Ziellos wandern

Monika Bütler

(publiziert in der Handelszeitung vom 20.12.2012, unter dem etwas krassen Titel „Migration: Gefährliches Spiel im Bunkerstaat“)

Mein älterer Sohn begleitete mich letztes Jahr nach Sydney. Er besuchte dort die gleiche Schule, an der er vier Jahre zuvor eingeschult wurde. Seither erhält er regelmässig elektronische Post aus Australien: „Dear Peter, Australia needs your skills…“ In den Newsletters wird er über die neuesten Entwicklungen an der Einwanderungsfront informiert und eingeladen, sich eine Emigration ernsthaft zu überlegen. Peter ist zwar erst in der fünften Klasse, er erfüllt aber – jung und in Ausbildung – offensichtlich die wichtigsten Kriterien für ein Arbeitsvisum – im Gegensatz zu seiner Mutter, die bereits an der Altersgrenze scheitert.

Mit Peters erstem Newsletter erreichte mich eine Anfrage meiner Uni: „Bitte teilen Sie uns mit, ob Sie neben der schweizerischen auch noch eine ausländische Staatsbürgerschaft besassen oder aktuell besitzen.“ Hintergrund des Schreibens: Die Internationalität der Faculty ist eine wichtige Einflussgrösse für die Platzierung einer Universität in den Rankings. Zerknirscht musste ich eingestehen, dass ich das Ranking belaste. Ich lebte zwar fünf Jahre im Ausland, aus meiner Familie stammen zahlreiche Auswanderer in die ganze Welt – sogar eine Kolumbien (Wunder) wirkende und später heiliggesprochene Nonne. Dennoch finden sich nicht einmal Spuren ausserhelvetischer Gene; sogar die Katze ist einheimisch. Meine Kinder beklagen sich schon, weil sie keinen spannenden Background haben, nun tut dies auch meine eigene Universität.

Das aktive Werben um hochqualifizierte Einwanderer wie in Australien wäre in der Schweiz unvorstellbar. Einwanderer verursachen zuerst einmal Probleme. In Australien unvorstellbar wäre hingegen, dass sich Australier für ihren Pass rechtfertigen oder sich die Kinder dafür schämen müssen. Man ist stolz, Australier(in) zu sein.

Die Situation ist paradox: Wie Australien hat die Schweiz ihren Wohlstand nicht zuletzt den unternehmerischen Einwanderern zu verdanken. Es gelingt unserem Land vorbildlich, selbst die Kinder wenig gebildeter Einwanderer zu integrieren. Nur noch Kanada hat eine höhere Erfolgsquote, dies mit Einwanderungsregeln, die Qualifizierte bevorzugen. Die Schweiz ist zudem ein äussert erfolgreiches Auswandererland; viele Spitzenköche, Hoteldirektoren, Spitzenmanager und Professoren stammen aus der Schweiz. Eigentlich müssten die Eidgenossen stolz auf diese Erfolgsgeschichte sein. Doch weit gefehlt: Die Ausländer stören, die Schweizer ebenfalls. Ein ausländischer Pass ist ein attraktives Accessoire; fürs Ranking bei den Universitäten, für die Diversity bei den Firmen, um auf dem Pausenplatz nicht als bünzlige Schweizerin zu gelten.

Passend dazu geht die öffentliche Diskussion oft völlig an der Realität vorbei. Erstes Beispiel: Wir hätten momentan eine aussergewöhnliche Masseneinwanderung, bildlich dargestellt durch eine jährlich einwandernde Stadt St. Gallen. (Warum wohl ausgerechnet St. Gallen für diesen Vergleich herhalten muss?) Dabei wanderten in den 60-er und 70-er Jahren jährlich sogar zwei St. Gallen ein. Und brachten der Schweiz nicht nur Wohlstand, sondern auch etwas Italianità und – wer wollte es heute bestreiten – besseres Essen.

Zweites Beispiel: Die Personenfreizügigkeit (PFZ) mit der EU sei die Quelle allen Übels, schuld an der Kriminalität, der Belastung der Sozialwerke, den Integrationsproblemen in den Schulen, der räumlichen Enge. Doch die widerlichen Drogenhändler im Zürcher Kreis 4, wegen der wir unsere Kinder noch immer in die Musikschule begleiten müssen, stammen offensichtlich nicht auf den PFZ Ländern. Die herumlungernden Halbwüchsigen im St. Galler Bahnhof ebenfalls nicht. Kaum einer der in der Presse präsentierten Sozialhilfebetrüger ist aus einer PFZ Region. Und die PFZ Kinder integrieren sich genau so gut wie die Schweizer Auswanderkinder im Ausland. Bei genauerem Hinsehen sind die EU Ausländer nicht einmal schuld an den hohen Mietpreisen und den überfüllten Zügen. Die Hauptreiber sind die Schweizer selber, die sich – unter tatkräftiger Mithilfe der Tiefzinspolitik – mehr Wohnraum (und wenn man böse sein wollte: mehr Scheidungen) leisten können.

Drittes Beispiel: Der Glaube, dass es uns ohne Ausländer genauso gut ginge – einfach ohne Ausländer. Es ginge uns eben kaum so gut. Und dies nicht nur wegen den Ärztinnen, Ingenieuren und Putzfrauen, die an allen Ecken und Enden fehlen. Wie bei Güterexporten bringt der Austausch von Fähigkeiten und der Wettbewerb der Talente mehr Produktivität. Wettbewerb stört zwar die Gemütlichkeit. Doch ohne Ausländer gäbe es viele der Arbeitsplätze, die uns die Ausländer angeblich streitig machen, gar nicht. Mit der Gemütlichkeit ist es schnell vorbei, wenn die Mittel dafür fehlen.

Einige Ausländer stören tatsächlich. Die schweizerische Migrations- und Asylpolitik ist nämlich genauso schräg wie die öffentliche Diskussion. Doppelt so viele Nicht-Europäer kommen zu einer Aufenthaltsbewilligung via Asyl als via reguläres Arbeitsvisum. Eines der bedeutendsten Ein- und Auswandererländer der Welt empfängt ausgerechnet die Hochqualifizierten mit der Migrationspolitik eines unattraktiven und verschlossenen Bunkerstaates. Und bestätigt dabei genau das Bild, welches den Schweizern im Ausland oft präsentiert wird und das unser Selbstbild prägt.

Höchste Zeit, selbstbewusster und optimistischer aufzutreten. Eine vernünftige Migrationspolitik sorgt dafür, dass wir nicht so werden wie es in der Anfrage der Handelszeitung für diesen Artikel so schön hiess: verwöhnt, verunsichert und international verlassen.

Im falschen Film, Teil 2

Monika Bütler

Der Schweiz geht es offensichtlich blendend. In Zeiten knapper Kantonsfinanzen kann sie sich eine 60-köpfige Kommission leisten (davon 20 Behördenmitglieder aus den Kantonen), welche Filme für Kinder und Jugendliche prüft und entsprechend freigeben kann. Bahnbrechende Neuerung: Das Mindestzutrittsalter gilt neu einheitlich für die ganze Schweiz – oder mindestens fast, weil Zürich und der Tessin noch ausscheren.

Eine unter dem Namen Jugendschutz verkaufte Regulierung macht ohnehin wenig Sinn, wenn sie nur dort wirklich bindet – im Kino nämlich –, wo die soziale Kontrolle bereits gross ist. Alle Filme können bequem zu Hause angeschaut werden. Darüber habe ich in einer Kolumne für die NZZaS („Im falschen Film“) schon mal ausführlich geschrieben.

Weshalb aber eine einheitliche Regelung so wünschenswert ist, bleibt schleierhaft. Normierungen und Harmonisierungen machen Sinn, wenn unterschiedliche Regelungen die Mobilität der (Berufs-)Leute einschränken und den Wettbewerb stören. Beispiele für sinnvolle Harmonisierungen sind die schweizweite Anerkennung von Berufspatenten oder die partielle Angleichung der Lehrpläne zwischen den Kantonen. Als ich noch klein war, konnte eine Familie nicht umziehen, weil für die Kinder der Schulwechsel zu kompliziert und das Lehrerpatent der Mutter im Nachbarskanton nichts wert war.

Doch wo genau liegen denn die Gründe für eine Vereinheitlichung des Mindestalters? Niemand wird nicht von Zürich wegziehen können, weil das Zutrittsalter für den Film „More than Honey“ in Bern 8 Jahre, in Basel 10 Jahre statt wie in Zürich 6 Jahre beträgt. (Wie klein die Harmonisierungsmarge ist, zeigt sich schon daran, dass alle Journalisten genau diesen Film als Beispiel wählten). Psychische Schäden durch die Verunsicherung ausgelöst durch unterschiedliche Zugangsalter sehe ich beim besten Willen auch nicht, weder für Eltern noch für Kinder.

Wir versuchen unseren Studierenden, darunter viele Juristen, schon zu Beginn des Studiums beizubringen, dass es zur Begründung einer Regulierung ein Marktversagen braucht; Externalitäten, Verhinderung des Wettbewerbs usw.  Zu sehen davon ist leider wenig. Das Zutrittsalter zu den Kinos mag ein unbedeutendes Beispiel für eine sinnlose Regulierung ohne überzeugende Begründung sein. (Es nähme mich allerdings dennoch Wunder, wer diese 60-köpfige Kommission bezahlt). Es illustriert aber wunderbar die zunehmende Verdrängung des gesunden Menschenverstandes durch eine überbordende Bürokratie.

Bald in diesem Kino: Im falschen Film, Teil 3 (Anzahl der Folgen noch unbestimmt)

 

Die beste Familienpolitik ist … keine

Im März werden wir über den neuen Familienartikel abstimmen. Wer kann den schon gegen eine Besserstellung der Familien sein? Vermehrt melden sich nun auch kritische Stimmen, die eine Aufblähung des Sozialstaats und eine Einmischung des Staates in private Entscheidungen befürchten.

Ich habe vor zwei Jahren für die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften einen Aufsatz zur (Nicht-)Notwendigkeit einer speziellen Generationenpolitik verfasst. Er ist hier verlinkt. Meine Schlussfolgerung: Eine spezielle Generationenpolitik innerhalb der Fiskalpolitik braucht es nicht.

Obwohl ich an der damaligen Tagung fast die einzige war, die sich gegen eine spezielle Generationenpolitik aussprach, wählte mich die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) kurz darauf in den Vorstand. Das ist wahre Wissenschaft; die SAGW hätte ja auch vor mir warnen können.

Höhere Steuern? Höhere Steuern!

Monika Bütler

Aus aktuellem Anlass (gravierende Budgetprobleme in denjenigen Kantonen, welche ihre Steuern massiv gesenkt hatten) hier eine alte Kolumne in der NZZ am Sonntag (11. September 2011).

Die Lage der öffentlichen Finanzen in der Schweiz ist schlechter, als es scheint

Verkehrte Welt! In verschiedenen Ländern fordern reiche Bürger höhere Steuern. Die Regierungen? Wollen nicht. Dabei täten sie gut daran, die Argumente für etwas mehr Steuern auf sehr hohen Einkommen und Vermögen zu prüfen. Auch in der Schweiz.

Noch vor wenigen Jahren galten Steuersenkungen als Gratisaktion: Dank mehr Investitionen und höherer Produktivität würden sich die Steuersenkungen selbst finanzieren. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Neben Gewinnen für die Bessergestellten blieben Defizite der öffentlichen Hand. Eigentlich müssten heute mindestens ein Teil der Steuersenkungen rückgängig gemacht werden. Doch fast alle (Politiker) scheuen nur schon die Diskussion darüber. Dabei steht es um die öffentlichen Finanzen schlechter, als es scheint. In den offiziellen Zahlen sind die impliziten Schulden aufgrund der alternden Bevölkerung noch gar nicht eingerechnet.

Einem wohl länger anhaltenden Rückgang der Steuereinnahmen zum Trotz: Lieber werden der Polizei und den Spitälern die dringend notwendigen Stellen vorenthalten und die Infrastruktur vernachlässigt als Steuern angehoben. Doch solche Sparübungen bringen gesamtwirtschaftlich wenig. Aber sie treffen die weniger Verdienenden und gefährden den Zusammenhalt der Bevölkerung, letztlich die Grundlage einer erfolgreichen Wirtschaft. Es erstaunt nicht, dass die Halbierung der Vermögenssteuern im Kanton Zürich wuchtig verworfen wurde.

Auch viele Reichen haben erkannt, worin der Erfolg westlicher Volkswirtschaften besteht. Ungleichheiten werden akzeptiert, solange die Glücklicheren ihren Teil am Gemeinwohl leisten. Eigentum verpflichtet, heisst es sogar explizit im deutschen Grundgesetz. Ganz besonders stark ist der stillschweigende Gesellschaftsvertrag in den USA. Das erklärt einen Teil der Ungeduld, mit der die USA von der Schweiz einfordern, was Steuerflüchtige der amerikanischen Gesellschaft finanziell und ideell entzogen haben.

Die Angst der Politiker und vieler Bürger selbst vor einer geringfügig stärkeren Besteuerung sehr hoher Einkommen und Vermögen ist dennoch verständlich. Denn die Linke fordert Steuererhöhungen, nicht um Schulden und Defizite abzubauen, sondern um Mehrausgaben zu finanzieren, von frühzeitiger Pensionierung bis zu Subventionen für alles und (fast) jeden. Wer gegen solche Ausgaben ist, kämpft logischerweise gegen Steuererhöhungen.

Dass sich die Kantone scheuen, Steuern für sehr hohe Einkommen anzuheben, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Mit dem neuen Finanzausgleich (NFA) wurde einem gut funktionierenden Steuerwettbewerb zwar eine solide Grundlage verpasst. Dennoch ist es für die Kantone noch immer „günstiger“, sehr Reiche anzuziehen als den wirtschaftlich oft viel stärker engagierten Mittelstand und das Unternehmertum. Selbst wenn die Diskussion in erster Linie auf Bundesebene stattfinden muss: Auch die Kantone werden nicht darum herum kommen, ihre Einnahmen den geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen, wenn sie nicht mit einem Schuldenberg enden wollen.

Mindestens eines hat die Schweiz anderen Ländern voraus. Die Diskussion über eine Ausgestaltung des Steuersystems ist noch nicht polarisiert. Wir haben keine Tea- oder Kafi-Lutz-Party. Dafür einen funktionierenden und effizienten Staat, in welchem sich der Grossteil der Bevölkerung — arm und reich — noch dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt. Für die sehr Reichen könnten sich etwas höhere Steuern – solange das Geld nicht gleich wieder ausgegeben wird – sogar lohnen. Auf die Dauer sind gesunde Staatsfinanzen der beste Schutz vor Vermögens- und Einkommensverlusten.

Gelingen müsste deshalb ein „historischer Kompromiss“: etwas höhere Steuern für die obersten Einkommen und Vermögen, aber ohne zusätzliche Ausgaben. Steuerwillige Reiche und haushälterische Linke vereinigt Euch!

 

Der Umwandlungssatz im BVG hält – nicht.

… oder von der Senkung des Umwandlungssatzes durch die Hintertüre

Monika Bütler

publiziert in der NZZ am Sonntag, 2. Dezember 2012

 „Wenn ich sage, die Brücke hält, dann hält die Brücke!”  Man muss den Film Der General (1926) von und mit Buster Keaton gar nicht gesehen haben, um das Ende zu erahnen. Die Brücke hält nicht. Wir lachen über den unglücklichen Befehlshaber und sind ihm doch verwandt: Der Glaube, Markt- und Naturkräfte durch Willen auszuhebeln, ist offenbar angeboren.

Aktuelles Beispiel: Der Umwandlungssatz in der beruflichen Vorsorge. Dieser beträgt noch immer 6.8%. Bei einem Zinssatz von 2% reicht das bis zur Pensionierung angesparte Vermögen (ohne Verwaltungskosten!) nur für weitere 17 Lebensjahre. Also allerhöchstens noch für unverheiratete Männer; die einzige Gruppe übrigens, die ihre Kosten selber deckt. Alle anderen – Frauen und verheiratete Männer – beziehen direkt oder indirekt über ihre Witwen im Schnitt zusätzlich 4-5 Jahre Rente.

Doch während sich weite Kreise gegen jede Senkung des Umwandlungssatzes wehren, beginnen Pensionskassen reihum, einschneidende Massnahmen zu treffen, die im Endeffekt genau diese Senkung vollziehen. Einfach durch die Hintertür.

Die Kassen können sich den überhöhten Satz nämlich schlicht nicht leisten und müssen ihn irgendwie senken. Verschiedene Wege stehen offen, alle ganz legal. Eine Möglichkeit ist die harte Sanierung. Ein typisches Paket: Zusätzliche 2%-Beiträge für Arbeitgeber und Versicherte plus Reduktion der Mindestverzinsung um 0.5% während 5 Jahren. Dies wirkt wie eine Senkung des Umwandlungssatzes von 6.8 auf 6.4%. Für jüngere Versicherte ist der Verlust wegen den Zinseffekten noch grösser; zudem müssen sie unter Umständen mehr als einmal eine Sanierung mitfinanzieren.

Sanfter ist die Reduktion über die Verwischung von Überobligatorium und Obligatorium.  Solange die gesetzlichen Leistungen erbracht werden, darf der Umwandlungssatz einer sogenannt umhüllenden Kasse (ohne explizite Trennung zwischen Obligatorium und Überobligatorium) nämlich tiefer sein als der gesetzliche Umwandlungssatz.

Zudem haben die Kassen einen Anreiz, bestimmte Vorsorgegelder (Zahlungen bei Stellenwechsel oder Deckung von Beitragslücken nach Scheidung und Arbeitslosigkeit) im für sie „billigeren“, für die Versicherten aber schlechteren Überobligatorium zu verbuchen. Je unrealistischer der gesetzliche Umwandlungssatz, desto grösser der entsprechende Druck auf die Kassen.

Zu guter Letzt besteht die Gefahr, dass die Kassen den Versicherten mindestens nicht ausreden, das angesparte Kapital bei der Pensionierung in bar zu beziehen. Damit fällt das Problem des richtigen Umwandlungssatz weg, allerdings auch die Versicherung der Langlebigkeit. Gehen den Versicherten im Alter die Mittel aus, zahlt die Allgemeinheit mit Ergänzungsleistungen.

Kurz: Wir können zwar befehlen „Der Satz hält!“, doch die demografische Schwerkraft ist stärker: Entweder wir senken den Satz, offiziell, transparent und regelgebunden. Oder –– wir halten an ihm fest. Dann sinkt er versteckt und unkontrolliert.

Im Sinne einer effizienten, gerechten und transparenten Vorsorge ist dies sicher nicht. Umso erfreulicher, dass unser Innenminister bei seinem Vorschlag zur Reform der Alterssicherung sowohl eine Senkung des Umwandlungssatzes wie auch mehr Transparenz fordert.

Buster Keaton verzichtete für die berühmte Brückenszene übrigens auf ein Modell. Der echte Zug, der die Brücke überqueren sollte, stürzte mit ihr in die Tiefe. Die Szene gilt als teuerste der ganzen Stummfilmzeit, das Zugswrack blieb während Jahrzehnten eine Touristenattraktion. Noch könnten wir in der beruflichen Vorsorge an einem Modell üben. Beharren wir aber auf dem heutigen Umwandlungssatz, nehmen wir den Absturz der echten Beruflichen Vorsorge in Kauf. Sie wird dann allerdings nicht zur Touristenattraktion, höchstens zu einer Fallstudie. Und zu einer Falle für die Jungen: Sie ist nämlich – im Gegensatz zu Buster Keatons Zug – bemannt.

Heiratsstrafe in der AHV: Update

Monika Bütler

Herr Camenzind vom BSV hat mir freundlicherweise die neuesten Daten zur Debatte Heiratsstrafe oder Heiratsbonus in der AHV übermittelt. Vielen herzlichen Dank!

Gegenüber den alten Berechnungen ist der Bonus etwas kleiner geworden. Woran dies liegt, weiss ich nicht. Eine mögliche Ursache ist die höhere Lebenserwartung, vor allem die der Männer: Diese senkt den Wert der Witwenrente und vergrössert die Heiratsstrafe durch die Plafonierung. Es bleibt aber bei einem deutlichen Bonus.

Die Berechnungen des BSV enthalten allerdings eine wichtige Komponente des Heiratsbonus nicht: Durch das Splitting der AHV-Beiträge und der sehr progressiven Ausgestaltung der AHV löst ein einzelnes Erwerbseinkommen während der Ehe deutlich höhere Rentenzahlungen aus als dasselbe Einkommen eines/r Alleinstehenden. Dies, auch wenn die Ehepaarrente später plafoniert wird. Ein Alleinstehender mit einem massgeblichen Einkommen von 160’000 Franken erhält die AHV Maximalrente. Der verheiratete Einverdiener-Ehemann löst mit demselben Einkommen eine 1.5 mal höhere Rente aus – dies obwohl hier die maximale Plafonierung zum Einsatz kommt.

Klein- und Mittelverdiener sind im übrigen nicht von der Plafonierung betroffen. Die AHV ist dem V im Namen zum Trotz nur teilweise eine Versicherung. Sie enthält viele Solidaritäten/Umverteilungskomponenten deren Ziel es ist, Armut im Alter zu vermeiden. Und von der Armut im Alter sind Alleinstehende nachweislich viel häufiger betroffen als Ehepaare.

Heiratsstrafe oder Heiratsbonus in der AHV?

Monika Bütler

Der frühere BSV Chef Yves Rossier hat es vorgerechnet: Die vermeintliche Heiratsstrafe in der AHV (Plafonierung der Ehepaarrenten auf 150% der Maximalrente) ist im Durchschnitt ein Heiratsbonus. Denn was einem Ehepaar nach der Pensionierung gekürzt wird, ist deutlich kleiner als die Vorteile, die einem verheiraten Paar zugute kommen vor der Pensionierung.

Yves Rossier geht von finanziellen Nachteilen in der Grössenordnung von 1.7 Mia Franken pro Jahr aus (Plafonierung der Rente). Demgegenüber stehen Vorteile von circa 3 Mia Franken gegenüber. Diese setzen sich primär zusammen aus einer Beitragsbefreiung des nichterwerbstätigen Ehepartners während der Ehe und der Witwen/Witwerrente.

Durch die Beitragsbefreiung und das Splitting der Beiträge während der Ehe kann eine halbe bis eine ganze zusätzliche Rente ausgelöst werden – ohne dass der/die Empfängerin je zur Finanzierung der AHV beigetragen hätte. Dieser Vorteil wird nämlich auch kinderlosen Ehepartnern gewährt. Was daran familienfreundlich sein soll, ist mir schleierhaft.  Durch Betreuungsgutschriften erhalten Eltern ja bereits einen grosszügigen Zustupf an die AHV Beiträge (meiner Meinung nach ist dies die richtige Stossrichtung).

Mit der Witwenrente und Zusatzleistungen zur Witwenrente (auch für kinderlose Witwen) bietet die AHV den Ehepaaren zudem eine kostenlose Versicherung, die pro Jahr mit mehr als 2.5 Mia Franken zu Buche schlägt.  Die von Rossier bezifferten Kosten dieser Leistungen unterschätzen den Wert der Versicherung noch. Denn müssten die Individuen auf dem privaten Markt die Leistungen kaufen, wären sie wohl bereit, deutlich mehr für eine Absicherung des hinterbliebenen Partners zu bezahlen. So wie wir bei allen Versicherungen tendentiell mehr zu zahlen bereit sind als der erwartetete Wert der Leistungen.  

Natürlich stimmt diese Rechnung nur im Durchschnitt, nicht für alle: Am besten fährt, wer bis zur Pensionierung verheiratet zusammenbleibt (und so von den Vorteilen der AHV in der Ansparphase profitiert) und sich nach der Pensionierung sofort scheiden lässt (um der Plafonierung zu entgehen). Dass sich  einige Paare  durchaus so verhalten, zeigt ein früherer Beitrag im batz.

Man muss die gesellschaftspolitischen Werte, die der Struktur der AHV zugrunde liegen, nicht mögen: Das System ist wenigstens konsistent. Es geht davon aus, dass Ehepaare – mit oder ohne Kinder – dem traditionellen Lebensentwurf folgen (er arbeitet, sie arbeitet nicht oder nur Teilzeit oder nur wenn die Kinder ausgeflogen sind) und zusammenbleiben, bis der Tod sie scheidet.

Sind Professor(inn)en Mimosen?

Monika Bütler

Kolumne in der NZZ am Sonntag, 4. November (veröffentlicht unter dem Titel: Professoren wollen nicht mehr an die Öffentlichkeit; Angst vor Anfeindungen, Forschungsdruck – Rückzug in den Elfenbeinturm ist schlecht)

 Warum machst Du das bloss?», fragten mich zwei Kolleginnen kürzlich anlässlich einer Konferenz. Dabei mache ich gar nichts Unanständiges. Ich hatte nur erzählt, dass wir – eine Gruppe von Volkswirtschaftsprofessoren an den Universitäten Zürich, Lausanne und St. Gallen – einen Blog betreiben; ein Online-Forum zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen, das ab und zu auch für Aufregung sorgt. Etwa wenn der Chef einer Grossbank selber einen Kommentar auf dem Blog hinterlässt. Oder wenn Beiträge von der Presse aufgenommen werden – freundlich oder weniger freundlich.

Die mögliche Aufregung fanden meine Kolleginnen fast schon bedrohlich. Zwar sind beide keine stereotypen Modellschreinerinnen im Elfenbeinturm, sondern international beachtete Forscherinnen mit relevanten Themen. Zum Beispiel: Wie reagieren Individuen auf aktive Arbeitsmarktmassnahmen? Führt eine Erhöhung des Rentenalters zu mehr Arbeitslosigkeit? Wie unterscheidet sich die Sozialhilfeabhängigkeit zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen? Themen, die auch die Allgemeinheit interessieren. Gleichwohl ist ihnen Öffentlichkeitsarbeit nicht geheuer.

Warum die Zurückhaltung? Zum einen frisst Öffentlichkeitsarbeit der Forschung wertvolle Zeit weg. Sie kostet sogenannten Impact, das heisst Zitate in vielzitierten Publikationen – die Einheitswährung im Forschungsbetrieb. Da ist privates Schreiben und öffentliches Schweigen Gold. Allgemein verständliche Aufsätze zu schreiben oder mit den Medien zu reden, ist bestenfalls Blei. Dieses zieht nach unten: Jede Minute verlorene Forschungszeit rächt sich: weniger Forschungsgelder, tieferes Ansehen, noch weniger Forschungszeit, usw. Attraktiv bleibt die Öffentlichkeitsarbeit für jene, die in der Forschung nichts zu verlieren haben – nicht immer die besten Ratgeber des Volkes.

Die öffentliche Sprechhemmung vieler Kollegen liegt, zum andern, auch an der Angst vor Anfeindungen und Angriffen. Besonders ausgeprägt ist dies in Disziplinen, in denen sich wissenschaftliche Inhalte nicht so leicht von politischer Meinung unterscheiden lassen. In den Sozialwissenschaften riecht – anders als in den meisten Naturwissenschaften – ein Forschungsergebnis oft gleich nach Politik. Jede(r) ist Experte für das Rentenalter oder die Sozialhilfeabhängigkeit. So löst schon das Wort «Anreiz» gereizte Reaktionen aus. Immer.

Sind Forscher Mimosen? Zur Wissenschafts- und Meinungsäusserungsfreiheit gehört nämlich auch die Bereitschaft, Kritik – selbst unfaire – zu ertragen. Obschon noch immer davon überzeugt, kamen mir in den letzten Monaten Zweifel. Medienschelte ist das eine; sie zeigt immerhin, dass man gelesen wird. Was aber, wenn Forscher für ihre Aussagen nicht bloss kritisiert, sondern auch rechtlich zur Verantwortung gezogen werden? So wie kürzlich die Seismologen in Italien. Oder wenn unter tatkräftiger Mithilfe aus den Universitäten vertrauliche Interna in den Medien breit getreten werden. Nicht aufzufallen, ist immer noch der beste Schutz.

Traurige Ironie: Dank einer grösseren Forschungsorientierung sind die Schweizer Universitäten in den letzten Jahren qualitativ viel besser geworden; gleichzeitig verbreiteten sich die Gräben zwischen Akademie und Öffentlichkeit. Ausgerechnet in einer Zeit, in der wir am meisten von der Forschung lernen könnten, schweigen viele Wissenschafter. Und jeder Angriff ist – je nach Standpunkt – guter Grund oder billiger Vorwand für ein weiteres Stockwerk im Elfenbeinturm.

Es liegt an allen Seiten, den Dialog lebendig zu erhalten und Gräben zu überbrücken. Professoren sollten ihr Wissen der Öffentlichkeit zugänglich machen können, bevor diese fragt: «Was machen die bloss?» Die Professoren, die sich die Mühe machen, mit der interessierten Öffentlichkeit zu reden, sollten sich anderseits nicht ständig fragen müssen: «Warum mache ich dies bloss?»

Maturandenquote und Jugendarbeitslosigkeit…

… oder weshalb Korrelation noch lange nicht Kausalität bedeutet.

Monika Bütler

Bundesrat Schneider-Ammann meinte heute in der NZZ am Sonntag: „In Ländern mit hoher Maturaquote ist auch die Arbeitslosigkeit höher. Die Kopflastigkeit der Bildung trug dort ihren Teil zur Deindustrialisierung bei“. Die erste Aussage von BR Schneider-Ammann ist offensichtlich richtig; zwischen der Maturandenquote und der Arbeitslosigkeit (vor allem der Jugendarbeitslosigkeit) gibt es eine deutliche, wenn auch nicht perfekte Korrelation. Mehr Mühe habe ich mit der zweiten Aussage: Damit wird eine kausale Verbindung zwischen der Maturandenquote und der Arbeitslosigkeit impliziert. Oder in anderen Worten: Die Maturandenquote ist schuld an der Arbeitslosigkeit.

Korrelation ist aber noch lange nicht Kausalität. Zeigen die Daten – wie im vorliegenden Fall – eine Korrelation zwischen Maturandenquote und Jugendarbeitslosigkeit, so können prinzipiell drei Ursache-Wirkungsketten unterschieden werden.

  1. Die Maturaquote ist ursächlich verantwortlich für die Arbeitslosenquote. Das ist die These, die BR Schneider-Ammann zumindest unterstellt wird. Das würde dann auch heissen, dass ein Land durch ein Absenken der Maturandenquote die Arbeitslosigkeit direkt senken könnte.
  2. Die Arbeitslosenquote ist ursächlich verantwortlich für Maturandenquote. Zum Beispiel weil die hohe (Jugend-)Arbeitslosigkeit die jungen Menschen dazu bringt, eine akademische Ausbildung anzustreben. Das heisst dann auch: wenn es gelingen würde, die ALQ zu senken würde die Maturandenqute automatisch sinken.
  3. Es gibt eine gemeinsame unterliegende Ursache, die sowohl die Arbeitslosigkeit wie auch die Maturandenquote beeinflusst. Kandidaten für solche unterliegende Ursachen sind eine verfehlte Bildungspolitik und ein überregulierter Arbeitsmarkt (der es den Unternehmen kaum möglich macht, Lehrlinge auszubilden) .

Es ist empirisch nicht ganz einfach, die richtige Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit zu identifizieren. Dennoch ist die Richtung der Ursache-Wirkungskette entscheidend für die richtige Wirtschaftspolitik. Aufgrund der Daten und Studien aus den verschiedenen Ländern komme ich zum Schluss, dass die dritte Möglichkeit die Wahrscheinlichste ist. Eine gute Bildungspolitik und ein liberaler Arbeitsmarkt (zu dem ich auch eine zuverlässige, effiziente und grosszügige Arbeitslosenversicherung zähle) gehören zu den Hauptgründen einer tiefen (Jugend-)Arbeitslosigkeit. Die Maturandenquote hat damit direkt gar nichts zu tun.

Kompliment dennoch an BR Schneider-Ammann: Der Berufsbildung einen hohen Stellenwert einzuräumen und ihr dafür die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen scheint mir sehr sinnvoll.

Achtung Professoren: Die Weltwoche warnt

Die Anfrage der Weltwoche klang harmlos. „Für einen kommenden Artikel über die Universitätslandschaft in der Schweiz suchen wir nach Portraits von Professoren. Im Falle der HSG wären das Professor Manfred Gärtner & Professor Rolf Wüstenhagen.“ Mehr dazu stand in der email Anfrage nicht. Unsere Pressestelle war besorgt.

Zu Unrecht. Was da in Philipp Guts Warnung vor Schweizer Professoren steht, ist teilweise falsch, vor allem aber belanglos und oberflächlich. Genauso harmlos wie die Anfrage eben.

Das fängt schon bei der Auswahl der Professoren an, vor denen gewarnt werden muss. Es sind die usual suspects der Weltwoche, unter anderem Andreas Fischlin (Systemökologie/Klima ETHZ), Philipp Sarasin (Geschichte UZH), Andrea Maihofer (Gender Forschung, Uni Basel), Kurt Imhof (Soziologie, UZH). Neue, nicht schon x-fach wiederholte Informationen zu diesen Personen und zu ihren furchterregenden Forschungsgebieten fanden sich im Artikel jedenfalls keine. Die Anzahl gefährlicher Professoren scheint auf jeden Fall ziemlich klein zu sein.

An der HSG lokalisierte Philipp Gut genau zwei der Professoren (Manfred Gärtner und Rolf Wüstenhagen), die schon früher in lokalen Medien politisch angegriffen wurden.  So nach dem Motto: Die Wissenschaft solle sich nicht in die Politik einmischen. Wenn es Grund zur Besorgnis gegeben hätte, dann wäre es dieser Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit gewesen. Ich kann mich auf jeden Fall nicht erinnern, dass in St.Gallen je von linker Seite gegen einzelne HSG Professoren Stimmung gemacht wurde.

Ich teile, wie andere HSG Kolleg(inn)en, längst nicht alle Meinungen von Manfred Gärtner und Rolf Wüstenhagen. Doch die Ökonomie ist keine genaue Wissenschaft und man kann – wissenschaftlich fundiert – zu unterschiedlichen Schlüssen gelangen. Letztlich ist es der wissenschaftliche Diskurs, welcher die Forschung und dadurch auch deren wirtschaftspolitische Anwendung weiterbringt.  Dazu tragen meine beiden Kollegen bei – zum Glück. Wären denn der Weltwoche weltfremde Modellschreiner im Elfenbeinturm lieber?

Philipp Guts Analyse zur makroökonomischen Lehre an der HSG ist zudem nachweislich falsch. Er schreibt: Dieses weitverbreitete Gedankengut (MB: gemeint ist der Keynesianismus) wäre auszuhalten, wenn es innerhalb der HSG ein Gegengewicht zu Gärtner gäbe. Das ist nicht der Fall“. Wie bitte? Hat Gut denn überhaupt meine anderen Kollegen und ihre Forschung angeschaut. Wer die Debatte nach der Finanzkrise auch nur halbwegs verfolgt hat, muss zum Schluss kommen, dass der Autor die letzten fünf Jahre im Tiefschlaf verbracht haben muss. Wenn der HSG von verschiedenen Seiten etwas vorgeworfen wurde, dann dass sie sich dem neoliberalen Gedankengut verpflichtet fühlte und die Finanzkrise durch die unkritische Ausbildung ihrer Studenten mitverursachte.

Zum Schluss gibt Gut noch ein bisschen Entwarnung, indem er den Studenten ein Kränzchen windet. Er schreibt: „Bildet die HSG also seit Gärtners Stellenantritt 1986 nur noch Unternehmer und Ökonomen aus, die von höheren Staatsschulden träumen und die Finanzmärkte als Problem betrachten? So schlimm steht es nicht: Unter Absolventen mit Finance-Hintergrund kursierten nach Gärtners Veröffentlichungen E-Mails mit dem Betreff: «Wer stoppt Manfred Gärtner?» „ Na also. Wenn Philipp Gut noch ein wenig mehr recherchiert hätte und ein bisschen über den Tellerrand geblickt hätte, wäre ihm eventuell etwas Entscheidendes aufgefallen: Die Forschung ist sich nämlich in einer Frage einig: Studenten lassen sich von ihren Professoren ideologisch gar nicht beeinflussen.