchgekämpft hat, begreift schnell, weshalb Violinissimo kein Einzelfall ist. Für viele kleine Verleger sind die mehrere Tausend Franken (eine genaue Zahl war nicht zu eruieren) viel zu viel, um sich freiwillig selbstkontrollieren zu lassen. Bei anderen landen wahrscheinlich ansehnliche Beträge staatlicher Filmfördergelder wegen dieser vom Staat geforderten Kontrolle in privaten Händen. Ohne künstlerischen Nutzen.

 Die FSK-Freigaben sind durchaus informativ. Sie als freiwillig zu bezeichnen, ist angesichts der rechtlichen Bindung der Empfehlungen allerdings ein Witz. Der faktische Zwang spottet auch einer Gesellschaft, die auf Vernunft und Eigenverantwortung baut. Überhaupt: Weshalb muss der Filmverleger den Beweis der Unbedenklichkeit durch eine private Zertifizierung selber erbringen. Viel unbürokratischer wäre das Umgekehrte: Die Verleger deklarieren selber nach bestem Wissen und Gewissen. Der Jugendschutz schreitet erst ein, wenn er begründeten Verdacht einer Irreführung hat.

Noch schlimmer ist, dass die staatlichen Behörden den Eltern und der Schule überhaupt nicht mehr trauen. Und dies sogar im öffentlichen Raum, wo die freiwillige Selbstkontrolle meist gut funktioniert.  Niemand würde es wagen, mit einem Drittklässler im Kino Die Vögel von Alfred Hitchcock anzusehen. Und sollte er es dennoch tun, würde er wahrscheinlich spätestens an der Kasse von diesem Vorhaben abgehalten.

Zuhause gibt es keine solche Kontrolle. Klar gibt es unter den Eltern immer wieder schwarze Schafe: Wir haben unseren beiden Buben Die Vögel tatsächlich zugemutet. Es nützen also die raffiniertesten Label nichts, wenn die Eltern ihre Aufsichtspflicht nicht wahrnehmen. Wir haben aber Schelte bezogen und würden es nicht mehr tun. Um die Eltern kommt der Staat gleichwohl nicht herum. Weshalb dann nicht auch im Kino die begleitenden Eltern entscheiden lassen?

Es geht ja nur um Filme, könnte man argumentieren, ein Luxusproblem also. Doch mit obligatorischen Kindersitzen, baulichen Einschränkungen zum Wohle der Jüngsten und Hüte-Lizenzen werden Eltern und Lehrer – unter dem Titel Jugendschutz und Sicherheit – mehr und mehr entmündigt. Irgendeinmal wird der Regeldschungel so dicht, dass die Erzieher und Ausbildner bei einer allfälligen Regulierungslücke aus Mangel an Übung den Kompass tatsächlich verlieren.

Numerus Clausus auf der Intensivstation

Monika Bütler

NZZ am Sonntag, 15. Juli 2012 („Das Auswahlverfahren für Ärzte ist ein riesiger Blödsinn)

Zahnmedizin, meinte die Jahrgangsbeste einer aargauischen Kantonsschule nach der Maturafeier kürzlich auf die Frage nach ihrem Studienwunsch. Doch wisse sie natürlich nicht, ob sie die Prüfung bestehen würde. Gemeint war der sogenannte Eignungstest für medizinische Studiengänge (EMS), der unter den viel zu vielen Bewerbern die besten, pardon; die geeignetsten, auswählen soll.

Mit anderen Worten: Selbst die Allerbesten einer ohnehin schon kleinen Gruppe von Maturanden (im Aargau nicht einmal 20% eines Jahrgangs), müssen die Prüfung ablegen. Die ist, mit Verlaub, ein gigantischer Blödsinn. Der administrative und organisatorische Leerlauf – zu dem auch zählt, dass sich Tausende von Bewerbern wochenlang auf den Test vorbereiten –  ist noch das wenigste. Richtig übel ist die Geringschätzung von engagierten, motivierten und offensichtlich ziemlich intelligenten jungen Menschen in einem Land mit einem grossen Ärztemangel.

Nun kann man natürlich argumentieren, dass eine 5.9 in der Matura noch lange nicht zu einer Medizinlaufbahn befähigt. Mir wäre allerdings auch keine Studie bekannt, die einen negativen Zusammenhang zwischen Note und einer Eignung für Medizin findet. In anderen Worten: mit 5.9 ist man vielleicht keine bessere Ärztin als jemand mit einer 4.0, aber kaum eine schlechtere. Intelligenz kann nie schaden. Der zuständige blutjunge Assistenzarzt hat seinerzeit das Leben unseres Jüngsten gerettet, nicht weil er eine hohe Sozialkompetenz hatte, sondern weil er blitzschnell die Symptome richtig einschätzte und entsprechend handelte.

Die am Eignungstest abgefragten Kompetenzen – unter anderen: Fakten lernen, Diagramme und Tabellen interpretieren, ein medizinisch-naturwissenschaftliches Grundverständnis, quantitative und formale Probleme lösen oder Texte verstehen – scheinen mir ziemlich deckungsgleich mit den an den Gymnasien während Jahren antrainierten Fähigkeiten. Sollte ich mich irren, müsste man die schweizerische Maturitätsausbildung dringend hinterfragen und reformieren.

Die Zielgenauigkeit des EMS zeigt sich auch darin, dass die HSG den Kandidaten für den HSG-Zulassungstest („kein Wissens-, sondern ein Eignungstest“) empfiehlt, sich mit dem EMS auf die Prüfung vorzubereiten. Entweder sucht die Medizin verkappte Betriebswirte oder die HSG verkappte Ärzte oder – viel plausibler – beide suchen einfach intelligente junge Menschen mit breiten Fähigkeiten. Eben genau das, wofür die Matura eigentlich stehen müsste.

Die Absurdität der Auslese ist kaum mehr zu überbieten. Der ganze Zirkus um die Gymiprüfung nach der 6. Klasse lässt glauben, es gehe darum, die Elite von den nicht ganz so Klugen fernzuhalten und den Ausgewählten die Ihnen zustehende hochqualifizierte Ausbildung zukommen zu lassen. Sechs staatliche Ausbildungs- und Selektionsjahre später traut der Staat dann selbst den Besten der Ausgewählten nicht mehr über den Weg und schickt sie zur Sicherheit nochmals zum Test.

Der Bedarf an Ärzten in der Schweiz wird so bei weitem nicht gedeckt. Das liegt allerdings nicht am Eignungstest, sondern an der begrenzten, seit Jahren konstanten Anzahl an Ausbildungsplätzen. Es gibt somit kein objektives, absolutes Eignungskriterium. Bei steigender Anzahl Kandidaten wird die Hürde einfach immer höher. Vor 10 Jahren schafften sie rund 90%, letztes Jahr waren es noch 34%.

Nicht so schlimm, es gibt ja genügend Mediziner im Ausland. Selbstverständlich habe ich nichts gegen ausländische Ärzte. Sie sind ein Segen für unser Land. Ein Jammer ist hingegen, dass wir die Lücke einer als überzählig ausgeschiedenen, aber geeigneten und motivierten Schweizerin oder Seconda später mit jemandem füllen müssen, der am selben Test ebenfalls „gescheitert“ wäre.

Die Jahrgangsbeste hat den EMS hoffentlich bestanden. Die Mühe, eine gute Maturaprüfung abzulegen, hätte sie sich dann sparen können.

Ein Königreich für einen Basispunkt (NZZ im Offside)

Monika Bütler und Urs Birchler

Die NZZ wirbt mit einem blauen Bleistift als Symbol für nüchternes Denken und Rechnen. Beat Gygi scheint beim Verfassen seines heutigen Beitrags (S. 25) den blauen Stift verlegt zu haben — zusammen mit dem moralischen Kompass. Die Libor-Manipulation, meint er, sei „relativ harmlos“ im Vergleich zu den „Manipulationen“ der Behörden bei der Bewertung von Obligationen durch die Banken und die „kartellähnliche“ Versorgung mit billigem Geld durch die Notenbanken. Es gehe ja „vielleicht um wenige Basispunkte“.

Zunächst die Arithmetik. Ein Basispunkt ist ein Hundertstelprozent (0,0001). Auf dem Libor beruhen (NZZ, ebenfalls S. 25) Kontrakte von 250-400 Bio Euro. Nehmen wir die Untergenze: 250’000’000’000’000 Euro. Mit dem spitzen blauen Stift die Nullen gestrichen ergibt pro Basispunkt einen Betrag von 25’000’000’000 Euro, in Worten: 25 Milliarden (englisch: billion). So viel gewinnt oder verliert ein Vertragspartner, der einen Libor-bezogenen Kontrakt mit Laufzeit ein Jahr abgeschlossen hat, wenn der Libor einen einzigen Basispunkt manipuliert wird.

Dies ist so ziemlich der längste Hebel, der auf den Finanzmärkten zu finden ist. Dies liegt daran, dass der Libor im Welt-Finanzsystem der Vater aller Zinssätze ist. Wer ihn manipuliert, trübt also gewissermassen die heilige Quelle des Zinsflusses. Das ist, lieber Beat Gygi, kein Kavaliersdelikt.

Damit zur Moral: „Der Andere auch“ (hier die Behörden und Notenbanken) ist zwar eine menschliche Reaktion auf das Erwischtwerden, aber moralphilosophisch nicht hoch im Kurs. Im vorliegenden Fall stinkt das Argument zum Himmel, weil es auf den Vergleich zu Notenbanken abzieht. Verschwiegen wird dabei, dass die Notenbanken doch immerhin die Zinssätze zur Rettung der Weltwirtschaft tief gehalten haben und immer noch halten, nicht zum Zweck der persönlichen Bereicherung.

Es geht uns hier nicht darum eine einzelne Zeitung anzugreifen, geschweige denn einen ihrer bewährtesten Journalisten. Der Artikel zeigt vielmehr, dass die moralischen Massstäbe sich nicht nur bis ins Zentrum der Banken, sondern bis ins Herz der Presse hinein verbogen haben. „Eine freie Ordnung“, so wissen wir von Gerhard Schwarz, „funktioniert zwar nicht ohne Mindestmass an Moral, aber wie diese Moral definiert sein soll, kann der Liberalismus nicht sagen.“ Er „kann … selbst kaum einen moralischen Kompass bieten, ausser dem Schutz der Freiheit, des Eigentums und von Verträgen.“ Verträge — darum ging es doch. Aber Liboralismus ist eben nicht Liberalismus.

Ein früher Pfiff des Bademeisters

Monika Bütler

„Aufgrund der für die Regulierung massgeblichen risikogewichteten Eigenmittelquote (Verhältnis zwischen Eigenmitteln und risikogewichteten
Positionen) liegen sie (MB: die Grossbanken) im internationalen Vergleich allerdings weiterhin auf den vorderen Rängen. Wird dagegen die ungewichtete Eigenmittelquote (Verhältnis zwischen Eigenmitteln und Bilanzsumme) als Massstab herangezogen, ist die Eigenmittelausstattung der Grossbanken im internationalen Vergleich nach wie vor niedrig.“

Der Satz stammt aus dem Bericht zur Finanzstabilität (Financial Stability Report) der SNB von – Juni 2006 (mit Daten bis 2005!).

Soll das Rentenalter pensioniert werden?

Kolumne in der NZZ am Sonntag, 17. Juni 2012

Frankreichs Präsident Hollande hielt sein Wahlversprechen. Er senkte das Mindestrentenalter wieder auf 60 Jahre. Von einer vollen Rente mit 60 profitieren allerdings nur Personen mit mindestens 41 Beitragsjahren. Geringverdiener, die früh zu arbeiten begannen, sollten damit von weiteren Sparmassnahmen in der Alterssicherung verschont werden.

Ironischerweise lag François Hollande mit seiner Massnahme gar nicht weit weg von den Forderungen des Swiss Life Konzernchefs Bruno Pfister. Dieser schlug vor kurzem mindestens 45 Einzahlungsjahre in die berufliche Vorsorge vor – und wurde dafür öffentlich ausgepfiffen. Auch seine Idee war bestechend sozial: Ein Akademiker beginnt später zu arbeiten, zahlt weniger lang in AHV und PK ein, lebt am Schluss auch noch länger als ein Arbeiter und profitiert damit gerade doppelt von einem fixen Rentenalter: Kürzere Beitragsdauer, längere Rentendauer.

Der Hollande-Pfister Ansatz – Mindestbeitragsdauer statt fixes Rentenalter – sieht daher wie die perfekte Lösung einer vertrackten Ungerechtigkeit in der Alterssicherung aus. Auf den ersten Blick. Der Teufel liegt in der Umsetzung. Nicht weil es faktisch 45 Jahre braucht, bis ein solches System vollständig eingeführt ist. Nein, weil es keine eindeutige Antwort gibt auf die entscheidende Frage: Was ist überhaupt ein Beitragsjahr?

Erhält ein Beitragsjahr gutgeschrieben, wer in einem Kalenderjahr einen Mindestbeitrag einzahlt? Oder mindestens x Stunden arbeitet? Was passiert während Arbeitslosigkeit und Krankheit? Wie wird Betreuungsarbeit angerechnet? Wie verbucht man Selbständige, Künstlerinnen, international Mobile? Der Weg über ein „gerechtes“ Anrechnungssystem führt automatisch durch die administrative Hölle. Für Forscher zwar höchst interessant, für die Steuerzahler kaum.

Ich bin selber ein gutes – im Sinn der Gleichbehandlung schlechtes – Beispiel: Ein einziges Beitragsjahr fehlt mir in der AHV während mir gleichzeitig vier Jahre an die Niederländische Rentenkasse angerechnet wurden. Ein weiteres Beispiel: Einer nicht erwerbstätigen Ehefrau werden Beitragsjahre angerechnet, selbst wenn sie keine Kinder betreut. Sie kann sich eventuell eine Frühpensionierung eher leisten als eine alleinerziehende Putzfrau, die ihr Leben lang schuftete.   

Die Definition der Beitragsjahre ist zudem Manipulation und politischer Einflussnahme ausgesetzt. Wer soll denn entscheiden, was wie zählt?

François Hollandes Vorschlag zeigt dies. Als Beitragsjahr soll neu schon gelten, wenn auf 7000 Euro Einkommen Beiträge bezahlt wurden. Dies erreicht der smarte Student mit links, die Teilzeitverkäuferin im Supermarkt eventuell nicht. Auf weitere Aufweichungen der Kriterien wette ich gerne. Über eine grosszügige Anrechnung der Beitragsjahre wird die Frühpensionierung durch die Hintertüre wieder eingeführt.  Vielleicht nicht für alle, doch wenigstens für diejenigen, von denen politische Unterstützung zu erwarten ist.

Ob ich 65 bin, kann der Staat zweifelsfrei und billig überprüfen, ob ich wirklich 45 Jahre einbezahlt habe dagegen kaum. Faute de mieux bleibt das gesetzliche Rentenalter die am wenigsten schlechte Referenzgrösse. Es setzt zudem wichtige Zeichen an den Arbeitsmarkt. Die Erfahrungen anderer Länder zeigen, dass bei Reformen die meisten älteren Arbeitnehmer bis zum neuen, höheren Rentenalter beschäftigt bleiben. Zweifellos haben es Ältere schwerer, einen passenden Arbeitsplatz zu finden als Jüngere. Doch ein Arbeitgeber wird einen 58-jährigen eher anstellen, wenn das Rentenalter 65 ist, als wenn es 60 ist und somit nur 2 Jahre bis zur Pensionierung bleiben.

Ein identisches Rentenalter für alle ist kein perfektes Kriterium. Doch die Lösung sind nicht virtuelle „Beitragsjahre“, sondern Flexibilisierungen nach unten und nach oben sowie eine Abfederung für diejenigen, die nicht weiter arbeiten können.

Good bye Elinor Ostrom

Mit grosser Trauer haben wir heute vernommen, dass die amerikanische Politikwissenschafterin Elinor Ostrom, Nobelpreisträgerin für Ökonomie 2009, gestorben ist. Elinor war in vieler Hinsicht ein Vorbild sowohl für Ökonominnen als auch für Politikwissenschaftler.

Hier ist die Begrüssungsrede, die ich bei ihrem Besuch an der Universität St. Gallen vor nur einem Jahr halten durfte:

Who would be a better person to stand for the mission of our newly founded School of Economics and Political Science? Who would be the perfect figurehead for a University which aims at excellence in research and teaching, but also at diversity, international visibility and interdisciplinary research? Elinor Ostrom epitomizes the successful combination of insights and methods from Political Science and Economics.

I vividly remember how my colleagues in economics, at least those who were familiar with Elinor’s work, did not mind a bit that a Political scientist was going to receive the highest honor in our own field. At the same time Elinor Ostrom is a cheerful likeable person who sticks out in many other ways, particularly among her generation.

„To an outside observer, my career may look rather successful at the current time. Has it always been this way?“ Elinor Ostrom asks in her article „A Long Polycentric Journey“ (an exciting reading I would recommend to all of you). „To be honest, the answer is no“ she goes on. It is very fascinating to read how Elinor Ostrom dealt with the many obstacles she faced as a young ambitious woman at that time. I also realized with a smile that she ignored the same two pieces of advice as I did many years later. The first was that the best major for a girl was in education – to become a teacher. The second was that one should not only diversify financial assets but also the professions in a marriage.

Probably I would not have dared to invite Elinor Ostrom to St. Gallen. My colleagues in Political science tried. And here she is. I am very proud to be the dean of such an active school and of course to have the privilege of welcoming Elinor Ostrom to our University.