Höhere Steuern? Höhere Steuern!

Monika Bütler

Aus aktuellem Anlass (gravierende Budgetprobleme in denjenigen Kantonen, welche ihre Steuern massiv gesenkt hatten) hier eine alte Kolumne in der NZZ am Sonntag (11. September 2011).

Die Lage der öffentlichen Finanzen in der Schweiz ist schlechter, als es scheint

Verkehrte Welt! In verschiedenen Ländern fordern reiche Bürger höhere Steuern. Die Regierungen? Wollen nicht. Dabei täten sie gut daran, die Argumente für etwas mehr Steuern auf sehr hohen Einkommen und Vermögen zu prüfen. Auch in der Schweiz.

Noch vor wenigen Jahren galten Steuersenkungen als Gratisaktion: Dank mehr Investitionen und höherer Produktivität würden sich die Steuersenkungen selbst finanzieren. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Neben Gewinnen für die Bessergestellten blieben Defizite der öffentlichen Hand. Eigentlich müssten heute mindestens ein Teil der Steuersenkungen rückgängig gemacht werden. Doch fast alle (Politiker) scheuen nur schon die Diskussion darüber. Dabei steht es um die öffentlichen Finanzen schlechter, als es scheint. In den offiziellen Zahlen sind die impliziten Schulden aufgrund der alternden Bevölkerung noch gar nicht eingerechnet.

Einem wohl länger anhaltenden Rückgang der Steuereinnahmen zum Trotz: Lieber werden der Polizei und den Spitälern die dringend notwendigen Stellen vorenthalten und die Infrastruktur vernachlässigt als Steuern angehoben. Doch solche Sparübungen bringen gesamtwirtschaftlich wenig. Aber sie treffen die weniger Verdienenden und gefährden den Zusammenhalt der Bevölkerung, letztlich die Grundlage einer erfolgreichen Wirtschaft. Es erstaunt nicht, dass die Halbierung der Vermögenssteuern im Kanton Zürich wuchtig verworfen wurde.

Auch viele Reichen haben erkannt, worin der Erfolg westlicher Volkswirtschaften besteht. Ungleichheiten werden akzeptiert, solange die Glücklicheren ihren Teil am Gemeinwohl leisten. Eigentum verpflichtet, heisst es sogar explizit im deutschen Grundgesetz. Ganz besonders stark ist der stillschweigende Gesellschaftsvertrag in den USA. Das erklärt einen Teil der Ungeduld, mit der die USA von der Schweiz einfordern, was Steuerflüchtige der amerikanischen Gesellschaft finanziell und ideell entzogen haben.

Die Angst der Politiker und vieler Bürger selbst vor einer geringfügig stärkeren Besteuerung sehr hoher Einkommen und Vermögen ist dennoch verständlich. Denn die Linke fordert Steuererhöhungen, nicht um Schulden und Defizite abzubauen, sondern um Mehrausgaben zu finanzieren, von frühzeitiger Pensionierung bis zu Subventionen für alles und (fast) jeden. Wer gegen solche Ausgaben ist, kämpft logischerweise gegen Steuererhöhungen.

Dass sich die Kantone scheuen, Steuern für sehr hohe Einkommen anzuheben, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Mit dem neuen Finanzausgleich (NFA) wurde einem gut funktionierenden Steuerwettbewerb zwar eine solide Grundlage verpasst. Dennoch ist es für die Kantone noch immer „günstiger“, sehr Reiche anzuziehen als den wirtschaftlich oft viel stärker engagierten Mittelstand und das Unternehmertum. Selbst wenn die Diskussion in erster Linie auf Bundesebene stattfinden muss: Auch die Kantone werden nicht darum herum kommen, ihre Einnahmen den geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen, wenn sie nicht mit einem Schuldenberg enden wollen.

Mindestens eines hat die Schweiz anderen Ländern voraus. Die Diskussion über eine Ausgestaltung des Steuersystems ist noch nicht polarisiert. Wir haben keine Tea- oder Kafi-Lutz-Party. Dafür einen funktionierenden und effizienten Staat, in welchem sich der Grossteil der Bevölkerung — arm und reich — noch dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt. Für die sehr Reichen könnten sich etwas höhere Steuern – solange das Geld nicht gleich wieder ausgegeben wird – sogar lohnen. Auf die Dauer sind gesunde Staatsfinanzen der beste Schutz vor Vermögens- und Einkommensverlusten.

Gelingen müsste deshalb ein „historischer Kompromiss“: etwas höhere Steuern für die obersten Einkommen und Vermögen, aber ohne zusätzliche Ausgaben. Steuerwillige Reiche und haushälterische Linke vereinigt Euch!

 

Der Umwandlungssatz im BVG hält – nicht.

… oder von der Senkung des Umwandlungssatzes durch die Hintertüre

Monika Bütler

publiziert in der NZZ am Sonntag, 2. Dezember 2012

 „Wenn ich sage, die Brücke hält, dann hält die Brücke!”  Man muss den Film Der General (1926) von und mit Buster Keaton gar nicht gesehen haben, um das Ende zu erahnen. Die Brücke hält nicht. Wir lachen über den unglücklichen Befehlshaber und sind ihm doch verwandt: Der Glaube, Markt- und Naturkräfte durch Willen auszuhebeln, ist offenbar angeboren.

Aktuelles Beispiel: Der Umwandlungssatz in der beruflichen Vorsorge. Dieser beträgt noch immer 6.8%. Bei einem Zinssatz von 2% reicht das bis zur Pensionierung angesparte Vermögen (ohne Verwaltungskosten!) nur für weitere 17 Lebensjahre. Also allerhöchstens noch für unverheiratete Männer; die einzige Gruppe übrigens, die ihre Kosten selber deckt. Alle anderen – Frauen und verheiratete Männer – beziehen direkt oder indirekt über ihre Witwen im Schnitt zusätzlich 4-5 Jahre Rente.

Doch während sich weite Kreise gegen jede Senkung des Umwandlungssatzes wehren, beginnen Pensionskassen reihum, einschneidende Massnahmen zu treffen, die im Endeffekt genau diese Senkung vollziehen. Einfach durch die Hintertür.

Die Kassen können sich den überhöhten Satz nämlich schlicht nicht leisten und müssen ihn irgendwie senken. Verschiedene Wege stehen offen, alle ganz legal. Eine Möglichkeit ist die harte Sanierung. Ein typisches Paket: Zusätzliche 2%-Beiträge für Arbeitgeber und Versicherte plus Reduktion der Mindestverzinsung um 0.5% während 5 Jahren. Dies wirkt wie eine Senkung des Umwandlungssatzes von 6.8 auf 6.4%. Für jüngere Versicherte ist der Verlust wegen den Zinseffekten noch grösser; zudem müssen sie unter Umständen mehr als einmal eine Sanierung mitfinanzieren.

Sanfter ist die Reduktion über die Verwischung von Überobligatorium und Obligatorium.  Solange die gesetzlichen Leistungen erbracht werden, darf der Umwandlungssatz einer sogenannt umhüllenden Kasse (ohne explizite Trennung zwischen Obligatorium und Überobligatorium) nämlich tiefer sein als der gesetzliche Umwandlungssatz.

Zudem haben die Kassen einen Anreiz, bestimmte Vorsorgegelder (Zahlungen bei Stellenwechsel oder Deckung von Beitragslücken nach Scheidung und Arbeitslosigkeit) im für sie „billigeren“, für die Versicherten aber schlechteren Überobligatorium zu verbuchen. Je unrealistischer der gesetzliche Umwandlungssatz, desto grösser der entsprechende Druck auf die Kassen.

Zu guter Letzt besteht die Gefahr, dass die Kassen den Versicherten mindestens nicht ausreden, das angesparte Kapital bei der Pensionierung in bar zu beziehen. Damit fällt das Problem des richtigen Umwandlungssatz weg, allerdings auch die Versicherung der Langlebigkeit. Gehen den Versicherten im Alter die Mittel aus, zahlt die Allgemeinheit mit Ergänzungsleistungen.

Kurz: Wir können zwar befehlen „Der Satz hält!“, doch die demografische Schwerkraft ist stärker: Entweder wir senken den Satz, offiziell, transparent und regelgebunden. Oder –– wir halten an ihm fest. Dann sinkt er versteckt und unkontrolliert.

Im Sinne einer effizienten, gerechten und transparenten Vorsorge ist dies sicher nicht. Umso erfreulicher, dass unser Innenminister bei seinem Vorschlag zur Reform der Alterssicherung sowohl eine Senkung des Umwandlungssatzes wie auch mehr Transparenz fordert.

Buster Keaton verzichtete für die berühmte Brückenszene übrigens auf ein Modell. Der echte Zug, der die Brücke überqueren sollte, stürzte mit ihr in die Tiefe. Die Szene gilt als teuerste der ganzen Stummfilmzeit, das Zugswrack blieb während Jahrzehnten eine Touristenattraktion. Noch könnten wir in der beruflichen Vorsorge an einem Modell üben. Beharren wir aber auf dem heutigen Umwandlungssatz, nehmen wir den Absturz der echten Beruflichen Vorsorge in Kauf. Sie wird dann allerdings nicht zur Touristenattraktion, höchstens zu einer Fallstudie. Und zu einer Falle für die Jungen: Sie ist nämlich – im Gegensatz zu Buster Keatons Zug – bemannt.

Congratulations, Charles!

Urs Birchler

Heute morgen verlieh die Uni Basel die Ehrendoktorwürde an den amerikanischen Ökonom und Bankenhistoriker Charles Calomiris (Columbia).

Bekannt wurde Charles Calomiris für seinen mit Charles Kahn verfassten Aufsatz in der American Economic Review von 1991 zur disziplinierenden Wirkung der Gefahr von Bank Runs. Doch zuvor und seitdem publizierte er eine eindrückliche Reihe von Arbeiten, viele davon zu Themen der Bankenstabilität und -überwchung. Roter Faden in seinem Werk ist das Thema Anreize. Auch in seinem Referat an der Uni Basel von gestern abend: Bankenregulierung hat nur eine Chance, wenn sie zwei Bedingungen erfüllt:

  1. Sie muss berücksichtigen, dass die Überwachten stets Anreize zur Umgehung haben,
  2. Sie muss berücksichtigen, dass auch die Überwacher Anreizen ausgesetzt sind, die das Ziel der Überwachung gefährden können (beispielsweise, weil ihre berufliche Weiterentwicklung nur bei einer der überwachten Banken möglich ist).

Charles Calomiris ging es immer auch um die die praktische Anwendbarkeit seiner Forschung. Verschiedene Regierungen und Behörden, namentlich in Lateinamerika, haben ihn denn auch als Berater beihezogen. Die lange Liste seiner Arbeiten findet sich bei IDEAS oder auf seiner Homepage.

Wir wünschen Charles alles Gute und gratulieren auch der Uni Basel zur klugen Wahl.

Städterivalitäten

Urs Birchler (ZH) und Monika Bütler (SG)

Wir haben uns die Ausstellung Kapital — Kaufleute in Venedig und Amsterdam im Zürcher Landesmuseum angesehen (bis 17. Februar 2013). Sie ist nicht ganz so faszinierend wie damals die Ausstellung Geld und Schönheit in Florenz. Trotzdem ist sie empfehlenswert; es gibt ja wenig gute Ausstellungen zu wirtschaftlichen Themen. Auch für Kinder ab ca. 4. Klasse ist das meiste zugänglich; die zahllosen Treppen des für Ausstellungen eigentlich unbrauchbaren Hauses bieten zudem Gelegenheit zur Bewegung.

Für uns die Hauptattraktion war der St. Galler Globus aus dem 16. Jahrhundert (näheres bei Wikipedia). Der Globus — 1712 von Zürcher Truppen bei der Plünderung des Klosters erbeutet — war vor 10 Jahren Gegenstand eines erbitterten Streits zwischen den revisionistischen St. Gallern und den kunsträuberischen Zürchern. Nur durch Vermittlung eines Bundesrates konnte eine bewaffnete Auseinandersetzung vermieden werden. Die Salomonische Lösung: Zürich behielt das Original und spendierte den St. Gallern eine prächtige Kopie.

In der Ausstellung Kapital war also dieser Globus zu bewundern. Allein: nicht etwa das hart erkämpfte Original, sondern — als Leihgabe aus St. Gallen! — die Kopie. Der hehre Altglobus, auf dessen patinierter Oberfläche nur noch Forscher etwas sehen, steht ein Stockwerk tiefer und gilbt verschmäht vor sich hin, derweil oben in der Ausstellung die Kopie in leuchtenden Farben die Zuschauer erfreut.

Die „Globalisierung“ zwischen Zürich und St. Gallen hat also, dies unsere Haupterkenntnis aus der Ausstellung, ihren friedlichen Abschluss gefunden. Vollkommen hätte man sie nennen können, hätte das Landesmuseum den St. Gallern einen Gratis-Eintritt offeriert. Das wäre dann aber wieder nicht nach Zürcher Art gewesen.

Genosse Birchler

Urs Birchler

Diese Woche macht die Weltwoche Spass: „Ein guter ­Sozi ist hingegen der Zürcher Professor Urs Birchler, Anti-Banken-Ideologe der Partei und Ehemann von Monika Bütler“ (Volltext unten). Tatsächlich: Ich bin der Ehemann von Monika Bütler, das lese ich auch immer wieder gerne. Gerne wäre ich auch ein guter Ehemann, aber leider bin ich nur ein guter Sozi — für die Weltwoche jedenfalls. In Wahrheit bin ich weder ein guter noch ein schlechter, sondern gar kein „Sozi“. Ich bin Ökonom und versuche, wissenschaftliche Überlegungen für die Praxis nutzbar zu machen. Zwar habe ich einmal eine Studie im Auftrag der SP Schweiz durchgeführt, aber ich habe mit genausoviel Engagement auch ein Gutachten für das Liberale Institut verfasst. Ob jetzt das Liberale Institut links oder die SP Schweiz neoliberal unterwandert ist, bleibe dahingestellt. Für mich war die Zusammenarbeit mit beiden Auftraggebern sehr erfreulich und vollkommen unideologisch.

„Anti-Banken-Ideologe“: Ich habe mich immer gegen die implizite unfreiwillige Staatsgarantie für Banken eingesetzt. Nicht weil ich etwas gegen Banken habe, sondern, weil mir die finanzielle Gesundheit der Eigenossenschaft und die Marktwirtschaft am Herzen liegen. Hingegen habe ich eben gerade keine Zerschlagung der Grossbanken propagiert, anders etwa als NR Christoph Blocher — mit Sukkurs der Weltwoche (21.11.2009, 2012), nota bene.

Ich verlange von der Weltwoche eine Richtigstellung: „Birchler ist ein guter Ehemann“. Sie darf uns dafür nachträglich in Ihrer Rubrik „Hochzeit“ bringen.

[Und hier noch der ganze Absatz aus der Weltwoche (vom 22.11.2012): „Unter Christian Levrats immer linkerer Parteiführung werden selbst Genossen, welche die Partei in hohen Ämtern vertreten und brav ihre Mandatssteuer entrichten, zu unerwünschten Personen. So möchte die SP-­Spitze zwei ihrer Finanzspezialisten aus der Experten­gruppe des Bundes entfernen, die eine Weissgeldstrategie zu skizzieren hätte. In einer internen Analyse wird «die Teilnahme von Serge Gaillard und Daniel Zuberbühler» als negativ bewertet. Gaillard war Chefökonom des Gewerkschaftsbundes und Mitglied des Bankrats der Nationalbank, später Direktor Arbeit im Staatsekretariat für Wirtschaft und heute Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung. Ebenfalls nicht willkommen ist Genosse Zuberbühler, früher Direktor der Eidgenössischen Bankenkommission (EBK). Ein guter ­Sozi ist hingegen der Zürcher Professor Urs Birchler, Anti-Banken-Ideologe der Partei und Ehemann von Monika Bütler, HSG-Professorin und Bankrätin der Nationalbank. Birchlers Einsitz im Gremium wird als «positiv» taxiert.“]

Japan am Abgrund?

Urs Birchler

Vorab: Ich liebe Japan und seine freundlichen und fröhlichen Bewohner. Ich bin wie viele auch immer wieder beeindruckt vom Gemeinschaftssinn der Japaner. Nicht zufällig ist Japan auch das Land, das den Wohlfahrtsstaat erfunden hat.

Doch damit sind wir beim Problem. Der japanische Staat steckt in der Klemme. Auch die Presse (z.B. die NZZ) hat das Thema aufgenommen. Allerdings ist der Blick meist fixiert auf die bald erreichte Schuldenobergrenze und die politischen Ränkespiele um die Erhöhung oder Nichterhöhung dieser Grenze. Wird die Grenze nicht gelockert, droht die Zahlungsunfähigkeit. Dabei ist es im Grunde umgekehrt: Weil diese Grenzen (wie auch in den USA) immer wieder gelockert werden, wenn sie zu „beissen“ beginnen, ist der Staat am Ende nicht einfach technisch zahlungsunfähig, sondern fundamental bankrott.

Ist Japan soweit? Die Lage der japanischen Staatsfinanzen ist beschrieben im Länderbericht des IMF (2011). Daraus die Eckdaten:

  • Die Staatsschuld in prozenten der jährlichen Wirtschaftsleistung (BIP) liegt gegenwärtig bei 250% (brutto), bzw. 125% (netto). Tendenz: steigend, v.a. wegen strukturell bedingter Wachstumsschwäche und der Alterung der Bevölkerung.
  • Das Pimärdefizit (ohne Zinskosten) liegt bei 10% pro Jahr.
  • Der private Sektor weist einen Sparüberschuss auf, der die Zunahme der öffentlichen Verschuldung kompensiert. Dabei verschiebt sich die Spartätigkeit von den Haushalten zu den Unternehmen.

Japan ist allerdings nicht Griechenland oder Spanien. Es gibt zwei grosse Unterschiede:

  1. Die Schulden des japanischen Staats werden zum grossen Teil von Inländern gehalten.
  2. Japan hat eine eigene Währung.

Auf den ersten Blick machen diese beiden Unterschiede die japanische Situation einfacher. Weil die Gläubiger Japans die Japaner selbst sind, wird Japan also nie eine „Troika“ einladen müssen. Dank der eigenen Währung kann die Bank of Japan notfalls Geld für den Staat drucken. Erst der zweite Blick zeigt, dass dies beiden „Vorteile“ in Wirklichkeit Nachteile sein können:

  1. Ein Staat mit Schulden gegenüber dem Ausland kann sich dieser im Notfall mit einem Schuldenschnitt entledigen — praktiziert in Dutzenden von Fällen; zuletzt in Griechenland. Wie aber verordnet man den Inländern (d.h. den Stimmbürgern) einen Verzicht auf ihre Guthaben? Die Verteilung bereits eingetretener Verluste ist notorisch schwierig und dürfte auch einen Staat mit opferbereiten Bürgern wie Japan überfordern.
  2. Die Notenpresse als Mittel zur Zuordnung der Verluste scheint elegant, beraubt jedoch ein Land seines monetären Koordinatensystems.

Dann liest man immer wieder: „Japan ist anders“, auch heute wieder bei TA online. Beispielsweise: Japan könne einfach die Mehrwertsteuern erhöhen, um die Staatsdefizite zu beseitigen. Nur: Steuererhöhungen haben (genau wie Sparprogramme) Nachfragewirkungen; sie könnten eine Rezession auslösen, die den Staatsfinanzen das Genick bricht. Wenn die Haushalte mehr Steuerern bezahlen müssen, haben sie auch weniger Geld, um die jährlich notwendige Dosis von Staatspapieren (immerhin rund 10% des BIP) zu kaufen (dies erinnert daran, dass Defizite und Steuern zwei Namen für dasselbe sind). Das Argument „Japan tickt anders“ klingt deshalb nach einer Variante von This Time is Different. In einem Punkt allerdings ist Japan anders: Es hat noch die grössere Last in Form einer alternden Bevölkerung zu tragen als die meisten anderen Länder.

Deshalb als provisorisches Fazit: Japan hat mit seinen Staatsschulden den „Point-of-no-return“ längst überschritten. Es ist kein auch nur halbwegs plausibles Szenario denkbar, unter dem die japanischen Staatsschulden noch lange refinanzierbar sind. Ob die Politik einen Schuldenschnitt (mit expliziter Zuordnung der Verluste) erreichen kann oder ob die Schulden monetisiert (und letztlich inflationiert) werden, ist schwer zu sagen. Real gerechnet sind japanische Staatsanleihen in beiden Fällen Hochrisikopapiere. Der Wert dieser Papiere scheint getragen vom Vertrauen, nicht in den japanischen Staat, sondern vom Vertrauen darauf, dass die anderen Anleger auch noch nicht verkaufen. Wann er zusammenbrechen wird, ist daher schwer zu prognostizieren. Das kann in fünf Jahren geschehen oder morgen. Eines aber ist bekannt: Ein an sich völlig unwesentliches Ereignis, wenn es nur genügend Signalwirkung hat, kann der Auslöser sein. Und es kann rasch gehen.

Heiratsstrafe in der AHV: Update

Monika Bütler

Herr Camenzind vom BSV hat mir freundlicherweise die neuesten Daten zur Debatte Heiratsstrafe oder Heiratsbonus in der AHV übermittelt. Vielen herzlichen Dank!

Gegenüber den alten Berechnungen ist der Bonus etwas kleiner geworden. Woran dies liegt, weiss ich nicht. Eine mögliche Ursache ist die höhere Lebenserwartung, vor allem die der Männer: Diese senkt den Wert der Witwenrente und vergrössert die Heiratsstrafe durch die Plafonierung. Es bleibt aber bei einem deutlichen Bonus.

Die Berechnungen des BSV enthalten allerdings eine wichtige Komponente des Heiratsbonus nicht: Durch das Splitting der AHV-Beiträge und der sehr progressiven Ausgestaltung der AHV löst ein einzelnes Erwerbseinkommen während der Ehe deutlich höhere Rentenzahlungen aus als dasselbe Einkommen eines/r Alleinstehenden. Dies, auch wenn die Ehepaarrente später plafoniert wird. Ein Alleinstehender mit einem massgeblichen Einkommen von 160’000 Franken erhält die AHV Maximalrente. Der verheiratete Einverdiener-Ehemann löst mit demselben Einkommen eine 1.5 mal höhere Rente aus – dies obwohl hier die maximale Plafonierung zum Einsatz kommt.

Klein- und Mittelverdiener sind im übrigen nicht von der Plafonierung betroffen. Die AHV ist dem V im Namen zum Trotz nur teilweise eine Versicherung. Sie enthält viele Solidaritäten/Umverteilungskomponenten deren Ziel es ist, Armut im Alter zu vermeiden. Und von der Armut im Alter sind Alleinstehende nachweislich viel häufiger betroffen als Ehepaare.

Heiratsstrafe oder Heiratsbonus in der AHV?

Monika Bütler

Der frühere BSV Chef Yves Rossier hat es vorgerechnet: Die vermeintliche Heiratsstrafe in der AHV (Plafonierung der Ehepaarrenten auf 150% der Maximalrente) ist im Durchschnitt ein Heiratsbonus. Denn was einem Ehepaar nach der Pensionierung gekürzt wird, ist deutlich kleiner als die Vorteile, die einem verheiraten Paar zugute kommen vor der Pensionierung.

Yves Rossier geht von finanziellen Nachteilen in der Grössenordnung von 1.7 Mia Franken pro Jahr aus (Plafonierung der Rente). Demgegenüber stehen Vorteile von circa 3 Mia Franken gegenüber. Diese setzen sich primär zusammen aus einer Beitragsbefreiung des nichterwerbstätigen Ehepartners während der Ehe und der Witwen/Witwerrente.

Durch die Beitragsbefreiung und das Splitting der Beiträge während der Ehe kann eine halbe bis eine ganze zusätzliche Rente ausgelöst werden – ohne dass der/die Empfängerin je zur Finanzierung der AHV beigetragen hätte. Dieser Vorteil wird nämlich auch kinderlosen Ehepartnern gewährt. Was daran familienfreundlich sein soll, ist mir schleierhaft.  Durch Betreuungsgutschriften erhalten Eltern ja bereits einen grosszügigen Zustupf an die AHV Beiträge (meiner Meinung nach ist dies die richtige Stossrichtung).

Mit der Witwenrente und Zusatzleistungen zur Witwenrente (auch für kinderlose Witwen) bietet die AHV den Ehepaaren zudem eine kostenlose Versicherung, die pro Jahr mit mehr als 2.5 Mia Franken zu Buche schlägt.  Die von Rossier bezifferten Kosten dieser Leistungen unterschätzen den Wert der Versicherung noch. Denn müssten die Individuen auf dem privaten Markt die Leistungen kaufen, wären sie wohl bereit, deutlich mehr für eine Absicherung des hinterbliebenen Partners zu bezahlen. So wie wir bei allen Versicherungen tendentiell mehr zu zahlen bereit sind als der erwartetete Wert der Leistungen.  

Natürlich stimmt diese Rechnung nur im Durchschnitt, nicht für alle: Am besten fährt, wer bis zur Pensionierung verheiratet zusammenbleibt (und so von den Vorteilen der AHV in der Ansparphase profitiert) und sich nach der Pensionierung sofort scheiden lässt (um der Plafonierung zu entgehen). Dass sich  einige Paare  durchaus so verhalten, zeigt ein früherer Beitrag im batz.

Man muss die gesellschaftspolitischen Werte, die der Struktur der AHV zugrunde liegen, nicht mögen: Das System ist wenigstens konsistent. Es geht davon aus, dass Ehepaare – mit oder ohne Kinder – dem traditionellen Lebensentwurf folgen (er arbeitet, sie arbeitet nicht oder nur Teilzeit oder nur wenn die Kinder ausgeflogen sind) und zusammenbleiben, bis der Tod sie scheidet.

Kickbacks

Urs Birchler

Das Bundesgericht hat entschieden (BGE 132 III 460), dass (vereinfacht gesagt) sogenannte Retrozessionen (etwa Rabatte für den Abschluss von Börsengeschäften; vulgo: Kickbacks) innerhalb von Vermögensverwaltungsaufträgen nicht dem Vermögensverwalter, bzw. der Bank, sondern dem Kunden gehören. Die Presse hat über die möglichen Implikationen und erste Prozessvorhaben berichtet.

Gleichzeitig, oder kurz vorher, berichteten die Medien, beispielsweise der Tagesanzeiger, über gewisse Hemmungen der Ärzteschaft, ihre Kickbacks, namentlich Rabatte und Vergünstigungen seitens der Pharmaindustrie, an die Kunden, sprich: Patienten und Krankenkassen, weiterzugeben. Anders als in der Vermögensverwaltung sind geldwerte Vorteile für die Mediziner im Bundesgesetz über Arzneimittel und Medizinprodukte (Art. 33) längst geregelt (mich dünkt: verboten). Das Bundesgericht scheint aber die Ärzte lieber zu haben als die Bankiers: Mit einem Entscheid vom 12. April 2012 wurde die Rechtsgrundlage der von Swissmedic ausgeübten Kontrolle in diesem Bereich bestritten.

Als Nicht-Jurist muss ich auf die Weisheit des Bundesgerichts blind vertrauen. Als Ökonom seien mir einige Bemerkungen erlaubt:

  • Banken und Ärzte stehen beide in einem besonderen Vertrauensverhältnis zum Kunden und unterstehen deshalb einem auch strafrechtlich geschützten Berufsgeheimnis; hinsichtlich finanzieller Hygiene scheint der Medizinsektor jedoch ins Hintertreffen zu geraten;
  • Die Medizin scheint, wenn der Tages-Anzeiger recht hat, mindestens für den Laien, dem Bankgeschäft sogar voraus in der Entdeckung von Umgehungsmöglichkeiten und Schlupflöchern.
  • Bei den Banken sind die Retrozessionen insofern ein Teil des Geschäftsmodells, als ihr Wegfall durch andere — transparentere — Gebühren ersetzt werden muss; verschiedene Kunden sind durchaus mit Kickbacks einverstanden. Bei den Ärzten sind Vergütungen der Pharmaindustrie kaum ein Teil eines akzeptierten Geschäftsmodells.

Die Bankiers sind in letzter Zeit oft gescholten worden. Drum wichtig, sich daran zu erinnern, dass sie nicht von Heiligen umgeben sind.