Kartoffelgeld

Urs Birchler

Immer wieder kommt die Frage: „Warum dürfen Banken Geld schöpfen, aber andere nicht?“ Die Vollgeldbewegung will die Geldschöpfung der Banken abschaffen, und an der kommenden Generalversammlung der SNB wird das Thema sicher von verschiedenen Referenten aufgegriffen werden. Heute kam mir ein Text von Ivo Muri in die Hand: „Warum dürfen Landwirte kein Geld drucken?“ Drum versuche ich am Beispiel der Kartoffelwährung einmal mehr zu erklären, was Banken tun und was nicht.

Bauern verkaufen Kartoffeln. Banken verkaufen Guthaben. Mit Kartoffeln kann man zahlen, wenn jemand bereit ist, Kartoffeln an Zahlung zu nehmen. Dasselbe gilt für Bankguthaben. Ein potentielles Zahlungsmittel herstellen darf also jeder (Beispiel: Bitcoins); schwieriger ist es, die Leute zu überzeugen, dieses effektiv anzunehmen. In Kuba sind Kartoffeln ein sehr begehrtes Zahlungsmittel. In der Schweiz sind heutzutage Bankguthaben beliebter.

Fazit 1: Geld wird geschaffen durch die Bereitschaft der Allgemeinheit, ein Gut als Zahlungsmittel anzunehmen. Geld schafft also weder der Bauer noch die Bank, sondern wir, die uns durch Guthaben oder Kartoffeln zahlen lassen.

Kartoffeln bestehen aus Stärke. Bankguthaben bestehen aus versprochenem Geld. Der Unterschied: Stärke macht satt, ein Versprechen nicht. Wie J.A. Schumpeter sagte: Mit versprochenem Geld kann man bezahlen, aber auf einem versprochenen Pferd kann man nicht reiten. Mit versprochenen Kartoffeln kann man also zwar nicht kochen. Aber (siehe oben) man kann mit ihnen bezahlen, wenn das Lieferversprechen des Bauern glaubwürdig genug ist.

Fazit 2: Geld kann jeder schaffen, der glaubwürdige Versprechen abgeben kann und diese in eine übertragbare Form kleidet.

Kartoffeln kriegen Junge. Geld kriegt keine Jungen, aber es „arbeitet“, d.h. es lässt sich rentabel ausleihen. Bauer und Bank lassen ihre Kartoffeln, bzw. ihr Geld, daher nicht in der Scheune liegen. Das hat einen Vorteil: Die Inhaber der Kartoffelgutscheine und die Inhaber der Bankguthaben erhalten einen Zins (oder Dienstleistungen im Zahlungsverkehr). Im Wettbewerb frisst dieser Zins den Ertrag aus dem ausgeliehenen Geld, bzw. des gepflanzten Kartoffeln weitgehend auf, d.h. der Ertrag der Geldschöpfung fliesst in jenes Publikum, auf dessen Vertrauen die Geldschöpfung letztlich beruht. Dieses System — versprochene Kartoffeln nicht am Lager zu haben oder versprochenes Geld auszuleihen — hat auch einen Nachteil: Es ist fragil. Wenn Panik aufkommt, versuchen die Leute, die Kartoffeln im eigenen Keller zu bunkern oder das Geld bei der Bank in bar abzuholen. Dies ist die Achillesferse des „fractional reserve banking“.

Fazit 3: Unvollständig gesicherte Guthaben sind für ihre Inhaber rentabel, aber riskant. Ob die Guthaben auf Kartoffeln lauten oder auf Geld spielt keine Rolle.

Geld (in heutiger Form) ist beliebig vermehrbar. Kartoffeln nicht. Einem Bauern, der Kartoffel versprochen hat, sie aber nicht liefern kann, mag ein Kollege aushelfen. Wenn alle Bauern „short“ sind, kann ihnen niemand helfen. Wenn alle Banken zusammen Geld liefern müssen, weil die Kunden in Panik sind, kann ihnen die Nationalbank mit einem Notkredit helfen. Die Nationalbank — und nur die Nationalbank — schafft Geld „gratis“ aus dem Nichts. Fiat Money, „Es werde Geld“. Es werde Kartoffel, geht nicht. (Dasselbe gilt übrigens für Bitcoin, darum kann und wird es nie echte Bitcoin-Banken geben.) Einen Lender of Last Resort kann es nur geben in einem beliebig vermehrbaren Medium, d.h. in Fiat Money. Weil Banken (von der SNB geschaffenes) Fiat Money borgen und ausleihen und nicht Kartoffeln, sind sie anders als Bauern. Und die SNB schützt die Achillesferse des Systems (was man als Vollgeld durch die Hintertür bezeichnen könnte).

Fazit 4: Das einzige „Privileg“ der Banken besteht darin, dass ihre Versprechen auf Geld lauten, welches im Notfall von der Notenbank beliebig vermehrt werden kann (den Banken aber keineswegs geschenkt wird).

Eine Hunderternote zu drucken, kostet die Nationalbank weniger als einen Franken. Das rentiert. Kartoffelgeld oder Bankgeld zu schaffen, ist etwas ganz anderes: Die Halter von Guthaben bei Bank oder Bauern müssen nämlich „bestochen“ werden, sei es (siehe oben) in Form von Zinsen oder Dienstleistungen im Zahlungsverkehr. Sonst gehen sie zur Konkurrenz. Die Nationalbank hingegen hat keine direkte Konkurrenz, drum braucht sie den Inhabern der Banknoten auch keinen Zins zu bezahlen. (Den resultierenden Gewinn überweist sie im wesentlichen an Bund und Kantone.)

Fazit 5: Geldschöpfung durch die SNB einerseits und durch Banken (oder Bauern) andererseits sind zwei grundverschiedene Vorgänge.

Vollgeld: Bravo NZZ

Urs Birchler

Kompliment an Hansueli Schöchli zu seinem luziden Artikel zur Vollgeld-Initiative in der heutigen NZZ! Alles sauber und unvoreingenommen erklärt.

Für Stimmbürger(innen) am wichtigsten: Wenn die SNB dem Bund Geld schenkt, wird die Schweiz als ganze nicht reicher. Statt auf der Vermögensseite der SNB steht das Geld dann auf der Vermögensseite des Bundes. Die Gefahr allerdings: Der Wunsch der Politik nach mehr, der nur durch Geldschöpfung (einer Form der Besteuerung) und indirekt Inflation erfüllt werden kann.

Was mich am meisten beeindruckt hat: Hansueli Schöchli hat die wissenschaftliche Literatur weiträumig studiert und zitiert. Von den Schweizer Ökonomen hätte man noch den NZZ-Gastbeitrag von Jörg Baumberger und vor allem die eigene (kritische) Website zu Vollgeld des Basler Professors Aleksander Berentsen erwähnen dürfen. Dieser gehört international zu den Top-Forschern auf dem Gebiet der monetären Ökonomie.

Frühere Beiträge bei Batz.ch zu Vollgeld: Vollgeld für Anfänger, das Experiment in Louisiana, und in meiner Abschiedsvorlesung zu Thema Geldreform–Weltreform.

Ein alter Popanz neu aufgetischt: Die neue alte Debatte über Referenden in Deutschland

Gebhard Kirchgässner

Wie zu erwarten war, hat die britische Entscheidung, aus der Europäischen Union auszutreten, auch in Deutschland die Diskussion über direkte Demokratie auf Bundesebene wieder neu entfacht. Dabei kommen die alten Fronten zum Vorschein: Die einen lehnen Referenden oberhalb der Länderebene strikt ab, während andere sie insbesondere für Fragen der Europäischen Union als zumindest sinnvoll, möglicherweise sogar für erforderlich halten.

Dabei sind die Argumente nicht besser geworden; es wird mit den gleichen alten (falschen) Behauptungen argumentiert wie früher. Referenden führen ins Chaos, insbesondere dann, wenn sie nicht so ausgehen, wie sich die politischen und/oder gesellschaftlichen Eliten das wünschen. „Referenden eignen sich nicht dafür, komplexe Frage zu entscheiden. Auch weil später niemand die Verantwortung übernimmt.“ So hat kürzlich Theo Sommer argumentiert, ein Mann, von dem man normalerweise etwas differenziertere Stellungnahmen erwarten darf. Ähnliches gilt für Bundespräsident Joachim Gauck, wenn er äussert: „Oft müssen schwierige Kompromisse gefunden werden, die mit Volksentscheiden nicht möglich sind.“ Andererseits fordert jetzt neben Horst Seehofer auch Edmund Stoiber wieder Volksentscheide für Europa und sogar auf Bundesebene. Er hatte in seiner Zeit als Bayerischer Ministerpräsident alles daran gesetzt, Volksentscheide in Bayern zu erschweren. Aber vielleicht hat er ja dazu gelernt.

Angesichts dieser Diskussion dürfte es sinnvoll sein, auf einige der jetzt wieder vorgebrachten Argumente einzugehen, selbst wenn sie längst widerlegt sind. Nur so kann man versuchen, die Diskussion zu versachlichen. Im Folgenden sollen daher drei Problemkreise angesprochen werden: (i) der Unterschied zwischen von oben erlaubten Plebisziten und direkten Volksrechten, (ii) die Problematik der Behandlung komplexer Fragen sowie (iii) die mögliche Rolle und die Bedingungen von Referenden bei Änderungen der Europäischen Verträge. Wir schliessen mit einigen Bemerkungen zur Übertragbarkeit von Erfragungen mit der direkten Demokratie auf andere Länder sowie zur Rolle der Verantwortung in der repräsentativen und der direkten Demokratie.

Ganzer Aufsatz hier

Brexit: Dritter Weg?

Urs Birchler

Eine umfassende und dennoch konzise Zusammenstellung der Vor- und Nachteile eines britischen Austritts aus der EU hat mein Kollege David Llewellyn als SUERF Policy Paper geschrieben.

Darin entwirft er auch ein (gar nicht so unrealistisches) drittes Szenario: Eine Ablehnung gefolgt von verstärkten Versuchen des UK, zusammen mit anderen Staaten die EU von innen zu verändern. Die Exit-Option würde als Drohung weiterhin bestehen und wie viele Optionen ist sie lebendig wohl mehr wert als tot.

Für die Schweiz würde die britische Revolte von innen bedeuten, dass die EU innenpolitisch so beschäftigt wäre, dass niemand Zeit (und schon gar keine Lust) hat, gross auf helvetische Befindlichkeiten einzugehen.

Geldreform — Weltreform

Urs Birchler

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Am Dienstagabend gab ich an der Uni Zürich meine Abschiedsvorlesung. Inhalt: Geldreformen, die gleichzeitig als Weltreformen gedacht waren oder sind: Corvaja’s Bankokratie, Gesell’s Freiwirtschaft, die Vollgeldinitiative, der Euro. Fazit: Der Versuch, über das Geld die Welt zu erneuern, ist zum Scheitern verurteilt. Im schlimmsten Fall gehen dabei sowohl das Geld kaputt, als auch die angestrebte neue Welt. Bestes Beispiel: der Euro. Der Versuch, Europa via Gemeinschaftswährung zur Einheit zu zwingen, hat den Euro und die Einheit untergraben.

Die Vorlesung kann auf der Homepage des IBF hier oder hier als Video abgerufen werden.

Zusätzlich hat Klaus Ammann von Radio SRF ein wohlgesonnenes (danke!) Interview gemacht und in Echo der Zeit gesendet.

Ich danke nochmals allen, die gekommen sind und Ihre Zeit mit mir geteilt haben!

Stiglitz und Strahm beim Tricksen

Urs Birchler

Dieser Tage musste man wieder aufpassen beim Zeitunglesen.

Beispiel 1: Rudolf Strahm behauptet in Der Bund, dass Rohstoffspekulanten (a) profitorientiert seien und (b) die Preise destabilisieren. Dies geht aber schlecht zusammen. An der Börse gewinnt in der Regel, wer billig kauft und teuer verkauft — das heisst, derjenige der die Preise stabilisiert. Natürlich kann ein Einzelner einmal Glück haben, indem er eine spekulative „Blase“ kurzfristig mitreitet und noch rechtzeitig, vor dem Platzen, verkauft. Aber eine Branche als ganze kann dies nicht. Auch das Gegenteil geht nicht: Oder würden Sie einem Rohstoffkonzern glauben, der behauptet, er stabilisiere die Preise, verliere dabei aber einen Haufen Geld? Also: entweder profitabel (und insgesamt stabilisierend) oder destabilisierend (und insgesamt unprofitabel).

Beispiel 2: Joseph Stiglitz sagt Weiterlesen

Vollgeld: Louisiana 1842

Urs Birchler

Die Vollgeld-Idee wurde in der Praxis bereits einmal erprobt. Und das kam so: Die USA erlebten 1837 (nachdem die Charter für die Zentralbank, die Second Bank of the United States, nicht erneuert worden war) eine schwere Wirtschafts- und Bankenkrise. In der Folge zog sich der Bundesstaat aus der Bankenregulierung zurück, und die einzelnen Staaten gingen in der Gesetzgebung getrennte Wege. New York ging über zum Free Banking, einem im wesentlichen nicht-regulierten Bankwesen, samt Ausgabe von Banknoten durch die privaten Banken. Indiana erlaubte Bankgeschäfte nur einer Staatsbank. Texas und Iowa verboten Banken überhaupt.

Einen Mittelweg wählte Louisiana mit der Banking Act von 1842. Banken wurden verpflichtet, ihre ausgegebenen Banknoten plus Depositen voll zu unterlegen mit (a) Bargeld (mindestens zu 1/3) und (b) Papieren mit Laufzeit von maximal 90 Tagen (für die übrigen 2/3). Diese Papiere durften bei Fälligkeit auf keinen Fall erneuert werden, damit keine Kurzfristigkeit vorgegaukelt werden konnte. Der liquide Teil der Bilanz hiess Movement, der langfristige Teil Dead Weight.

Das System, das dem Vollgeld (mit Silber anstatt Guthaben bei einer Zentralbank) also recht nahe kam, wurde unter dem Namen seines Erfinders Edmund J. Forstall bekannt als Forstall-System. Näheres findet sich in einem Artikel des Bankenhistorikers Bray Hammond von 1942. Das System bewährte sich nicht schlecht: In der Krise von 1857 mussten die Banken in anderen Staaten ihre Schalter schliessen — nicht aber in Louisiana.

Wie sehr sich die Erfahrung mit dem Forstall-System verallgemeinern lässt, ist umstritten. Louisiana war mit dem weltweit viertgrössten Handelshafen New Orleans auch Umschlagplatz für mexikanisches Silber, wodurch die Banken ohnehin eher liquid waren. George D. Green weist in Finance and Economic Development in the Old South: Louisiana Banking, 1804-1861 von 1972 auf einen besonders interessanten Punkt hin: Louisiana blieb vom Bankenkrach vielleicht nicht in erster Linie deshalb verschont, weil das „Vollgeld“ in der Krise die Banken stärkte, sondern weil es die Banken (aufgrund der strengen Liquiditätspflicht) bereis im vorangegangenen Boom an übermässigem Kreditwachstum gehindert hatte.

Nach dem Bürgerkrieg inspirierte Louisiana auch die Bankengesetzgebung von New York und Massachussets; indirekt sogar die spätere Bankengesetzgebung auf Bundesebene und die Gesetzgebung bei der Errichtung des Fed.

NZZ-Wirtschaftsredaktion im Elfenbeinturm?

Urs Birchler

Gratulation an meine Mit-Batzer Marius Brülhart, Gebhard Kirchgässner und Monika Bütler! Sie sind alle drei unter den einflussreichsten Schweizer Ökonomen.

Ob „einflussreichst“ auch bedeutet, dass jemand zuhört? Der Kommentar zum Ökonomenranking in der NZZ von Jürg Müller (5.9.2015, S. 15) weckt Zweifel. Jürg Müller beklagt zwar, „wie sehr die Ökonomen den Gang in die Öffentlichkeit scheuen“. Und ganz dick: „Bei zukunftsweisenden Fragen wie beispielsweise dem demographischen Wandel und der Migration … geht [die öffentliche Debatte] ohne materielle Mitwirkung der Wirtschaftsforscher über die Bühne.“ Gerade hier hätte er schon bei batz.ch (und das ist eine kleine Welt) einiges gefunden von Uwe Sunde (Demographie und Staatsverschuldung), Monika Bütler (Demographie und Umverteilung oder 2), Monika Engler (Demographie und Staatsfinanzen) und anderen.

Der Artikel beweist nur, dass die Ökonomen, wenn sie denn den Gang an die Öffentlichkeit wagen, offenbar nicht gelesen werden — jedenfalls nicht von Jürg Müller und einigen seiner Kollegen bei der NZZ.

Nicht, dass wir den Elfenbeinturm nicht kennten. Man lese dazu Monika Bütler in der Volkswirtschaft. Doch müssen Professoren in erster Linie unterrichten und Forschen. Im Vergleich zur 20-köpfigen Wirtschaftsredaktion der NZZ — die wirtschaftskundigen Redaktoren anderer Ressorts nicht mitgezählt — machen die rund hundert vollamtlichen Wirtschaftprofessoren an den Schweizer Universitäten der Deutschschweiz, deshalb eine gute Figur in den Medien. Vielleicht nicht immer in den schweizerischen.

Hier klemmt es nämlich. Ein Beispiel: Monika Bütler zeigte vor rund fünf Jahren in einem Aufsatz mit schweizerischen Daten, dass Ergänzungsleistungen die Anreize so verzerren, dass bei der Pensionierung eher Kapital als Rente gewählt wird. Eine Kurzfassung des Artikels wurde u.a. auch der NZZ angeboten. Seither hat diese Forschung der Autorin Einladungen an die Wharton School, nach Singapur, Australien und Holland eingebracht. In der Schweiz blieb das Interesse gering trotz explodierenden Kosten bei den Ergänzungsleistungen.

Jürg Müller spekuliert, die Schweizer Ökonomen seien sogar schuld, dass „in jüngster Zeit unsinnige Vorlagen auf Zustimmung der Bevölkerung gestossen sind [er meint die Stimmbürger]. Hat er die Beiträge zur Goldinitiative von Aleksander Berentsen (1) und mir (2, 3, 4, 5, 6) gelesen? Oder zur Erbschaftssteuer Marius Brülhart (1, 2, 3) und Monika Bütler (1, 2, 3)?

Jürg Müller beklagt, „dass nur allzu oft längst überholte Theorien die Richtung vorgeben.“ Stimmt — Beispiel NZZ. Es gibt in der empirischen Finance ein Ergebnis, das an Robustheit kaum mehr zu überbieten ist: Aus den vergangenen Bewegungen der Aktien- oder Devisenkurse, lassen sich keine gewinnbringenden Prognosen ableiten. Dies hindert die NZZ nicht daran, wöchentlich fast eine Seite der chartechnischen Kaffeesatzlektüre zu widmen und uns vor herannahenden Todespunkten und dergleichen Mumpitz zu warnen.

„Ökonomen sollten die Studierstube wieder einmal verlassen.“ Ein solcher Satz kann nur in einer zu gut geheizten Redaktionsstube entstanden sein.

Zu viel direkte Demokratie? Die Unterschriftenhürde

Monika Bütler und Katharina Hofer

Im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen hier noch etwas aus unserer aktuellen Forschung am Institut. Die Frage ist, wie sich eine Erhöhung der Unterschriftenzahl bei Volksinitiativen auf die Anzahl und die Art der eingereichten Initiativen auswirken würde. Die Kurzfassung der Antwort:  Daten und Modell zeigen, dass wohl tatsächlich mit weniger Initiativen zu rechnen wäre. Ob dies allerdings wünschenswert ist, ist a priori nicht so klar (und können wir auch nicht beurteilen).

Wer noch etwas mehr wissen will lese unten weiter. Wer noch viel mehr wissen will konsultiere unser Arbeitspapier (Autoren: Katharina Hofer, Christian Marti und Monika Bütler).

Bis zu viermal jährlich werden die Schweizer Stimmbürger an die Urnen gerufen, um über eidgenössische Vorlagen zu entscheiden. Viele Stimmen äussern sich kritisch zur „Initiativenflut“, welche insbesondere in den letzten Jahren einen Aufwärtstrend aufweist (die Abbildung  zeigt die Anzahl zustande gekommener Initiativen pro Dekade, Quelle: Bundesamt für Statistik (2015)). Der Stimmberechtigte werde überfordert, wie auch die eidgenössischen Räte, welche sich über den parlamentarischen Prozess mit einem möglichen Gegenvorschlag sowie Parteiparolen auseinander setzen müssen.

Initiativen1891bis2015

Unbestritten ist, dass die Hürden für neue Initiativen seit der Einführung der Eidgenössischen Volksinitiative 1891 deutlich gesunken sind: Mussten damals noch 3,4% der stimmberechtigten Männer das Begehren unterschreiben, sind es heutzutage nur noch 1.9%. Als Antwort auf die Verdoppelung der Stimmberechtigten durch Einführung des Frauenstimmrechts wurde die Unterschriftenhürde für das Zustandekommen von Volksinitiativen 1978 das erste und letzte Mal auf 100’000 erhöht. Bemerkenswert: zwischen der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 und der Erhöhung der Unterschriftenzahl 1978 lag die Unterschriftenhürde noch tiefer als heute. (Vielleicht hat man damals den Frauen einfach noch nicht zugetraut, politisch aktiv zu sein). Auf jeden Fall stieg die Anzahl der zustande gekommenen Initiativen in dieser Zeit (71-80 versus 61-70) um mehr als das doppelte.

Um der direkten Demokratie eine Verschnaufpause zu gönnen und die Anzahl Initiativen zu reduzieren, wird heute wieder eine deutliche Erhöhung der Hürde propagiert. Avenir Suisse schlägt beispielsweise 211’200 Unterschriften vor, was einem Anteil von 4% der Stimmbevölkerung entsprechen würde.

Wie sich eine Erhöhung der Unterschriftenzahl auf die Zusammensetzung der Initiativen auswirken würde ist hingegen nicht so klar. Ist die Senkung der Anzahl der Volksbegehren das alleinige Ziel, wäre dies vermutlich ein effektives Instrument. Zwei weitere Effekte sollten jedoch nicht vergessen werden. Denn eine höhere Unterschriftenhürde bedeutet gleichzeitig höhere Sammelkosten zumal die Sammelzeit seit 1978 auf 18 Monate begrenzt ist.

Erstens bevorzugt eine höhere Unterschriftenzahl zahlungskräftige Initiativkomitees. Weniger einfach zu organisierende, aber vielleicht ebenso berechtigte Anliegen hätten eine geringere Chance, die Hürde zu nehmen. Zweitens beeinflusst die Erhöhung der Unterschriftenzahl die Zusammensetzung der zur Abstimmung kommenden Initiativen: Initiativkomitees mit grösserer Unsicherheit bezüglich ihrer Wahrscheinlichkeit, den Status Quo ändern zu können, werden möglicherweise durch die hohen Sammelkosten abgeschreckt. Initiativen mit höheren Erfolgschancen würden hingegen weiterhin lanciert und könnten folglich auch eher zu einem Gegenvorschlag oder gar zu einem direkten Erfolg an der Urne führen. Dabei können aber auch Initiativen mit ex ante geringer Erfolgswahrscheinlichkeit eine Bereicherung für die politische Diskussion darstellen.

In unserem Forschungspapier zeigen wir – auch anhand der Daten aller Volksinitiativen seit 1891 – auf, dass die Unterschriftenhürde nicht nur ein Filter für die Anzahl gestarteter Volksinitiativen ist, sondern gleichermassen auch die Charakteristika der zustande gekommenen Initiativen beeinflusst. Anliegen mit unsichereren Erfolgsaussichten, die aber potenziell ebenfalls einen Beitrag zur politischen Diskussion leisten, werden bei höheren Hürden womöglich nicht mehr lanciert. Dies sollte bei Reformvorschlägen der Initiative bedacht werden. Immerhin sind Initiativen in ihrer Natur ein Mittel der politischen Minderheiten.