Inflation der Aktions- und Gedenktage

Monika Bütler

Veröffentlicht unter dem Titel „Was die UNO von den Katholiken lernen könnte“ in der NZZ am Sonntag, 1. November 2015

„Was feiert ihr genau an Allerheiligen?“, fragte kürzlich mein protestantisch erzogener Mann. Die Katholiken gedenken der Verstorbenen, antwortete ich. „Nicht der Heiligen?“. Ich habe mich zur Sicherheit nochmals informiert:

In den ersten Jahrhunderten der Christenheit wurde es zunehmend schwieriger, jedem der immer zahlreicheren Heiligen einen eigenen Tag zu widmen. Die Kirche fand eine Lösung: Sie führte im 4. Jahrhundert nach Christus einen Tag ein – Allerheiligen – zu dem aller Heiligen gleichzeitig gedacht wird. Bei der Wahl des Datums stand wohl das viel ältere keltische Totengedenken Pate, welches zu Beginn des Winterhalbjahres stattfand. Klug war, dass der Begriff der Heiligen weit gefasst wurde. Auch solche, die (noch) nicht heiliggesprochen wurden, fanden damit Platz im Kalender. Eingeschlossen sind selbst Heilige, um deren Heiligkeit niemand weiss als Gott. Also (fast) alle Verstorbenen.

Die Gedenktage an Heilige und Märtyrer sind heute in Vergessenheit geraten. Welche Zürcherin denkt am 11. September schon an den Tag von Felix und Regula? Heute sind die Tage profan besetzt, an Stelle des Vatikans ist die UNO getreten: Welttag der sozialen Gerechtigkeit (20. Februar), Internationaler Tag des Glücks (20. März), Internationaler Tag des Sports für Entwicklung und Frieden (6. April), Internationaler Tag der Familie (15. Mai), nicht zu verwechseln mit dem Weltelterntag (1. Juni). Der Platz reicht hier nicht für das ganze Jahr.

Unklar ist die Logik der Welttage. Die genannten beziehen sich auf Wünschenswertes. Warum dann der Weltdrogentag (26. Juni) oder – mindestens zweischneidig – der Welttag des Fernsehens (21. November)? Noch geheimnisvoller ist die Gewichtung verschiedener Anliegen. Ein Internationaler Tag der Demokratie (15. September) steht neben dem Welttoilettentag (19. November). Auf die Schweiz zugeschnitten scheint der Internationale Tag des Ehrenamtes (5. Dezember).

Dennoch bleibt die Uno-Liste lückenhaft. Kein Wunder ist sie längst durch eine Unzahl nationaler, regionaler oder lokaler oder privat deklarierter Welttage ergänzt worden. Diese reichen im Temperaturspektrum vom Welttag des Schneemanns (18. Januar) bis zum Tag der Sauna (24. September). Wer Kommerzialisierung vermutet, wird sich im vom Ostsee-Holstein-Tourismus Verein ins Leben gerufenen Weltfischbrötchentag (3. Mai) bestätigt sehen.

Die Gedenk- und Aktionstage sind mittlerweile so inflationär, dass man an alles und nichts denkt. Natürlich braucht es einen Tag der Zöllner und der Zollunion (26. Januar) und ebenso den Welthurentag (2. Juni). Doch hätte man diese mit Bezug auf das Neue Testament, das beide Branchen in einem Atemzug zu nennen pflegt, auch zusammenlegen können. Wie Allerheiligen und den datumsgleichen Weltvegantag (nicht zu verwechseln mit dem Weltvegetariertag am 1. Oktober).

Das bringt mich zu einem Vorschlag: Lasst uns für einmal von der Kirche lernen. Kippen wir alle Welt- und Allerwelts-Tage zusammen – auch diejenigen, um deren Existenz wir noch gar nicht wissen – und widmen ihnen, wie allen Heiligen, einen gemeinsamen Tag. Bettelbriefe mit „Liebe Frau B, Heute ist der Welttag des XYZ…“ kämen dann alle an diesem Tag. Das schlechte Gewissen, weil wir schon wieder zu wenig für die Umwelt (5. Juni) und die Erhaltung der Ozonschicht (16. September) getan haben, plagte uns seltener. Mit dem 29. Februar stünde erst noch ein unbelasteter Tag zur Verfügung.

Und den Rest der Zeit hätten wir Ruhe. „Aber“, so fragte mein Mann und Vater unserer Kinder, „… der Muttertag?“

Bargeld abschaffen?

Urs Birchler

In verschiedenen Ländern ist der Bargeldgebrauch eingeschränkt, und weitere Einschränkungen sind geplant.
Kritiker halten Bargeld für ein instrument des Verbrechens und der Geldwäscherei, Techno-Pioniere betrachten es als ineffizient, und den Notenbanken ist es im Weg, wenn sie Negativzinsen einführen wollen. Die liberalen Befürworter des Bargelds umgekehrt halten Bargeld und die mit ihm verbundene Diskretion für eine tragende Säule der individuellen Freiheit. Wer hat recht?

Wir wollen es wissen und lassen beide Seiten aufeinander los:

Donnerstag, 5. Nov. 2015: Dramatische Konferenz zum Thema Bargeld

Im Miller’s Theater (Mühle Tiefenbrunnen) findet von 9-17h eine Konferenz in Theaterform statt zum Thema „Cash on Trial“. Grosse Namen, von Jean-Charles Rochet bis Peter Sloterdijk, treten in einer fiktiven Gerichtsverhandlung über das Bargeld auf. Veranstalter: SUERF, das Liberale Institut und das Zentrum für Finanzregulierung (ZeFiR) der UZH. Der Ausgang ist offen, die Spannung garantiert.

Anmeldung unter: www.suerf.org/zurich2015

[Hinweis auf Interessenverflechtung: als Präsident von SUERF bin ich am Ereignis persönlich beteiligt.]

Geld bleibt hier – aber dafür ist weniger da

Reto Föllmi

(der Beitrag erschien unter dem Titel „Kampagne ‚Geld bleibt hier‘ bewirkt das Gegenteil“ in Die Volkswirtschaft, Nr 11/2015)

In der gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Debatte sind verschiedene Ideen im Umlauf, die eine irgendwie geartete Abhängigkeit vom Ausland verhindern möchten. So wird beispielsweise gefordert, den Selbstversorgungsgrad an Nahrungsmitteln zu erhöhen oder auf vermeintlich teure Energieimporte zu verzichten. In einer breiten „Geld bleibt hier“- Kampagne vermittelt ein Komitee den Eindruck, es sei doch besser, einheimische Energien zu fördern statt viel Geld für Öl-, Gas- und andere Energieimporte auszugeben.

Dieses Anliegen scheint auf den ersten Blick vernünftig. Wer kann schon gegen einheimische Energie und für Energieimporte sein, an denen sich womöglich noch Ölscheichs bereichern? So logisch sich die Argumente der Initianten auch anhören, sie erweisen sich bei genauer Betrachtung als Trugschluss. Denn bei einem Verzicht auf Importe müssen wir die Energie selber herstellen.

Wäre diese Importsubstitution lohnend, würden wir ohne Lenkung durch die Politik jetzt schon im Inland mehr Energie produzieren bzw. durch Sparmassnahmen auf Importe verzichten. Produktion im Inland ist nicht gratis, oder wie Ökonomen sagen, mit Opportunitätskosten verbunden. Die benötigten Arbeitskräfte und anderen Ressourcen für den Energiesektor müssen aus anderen Branchen oder durch Zuwanderung bzw. entsprechende Importe gewonnen werden. In anderen Wirtschaftsbereichen würden diese aber auch Einkommen erzielen, wahrscheinlich sogar ein höheres. Dass die Fachkräfte der Energiewirtschaft in anderen Sektoren nicht gebraucht würden und stattdessen arbeitslos wären, ist gegeben die Arbeitsmarktsituation schlicht Unsinn.

Wenn man der Logik des Komitees nachleben würde, sollte ein Zweiverdienerhaushalt auf Kinderkrippen, Putzfrau, Handwerker etc. verzichten, denn das sind alles Ausgaben für den Haushalt. Vergessen wird dabei, dass in der Zeit, in welcher solche Dienstleistungen erbracht werden, oft mehr Geld verdient wird, als diese kosten. Wer auf Importe verzichtet, muss alles selber produzieren, egal wie schlecht er das kann. Dies verhindert, dass sich die Volkswirtschaft auf ihre Stärken (komparativen Vorteile) konzentriert; also in Branchen wächst, wo sie relativ am meisten Wettbewerbsvorteile hat und mit geringstmöglichen Ressourceneinsatz am meisten Einkommen erzielen kann. So macht es mehr Sinn, günstigeren (auch beispielsweise ökologischen, vom deutschen Steuerzahler subventionierten) Strom aus Deutschland zu importieren und die Fachkräfte hier in der Schweiz in andern Sektoren, die ohne Unterstützung wettbewerbsfähig sind, einzusetzen.

Die Schweiz hat einen rekordhohen Exportüberschuss und belegt auf Innovations-Rankings regelmässig die vordersten Plätze. Dieser beispiellose Erfolg ist ein Beleg dafür, dass die Schweizer Volkswirtschaft im Ganzen ihre „Make or Buy“ Entscheidung gut trifft. Wir produzieren und exportieren dort, wo wir stark sind, und importieren, was wir nur teurer selber herstellen könnten.

Der berühmte Ökonom und Nobelpreisträger Paul Samuelson wurde von einem Mathematiker ironisch gefragt, ob es eine Erkenntnis der Sozialwissenschaften gebe, die sowohl wahr als auch nicht-trivial ist. Samuelson war nicht schlagfertig genug, eine passende Erwiderung zu geben. Erst viele Jahre später fiel ihm die treffende Antwort ein: die Theorie der komparativen Vorteile. In seinen Worten: “Einem Mathematiker muss man nicht erklären, dass sie logisch und korrekt ist. Dass sie nicht-trivial ist, beweisen abertausende wichtige und intelligente Leute, die niemals in der Lage waren, die Theorie selber zu begreifen oder wenigstens daran zu glauben, nachdem sie ihnen erklärt wurde.“

Eigenmittel der Banken: Staat gleichzeitig auf Gas- und Bremspedal

Urs Birchler

Ds Thema Too-Big-to-Fail (TBTF) rückt wieder auf der politischen Agenda. Der Bericht „Brunetti 2“ empfiehlt eine Verschärfung der Eigenmittelvorschriften und ortet Defizite bei den Notfallplänen der Banken. SVP, SP und Grüne präsentierten kürzlich Forderungen zur Aufspaltung der Grossbanken.

Die implizite (unfreiwillige) Staatshaftung (bzw. die Toleranz systemgefährdender Banken) stellt eine Subvention von Bankrisiken dar und verzerrt den Wettbewerb. Dass der Staat sich dieser Haftung entledigen möchte, scheint verständlich. Paradox mutet jedoch an, dass der Staat Bankrisiken gleichzeitig steuerlich fördert. Konkret: Die Finanzierung durch Eigenmittel wird im Vergleich zur Finanzierung durch Fremdmittel betraft. Die Zinsen auf Fremdmittel sind Kosten und als solche vom Gewinn abziehbar. Die Entschädigung der Eigenmittelgeber (Dividenden oder Kurssteierung) hingegen it nicht abzugsfähig. (Dies gilt für alle Unternehmen, nicht nur für Banken.)

Würde eine Reform des Steuersystem, die das Eigenmittel-Handicap beseitigt, etwas bringen? Belgien hat den Versuch gewagt. Seit 2006 können Banken fiktive Zinskosten auf ihren Eigenmitteln geltend machen (notional interest rate deduction, NID). Glenn Schepens von der Belgischen Nationalbank hat die Auswirkungen in einem Arbeitspapier untersucht. Und die Resultate (siehe Grafik unten) springen ins Auge: Die Banken haben ihr Verhältnis Eigenmittel/Bilanzsumme um fast einen Prozentpunkt erhöht, was eine Erhöhung des vorherigen Niveaus um 13 Prozent bedeutet. Bei der Kontrollgruppe europäischer Banken ist das Verhältnis gleichzeitig weiter gesunken. Schepens kommt auch zum Schluss, dass die fairere steuerliche Behandlung die Leverage und den Risikohunger besonders bei den schwach kapitalsierten Banken gedämpft hat. Genau das, was sich der Staat und seine Steuerzahler wünschen.

Eigenmittel/Bilanzsumme (Leverage Ratio)

Eigenmittel/Bilanzsumme: Belgische Banken versus Kontrollgruppe aus der EU

Bleibt noch anzufügen, dass wir die Beseitigung der Steuerstrafe für Eigenmittel der Banken schon in einem Gutachten von 2010 vorgeschlagen und zwei konkrete Vorschläge (einen rechten“ und einen „linken“) skizziert haben. (Gleichzeitig haben wir darauf hingewiesen, dass man wie Belgien einen fiktiven Satz abziehen muss, nicht etwa die effektive Dividende, da letzteres die Ausschüttung von Eigenmitteln prämieren würde).

Fazit für die Politik: Es lohnt sich nicht, mit den Banken ewig um höhere Eigenmittelanforderungen zu feilschen, dabei aber jene zu bestrafen, die dem Wunsch nach mehr Eigenmittel nachkommen. Auch für den Staat gilt die alte schweizerische Regel: Man soll nicht geizig jassen.

Subventionen: nein, danke!

Urs Birchler

Bin ich naiv oder gibt’s das wirklich: Den Unternehmensleiter, der dem Lockruf von Subventionen widersteht? Jedenfalls zitiert der heutige Tagesanzeiger (S. 36) Elon Musk, den CEO des Elektroauto-Konzerns Tesla, mit den Worten: „Es ist falsch, dass E-Autos subventioniert werden.“ „Besser wäre es, dem CO2 einen Preis zu geben, sowohl bei der Produktion, als auch beim Auto selbst.“

Zu soviel Aufgeklärtheit ist einstweilen nichts beizufügen. Den Vergleich zwischen Musks Haltung und dem Subventionshunger der Schweizer Energieszene, vom Solardach-Hersteller, über das Wasserkraftwerk bis zum AKW (dessen Restrisiken wir gratis tragen müssen) überlasse ich unseren Lesern.

Elektro statt VW?

Urs Birchler

The Economist sieht dank dem VW-Skandal das Zeitalter der Elektroautos gekommen. Der Verein E-Mobil-Züri weiss es schon lange und plant ein Formel E-Rennen ums Seebecken.

Gegen Elektroautos kann man fast nicht sein. Strom ist schlicht die saubere Energie — oder?

Wie bei batz.ch schon früher vermerkt, stimmt das nicht unbedingt. Der Strom kommt nämlich von irgendwo.

  • Aus einem AKW: Das ist dann nur je nach Standpunkt „sauber“.
  • Aus einem Kohlekraftwerk. Das heisst: Der Auspuff ist einfach weit weg und ganz gross.
  • Aus einem Wasser-, Wind-, etc. -Kraftwerk. Das wäre dann (die Belastung durch den Kraftwerkbau nicht mitgerechnet) technisch sauber. Aber noch längst nicht ökonomisch sauber. Wenn ich Strom aus Wasserkraft verbrauche, nehme ich diesen jemand anderem weg. Falls Wasserkraft nicht beliebig ausgebaut werden kann (und an dem Punkt sind wir vermutlich in der Schweiz), muss dieser Andere also ausweichen — auf eine der dreckigen Varianten.

Dazu kommt noch, dass auch die Herstellung eine E-Autos relativ viel Energie verbraucht. Letztlich hat The Economist mit dem Titel Dirty Secrets den Nagel auf den Kopf getroffen. Nicht nur VW hat ein dreckiges Geheimnis, auch die E-Auto-Fans haben eines. Marginal gesehen gibt es keine saubere Energie — ausser jener Energie, die wir gar nicht verbrauchen.

Weshalb die Schweiz nach Honig schmeckt

Monika Bütler

Nach gut zweijähriger Pause wieder zurück bei der NZZaS als Kolumnistin. Hier also mein erster Text (veröffentlicht am 6. September):

Das Leitungswasser schmeckt ja wie Honig, meinte einer unserer Söhne nach der Rückkehr aus Zentralasien. Und auch sonst sei alles so angenehm zu Hause, sogar die Schule.

Die Streitereien um Sozialhilfe und Mittelstandspolitik lassen uns zu oft vergessen, dass wir praktisch gratis – quasi direkt vom Hahn – viele staatliche Leistungen beziehen können. Zu Unrecht, denn die vom Staat gebotene Lebensqualität entlastet die Haushalte direkt – finanziell und organisatorisch. Ein Stück Luxus für alle.

So ist, erstens, unser Leitungswasser nicht nur sauber und wohlschmeckend, es ist auch gesund. Für Getränke kann in einem engen Haushaltbudget getrost eine Null eingesetzt werden. Wer im Ausland gelebt hat – auch in vielen reichen Gegenden der Welt – weiss hingegen, wie mühsam das Nach-Hause-Schleppen von Wasserkanistern aus dem Supermarkt ist. Dort, wo Trinkwasser kostet, geht dies bei einer Familie rasch ins Geld.

Zweitens: wir haben sehr viel öffentlichen Raum, der allen als Erholungsraum und Treffpunkt offen steht. Die Kinder können auch ohne Einfamilienhaus im Freien spielen (falls man sie denn lässt). Selbst unsere Seeufer sind im internationalen Vergleich gut zugänglich. Viele Sportplätze und Schulareale sind öffentlich. Und unterwegs kann man sich zwischendurch gemütlich niederlassen – ohne Schilderwald „Privat!“ mit abgebildeten gfürchigen Hunden und Gewehren.

Der kleine Platz am Ende unserer Strasse ist ein wunderbares Beispiel: Er verwandelt sich von einem morgendlichen Spielplatz für die Krippen und Kindergärten der Umgebung zu einem Imbissplatz über Mittag. Nach den Drinks nach Arbeitsschluss grillieren am Abend Familien aller Nationen friedlich nebeneinander. Es gibt wohl kaum eine bessere Methode der Integration und der Gewaltprävention als ein einladender öffentlicher Raum.

Drittens: Unsere öffentlichen Schulen bieten qualitativ hochstehende Bildung auf allen Stufen. Und sie kosten bis zur Matura oder Lehrabschluss nichts; die Gebühren an den Hochschulen sind bescheiden. Mindestens 20‘000 Franken kostet die Schulbildung eines Kindes in vielen Ländern – pro Jahr! – und reisst so den Mittelstandsfamilien grosse Löcher in die Kasse.

Viertens: Der Öffentliche Verkehr würde es der Mehrheit der Einwohner erlauben, ohne Auto auszukommen. Die Arbeitsstelle ist mit ÖV erreichbar; die Kinder müssen nicht zu Schule oder Sport chauffiert werden; einkaufen lässt sich ohne Auto (nur schon weil man kein Trinkwasser tragen muss). Dass davon einkommensärmere Haushalte am meisten profitieren, zeigt das Gegen-Beispiel Neuseeland. Sogar in Städten sind Familien für Berufstätigkeit, Organisation des Schulalltags und Einkauf auf ein oder zwei Autos angewiesen. Die Kosten dafür verschärfen die ohnehin schon angespannte finanzielle Situation dieser Familien weiter.

Fünftens schliesslich geniessen wir ein grosses Mass an Sicherheit in allen Bereichen. Kaum jemand wohnt in gated communities; wir können uns auch nachts unbewacht bewegen; die Lebensmittelsicherheit ist hoch (einigen vielleicht zu hoch) und sogar die Tollwut ist ausgerottet.

Die Schweiz ein Land, wo Milch und Honig fliessen? Auf jeden Fall wäre es schade, wenn wegen Verteilungskämpfen solche staatlichen Leistungen in Zukunft zu kurz kämen. Sie bilden als „bedingungslose Lebensqualität“ einen wichtigen Pfeiler der Sozial- und Familienpolitik. Einen Pfeiler nota bene, der ohne bürokratische Kontrollen und ohne Schwelleneffekte auskommt und von dem wir alle profitieren können.

Kein Wunder schmeckt die Schweiz nach Honig.

NZZ-Wirtschaftsredaktion im Elfenbeinturm?

Urs Birchler

Gratulation an meine Mit-Batzer Marius Brülhart, Gebhard Kirchgässner und Monika Bütler! Sie sind alle drei unter den einflussreichsten Schweizer Ökonomen.

Ob „einflussreichst“ auch bedeutet, dass jemand zuhört? Der Kommentar zum Ökonomenranking in der NZZ von Jürg Müller (5.9.2015, S. 15) weckt Zweifel. Jürg Müller beklagt zwar, „wie sehr die Ökonomen den Gang in die Öffentlichkeit scheuen“. Und ganz dick: „Bei zukunftsweisenden Fragen wie beispielsweise dem demographischen Wandel und der Migration … geht [die öffentliche Debatte] ohne materielle Mitwirkung der Wirtschaftsforscher über die Bühne.“ Gerade hier hätte er schon bei batz.ch (und das ist eine kleine Welt) einiges gefunden von Uwe Sunde (Demographie und Staatsverschuldung), Monika Bütler (Demographie und Umverteilung oder 2), Monika Engler (Demographie und Staatsfinanzen) und anderen.

Der Artikel beweist nur, dass die Ökonomen, wenn sie denn den Gang an die Öffentlichkeit wagen, offenbar nicht gelesen werden — jedenfalls nicht von Jürg Müller und einigen seiner Kollegen bei der NZZ.

Nicht, dass wir den Elfenbeinturm nicht kennten. Man lese dazu Monika Bütler in der Volkswirtschaft. Doch müssen Professoren in erster Linie unterrichten und Forschen. Im Vergleich zur 20-köpfigen Wirtschaftsredaktion der NZZ — die wirtschaftskundigen Redaktoren anderer Ressorts nicht mitgezählt — machen die rund hundert vollamtlichen Wirtschaftprofessoren an den Schweizer Universitäten der Deutschschweiz, deshalb eine gute Figur in den Medien. Vielleicht nicht immer in den schweizerischen.

Hier klemmt es nämlich. Ein Beispiel: Monika Bütler zeigte vor rund fünf Jahren in einem Aufsatz mit schweizerischen Daten, dass Ergänzungsleistungen die Anreize so verzerren, dass bei der Pensionierung eher Kapital als Rente gewählt wird. Eine Kurzfassung des Artikels wurde u.a. auch der NZZ angeboten. Seither hat diese Forschung der Autorin Einladungen an die Wharton School, nach Singapur, Australien und Holland eingebracht. In der Schweiz blieb das Interesse gering trotz explodierenden Kosten bei den Ergänzungsleistungen.

Jürg Müller spekuliert, die Schweizer Ökonomen seien sogar schuld, dass „in jüngster Zeit unsinnige Vorlagen auf Zustimmung der Bevölkerung gestossen sind [er meint die Stimmbürger]. Hat er die Beiträge zur Goldinitiative von Aleksander Berentsen (1) und mir (2, 3, 4, 5, 6) gelesen? Oder zur Erbschaftssteuer Marius Brülhart (1, 2, 3) und Monika Bütler (1, 2, 3)?

Jürg Müller beklagt, „dass nur allzu oft längst überholte Theorien die Richtung vorgeben.“ Stimmt — Beispiel NZZ. Es gibt in der empirischen Finance ein Ergebnis, das an Robustheit kaum mehr zu überbieten ist: Aus den vergangenen Bewegungen der Aktien- oder Devisenkurse, lassen sich keine gewinnbringenden Prognosen ableiten. Dies hindert die NZZ nicht daran, wöchentlich fast eine Seite der chartechnischen Kaffeesatzlektüre zu widmen und uns vor herannahenden Todespunkten und dergleichen Mumpitz zu warnen.

„Ökonomen sollten die Studierstube wieder einmal verlassen.“ Ein solcher Satz kann nur in einer zu gut geheizten Redaktionsstube entstanden sein.

Alte Hypotheken

Monika Bütler

Werden ältere Menschen bei der Vergabe von Hypotheken benachteiligt? Medienberichte lassen dies vermuten. Die Ablehnungsquote für Hypotheken steigt mit dem Alter an, schon deutlich vor dem Rentenalter. Und natürlich sind die Schuldigen (vor allem in den Online Kommentaren) schnell gefunden: Die bösen Banken.

Doch ist die Sache wirklich so einfach? Die profitgierigen Banken würden wohl kaum auf ein profitables Geschäft verzichten. Ich möchte hier allerdings zwei andere Punkte machen: Erstens, die Finanzierung einer Hypothek im Alter hat durchaus ihre Tücken, wie ich an einem einfachen Zahlenbeispiel aufzeigen möchte. Und zweitens gibt es plausible Gründe, weshalb die Ablehnungsquote mit dem Alter steigen könnte.

Eine Hypothek ist auch im Rentenalter eine Hypothek

Ein kleines Beispiel: Ein Haus koste 1 Million CHF, die beantragte Hypothek 600‘000 Franken. Klingt harmlos, es ist keine Luxusimmobilie, die Belehnung ist nur moderat. Das sollte doch auch als Rentnerehepaar zu stemmen sein.

Schauen wir uns die Tragbarkeitskriterien an: 5% Zins auf der Hypothek und 1% des Kaufpreis für Unterhalt. Ja, wir hatten schon mal so hohe Zinssätze – sogar noch höhere.Die 5% sind daher durchaus konservativ, zumal sich im Alter das Einkommen nicht mehr so leicht steigern lässt.

Macht also 30‘000 Franken für Zinskosten und 10‘000 Franken Unterhalt, total 40‘000 Franken. Nach den geltenden Regeln sollten die jährlichen Kosten eines Hauses nicht mehr als 1/3 des Einkommens betragen. Also umgerechnet auf das Jahreseinkommen: 120‘000 Franken. 120‘000 Franken Jahreseinkommen bedeutet andererseits: Ein Ehepaar ohne Lücken in den AHV Beitragsjahren müsste rund 80‘000 Franken aus der beruflichen Vorsorge erhalten (40‘000 aus der AHV).

Bei einem Umwandlungssatz von 6.5% entsprechen 80‘000 Franken BVG Rente im Jahr einem Pensionskassenvermögen von rund 1.2 Millionen Franken. 1.2 Millionen sind aber fast dreimal mehr als der typische Rentner bei seiner Pensionierung angespart hat. Oder anders ausgedrückt: ein solch hoher BVG Kapitalstock ist nur bei einem Jahreseinkommen von mindestens 160‘000 Franken (wohl eher gegen 200‘000 Franken) erreichbar.

Man kann natürlich die Regel kritisieren, dass die jährlichen Kosten höchstens einen Drittel der Einkünfte ausmachen dürfen. Sind denn die 120‘000 Franken Einkommen zu konservativ, zumal mit 65 keine Kinder mehr finanziert werden müssen? Bei einem älteren Paar stellen sich allerdings andere Finanzierungsfragen: Was passiert, wenn ein Ehepartner stirbt? Statt 120‘000 Franken Rente bleiben dann nur noch etwa 75‘000 Franken. Zudem steigt die Wahrscheinlichkeit stark an, Pflegeleistungen finanzieren zu müssen.

Ganz so einfach ist es also nicht, im Alter eine sichere Finanzierung für Hypothek und Unterhalt aufzubringen. Das hat bereits Konsequenzen für Bewerber vor dem Rentenalter, schliesslich muss die Tragbarkeit langfristig erfüllt sein. Und selbst wenn die Tragbarkeitskriterien im Beispiel erfüllt wären: Die Bank würde sich bei einem Ehepaar mit 120‘000 Rente mit guten Gründen fragen, weshalb es bei einem so hohen Vorruhestandseinkommen bis ins Alter 65 nicht möglich war, eine viel höhere Eigenleistung aufzubringen.

Was mich zum zweiten Punkt bringt:

Eine 30 jährige Hauskäuferin ist anders als eine 50 jährigen Hauskäuferin.

Selbst ohne Tragbarkeitshürde ist zu erwarten, dass die Ablehnungsquote mit dem Alter steigt. Aus einem ganz einfachen Grund: Wer mit 30 Jahren ein Haus kauft, unterscheidet sich im Durchschnitt auch in anderen Aspekten von einer 50 jährigen Hauskäuferin. Was dann als Altersdiskriminierung erscheint, ist in Tat und Wahrheit durch andere Faktoren erklärbar.

So ist wahrscheinlich, dass wer in jungen Jahren kauft, reicher ist. Und selbst bei gleichem Einkommen dürften junge Käufer finanziell konservativer, weniger abenteuerlich, häuslicher und eher von den Eltern beim Hauskauf unterstützt sein. Anders ausgedrückt gibt es mit steigendem Alter einen immer kleineren Anteil solventer Bewerber unter denen, die noch kein Haus besitzen.

Mit 50 hat zudem ein grösserer Teil der Bewerber für eine Hypothek eine Scheidung hinter sich als mit 30. Natürlich haben auch Frischvermählte mit 30 eine Scheidungswahrscheinlichkeit von 50%. Die Scheidungswahrscheinlichkeit bleibt jedoch für ältere Verheiratete hoch, insbesondere bei Zweitehen. Den jüngeren bleibt nach einer Scheidung immerhin noch mehr Zeit, die Lücken in den Ersparnissen und der beruflichen Vorsorge wieder zu stopfen.

Zu guter Letzt sind die Daten für die älteren Bewerber auch weniger verlässlich und volatiler – weil es eben weniger hat. Ich vermute, dass bei einer Berücksichtigung aller Faktoren die Altersdiskriminierung verschwindet – oder sich sogar ins Gegenteil kehrt. Vielleicht lassen sich die Daten ja wissenschaftlich auswerten.