Soziologie qua Schachtelsatz

Voller guten Willens zur wissenschaftlichen Horizonterweiterung habe ich heute in einem soziologischen Werk über Ökonomie geblättert. Darin

„…wird die These vertreten, dass die Entwicklungsdynamik der modernen Ökonomie – und dies schliesst die […] evolutionären Prozesse auf den heutigen internationalen Finanzmärkten ein – sich weder durch einen Bezug auf Handlungsrationalität noch auf dem Wege einer allgemeinen Theorie materieller Reproduktion entschlüsseln lässt, sondern nur qua Analyse des Zusammenhangs ihrer rekursiv aufeinander verweisenden monetären Formen (etwa Preis, Geldfunktionen, Kapital, Profit, Zins etc.). Denn es sind diese Formen – so die zweifellos auf den ersten Blick befremdlich anmutende Überlegung –, die in der Sphäre des Ökonomischen Subjekt und Objekt vermitteln und beide Pole – das rational handelnde Individuum und die Wirtschaft als opakes Ding-an-sich – erst wechselseitig konstituieren, bzw. einer systemtheoretischen Lesart nach, die von Luhmann abstrakt konzipierte Konditionierung der Systemelemente – also Handlungen bzw. Kommunikationen – durch das System konkret bestimmen.“

So so.

Eine gastronomische Parabel zum Steuerwettbewerb

Zur Entspannung nach einer langen Gastvorlesung zum Thema Steuerwettbewerb habe ich kürzlich Urs Birchlers Interview auf Radio DRS angehört.

Nebst fundierten ökonomischen Kenntnissen und einem eklektischen Musikgeschmack hat Urs eine gute Nase für anschauliche Beispiele. So verglich er das Dilemma der Schweizer Banken mit der Lage, in der sich ein Wirt versetzt sähe, wenn der Staat ihn in die Pflicht nehmen würde, falls einer seiner Gäste die Rechnung mit unversteuertem Geld begleichen würde. Der Kern dieser Frage ist, in welchem Mass private Dienstleister staatliche Kontrollfunktionen übernehmen sollen.

Beim Zuhören wurde mir auf einmal klar, dass sich das Restaurant-Beispiel ebenfalls eignet zur Illustration eines Konzeptes, welches ich in meiner Vorlesung zu erklären versucht hatte: der Unterschied zwischen „Fair-Play-Steuerwettbewerb“ und „Steuerversteck-Wettbewerb“.

Der Fair-Play-Steuerwettbewerb ist wie die Konkurrenz unter Restaurants, welche mit attraktiven Preisen und schmackhaften Menüs um Kundschaft buhlen: Die Preise (sprich: Steuern) werden durch den Konkurrenzdruck in Schranken gehalten, und gleichzeitig bestehen Anreize, die Qualität der Bewirtung (sprich: der staatlichen Leistungen) dem Geschmack der Kundschaft anzupassen. So ungefähr kann man sich den Steuerwettbewerb innerhalb der Schweiz vorstellen.

Der Steuerversteck-Wettbewerb hingegen wäre zu vergleichen mit dem Verhalten von exklusiven Cafés, welche Zechprellern aus umliegenden Restaurants für den Preis eines edlen Espressos garantieren würden, den aufgebrachten Wirt von nebenan nicht herein zu lassen. In einer solchen Welt könnten die Cafés ihr Produkt mit saftigen Margen an die satten Gourmets verkaufen, während die Restaurants um ihre Einkünfte bangen müssten.

Was könnten die Wirte tun? Sie könnten systematische Ausgangskontrollen aufstellen; doch das wäre teuer und dem Image nicht eben förderlich. Oder sie könnten ihre Preise so weit hinauf setzen, dass die Einkünfte von ehrlichen Gästen – und von solchen, welche keinen Zugang haben zu den exklusiven Cafés – die von den Zechprellern verursachten Ausfälle kompensieren würden. Dies dürfte ihren Umsatz jedoch schmälern. Oder die Wirte könnten sich mit den Cafés einigen, dass ihnen letztere zur Vergeltung ab und zu eine Ladung Schokolade zustellen. Spätestens wenn die Filet-Preise plötzlich hochschnellen oder die zahlenden Gäste ausbleiben sollten, würden sich die Wirte mit den Schokoladelieferungen möglicherweise nicht mehr zufrieden geben…

Diese simple Metapher hat ein wissenschaftlich respektables theoretisches Gegenstück. Zwei international führende Experten, Joel Slemrod und John Wilson, haben im Journal of Public Economics unlängst ein formales Modell mit „parasitären Steueroasen“ publiziert, in welchem sie aufzeigen, wie die Abschaffung von Steueroasen den Nicht-Oasen zum Vorteil gereicht. Meine Folgerungen aus einer solcher Betrachtung für den schweizerischen Steuerstreit mit der EU kann man hier nachlesen.

Abschaffung der Pauschalsteuer: Ein Eigentor?

Der 1.1.2010 war ein ökonomisch interessantes Datum — nicht allein weil dieser Blog damals aufgeschaltet wurde, sondern auch weil seit dann die Pauschalsteuer im Kanton Zürich abgeschafft ist. Nunmehr sind alle reichen Ausländer prinzipiell den gleichen Steuern unterworfen wie Schweizer. In verschiedenen anderen Kantonen sind Vorstösse hängig, es den Zürchern gleich zu tun.

Vor der Zürcher Abstimmung von Februar 2009 hatten die Gegner in erster Linie darauf hingewiesen, dass die Abschaffung der Pauschalsteuer zu einem Exodus von begüterten Ausländern führen, und damit den Staatsfinanzen schaden, würde. Diese Prognose scheint sich auf den ersten Blick gemäss einer Umfrage der NZZ zu bestätigen: Bereits jetzt haben ungefähr ein Drittel der Pauschalbesteuerten ihre Zelte abgebrochen. Ein fiskalisches Eigentor also, wie Kantonsrat Hans-Peter Portmann bereits im Herbst prognostizierte?

Nicht so schnell. Damit eine Steuererhöhung dem Staatshaushalt per Saldo abträglich ist, reicht es nicht aus, dass eine gewisse Anzahl Steuerzahler abwandern. Entscheidend ist die Differenz zwischen den Steuererträgen, welche durch die Mehrbelastung der verbleibenden Steuerzahler eingenommen werden, und den Steuererträgen, welche durch Abwanderung verloren gehen. Diese simple Rechnung wird in Diskussionen zum interkantonalen Steuerwettbewerb erstaunlich selten geliefert.

Die Rechnung ist an sich zwar einfach, aber an die dazu erforderlichen Daten ist oft schwer heranzukommen – und dies erst recht bei der geheimnisumwobenen Pauschalsteuer. Da eine grobe Schätzung immer noch besser ist als gar keine, hier ein Versuch.

Gemäss offizieller Statistik beherbergte Zürich im Jahr 2008 201 Pauschalbesteuerte. Diese lieferten 32.2 Millionen Franken an Steuern ab, also im Durchschnitt ca. 160’000 Franken. Da die Pauschalsteuer in der Regel auf das Fünffache der Wohnkosten berechnet wird, kann man schätzen, dass diese Pauschalbesteuerten im Durchschnitt ca. 80’000 Franken an Wohnkosten auswiesen. Wie hoch das Einkommen und Vermögen dieser Personen tatsächlich liegt, können wir nicht wissen. Gehen wir einmal davon aus (und dies ist die alles entscheidende Hypothese), dass die Wohnkosten der Pauschalbesteuerten im Durchschnitt 5 Prozent ihres Gesamteinkommens ausmachen. Dieser Anteil ist gemäss schweizerischer Haushaltsstatistiken für Einkommen über 400’000 Franken realistisch. Ignorieren wir gleichzeitig die Vermögensbesteuerung. Demgemäss würde der durchschnittliche Pauschalbesteuerte über ein Gesamteinkommen von 1.6 Millionen (=80’000/0.05) verfügen. Wenn er nun dieses Gesamteinkommen versteuert, zahlt er neu ca. 530’000 Franken, statt der bisherigen Pauschalsteuer von 160’000 Franken. Seine Steuerrechnung ist nun also 3.3 Mal höher. Wenn wir bloss die Gemeinde- und Kantonssteuern berücksichtigen, die weniger progressiv sind als die direkte Bundessteuer, dann liegt dieser Faktor immer noch bei 2.9.

Gemäss dieser Schätzung würde die Abschaffung der Pauschalsteuer in Zürich für den kantonalen Fiskus also dann negativ zu Buche schlagen, wenn mehr als zwei Drittel der Pauschalbesteuerten aufgrund der Abschaffung wegziehen würden. So stark ist die Abwanderung offenbar noch nicht.

Angesichts der hohen Mobilität dieser Personen sind weitere Wegzüge jedoch durchaus denkbar, und potenzielle Zuzüger werden sich anderswo umschauen. Das Zürcher Steueramt hat für Anfang 2011 eine fundierte statistische Analyse der Auswirkungen auf die Staatsfinanzen versprochen. Ich bin gespannt.

Tiefe Studiengebühren sind ungerecht

Der Ruhe auf dem Lausanner Campus nach zu schliessen, sind die landesweiten Studentenproteste der Vorweihnachtszeit weitgehend verpufft. Gewisse Forderungen hallen jedoch nach. Allen voran der Ruf nach „freier Bildung für alle“ – sprich Abschaffung der Studiengebühren. Dass solche Begehren durchaus politische Wirkung erzielen, wurde am 4. Januar deutlich, als der Zürcher Kantonsrat eine Erhöhung der universitären Semestergebühren von 690 auf 1200 Franken knapp ablehnte. Artikel in der NZZ

Die jährlichen Immatrikulationsgebühren der Schweizer Universitäten liegen zwischen 1000 Franken in Genf und 4000 Franken in Lugano. Im Durchschnitt kommen die Schweizer Studenten somit für weit weniger als einen Zehntel der auf jährlich 30000 Franken geschätzten Kosten ihres Studiums selber auf (vom Lebensunterhalt und Lohnausfall einmal abgesehen). Ist das immer noch zu viel?

Gegner von Studiengebühren setzen sich gerne auf den philosophischen Standpunkt, Bildung, inklusive an der Universität, sei ein Grundrecht. Diese Ansicht steht keineswegs im Widerspruch zur Erhebung von Studiengebühren. Nahrung, Kleidung und Wohnraum sind schliesslich auch Grundrechte, doch der Staat verteilt diese Güter nicht umsonst an die gesamte Bevölkerung. Das Grundrecht Studium kann zum Beispiel mittels ausreichender und einfach zugänglicher, aber bedarfsorientierter, Stipendien gesichert werden. Darlehen, deren Rückzahlung vom nach Studienabschluss erzielten Einkommen abhängt, sind eine andere interessante Lösung – und dies nicht zuletzt aus der Perspektive der Gerechtigkeit, denn wer später mehr verdient trägt somit einen grösseren Teil seiner Studienkosten.

Die staatliche Finanzierung des Hochschulstudiums via tiefe Studiengebühren ist insofern ungerecht, als es sich dabei um eine Umverteilung von unten nach oben handelt. Unter den Studenten sind Akademikerkinder, und somit Sprösslinge relativ wohlhabender Eltern, stark übervertreten. Tiefe Studiengebühren entsprechen dem Giesskannenprinzip: Der Staat zahlt für Bedürftige ebenso wie für Nicht-Bedürftige, anstatt gezielt den Bedürftigen unter die Arme zu greifen.

Letztlich umfasst eine soziale Bildungspolitik nicht nur die universitäre Stufe, sondern das gesamte Bildungswesen vom Vorschulalter bis zur Erwachsenenbildung. Dazu zeigt die aktuelle Forschung, dass sich öffentliche Bildungsausgaben mit zunehmendem Alter der Lernenden weniger bezahlt machen. Link zu Forschung

Ein in die frühkindliche Bildung investierter Franken produziert im Durchschnitt einen deutlich höheren Ertrag (hinsichtlich des zukünftigen Einkommens aber auch der sozialen Integration) als ein in universitäre Bildung investierter Franken. Zudem ist Bildung kumulativ: „Bildung zeugt Bildung“. Für den sozialen Ausgleich sollte somit ganz besonders bei der frühen Bildung angesetzt werden, denn im Studentenalter ist der Zug für manch eigentlich Begabte(n) bereits abgefahren.

Zur Förderung der Chancengleichheit und des sozialen Ausgleichs wäre demnach eine Erhöhung der individuellen Studiengebühren durchaus die richtige Politik, sofern sie gekoppelt wäre an einen Ausbau des Stipendienwesens und an eine Umverteilung freigewordener staatlicher Mittel auf die voruniversitären Bildungsstufen. Höhere Studiengebühren wären sozialer als deren Abschaffung.