Island: Bitte nichts zahlen!

Sollen die isländischen Stimm-Bürger am 6. März ja oder nein sagen zum sogenannten Icesave Deal mit Grossbritannien und den Niederlanden? Sie sollten nein sagen, aber nicht nur das. Island sollte sofort sämtliche Ausslandsschulden widerrufen. Das läge sogar im Interesse der Gläubigerländer und Europas als ganzes.

Inke Nyborg hat die nachstehenden Zahlen (auf der Basis einer detaillierteren Tabelle) zusammengestellt. Island steht ungefähr dort, wo Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg stand. Im Verhältnis zur jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes entsprechen die isländischen Schulden (244%) genau den Reparationsforderungen der Sieger an das besiegte Deutsche Reich.

Deutschland hatte zwar einen höheren Ausgangsbestand an Schulden (648%); diese lauteten aber grösstenteils auf Reichsmark und wurden durch die Hyperinflation von 1922-23 „getilgt“. Die seitens der Sieger von Deutschland geforderten Reparationszahlungen hingegen waren in Gold festgesetzt, so wie die isländischen Schulden auf ausländische Währungen (v.a. Euro) lauten. Diese Schulden sind genauso unbezahlbar wie es die deutschen Reparationforderungen waren.

Der Unterschied: Deutschland ist ein Land in der Mitte Europas mit, damals, 60 Mio. Einwohnern. Island ist eine Insel am Rande Europas mit rund 300’000 Einwohnern. Jeder dieser Einwohner, vom Baby bis zum Greis, schultert Auslandsschulden im Wert von hunderttausend Dollars. Den Isländern bleibt die Wahl zwischen erdrückenden Steuern oder die Emigration (ins Ausland oder in die Subsistenzwirtschaft). Doch für jeden Isländer, der sich entzieht, wird die Bürde noch schwerer für die Zurückbleibenden. Kurz — es gibt keine Alternative zum Default, dem Abstreiten der Schulden und Neubeginn. Am besten jetzt gleich. Die Icesave-Abstimmung ist nur Begleitmusik.

Ein Default läge auch im Interesse der Gläubiger. Ein auf Jahrzehnte zahlungsunfähiges, wirtschaftlich totes Land nützt niemandem; ein Land, das bei null beginnen kann, in dem auch wieder rentabel investiert werden kann, schon. Natürlich sind die Isländer ein Stück weit selbst schuld. Auch die Deutschen waren mitschuldig am Ersten Weltkrieg. Dennoch wäre es traurig, wenn die Sturheit der Gläubiger wieder ein Land in die Katastrophe treiben würde.

Jedenfalls wird die auf morgen, 16. Februar, vorgesehene  Publikation der Isländischen Bevölkerungsstatistik plötzlich zu einem interessanten Ereignis.

Wachstum und Wohlstand I: (Ist) War Irland reicher als die Schweiz?

Für einmal stellt die OECD der Schweiz ein gutes Zeugnis aus: Sie habe die Finanzkrise im Vergleich mit anderen Ländern sehr gut gemeistert. Kritisiert wurde hingegen wie schon beim letzten Bericht die relativ geringe Arbeitsproduktivität. Trotz sehr hohem Pro-Kopf-Einkommen liege die Schweiz hier nur im Mittelfeld der OECD Mitglieder.

Nicht immer erhielt die Schweiz von der OECD und anderen Stellen (relatives) Lob. Selbst im Pro-Kopf-Einkommen sei die Schweiz zurückgefallen, hiess es das letzte Mal. So zeigten die Zahlen (siehe Graphik), dass beispielsweise Irland seit 2002 die Schweiz im (Kaufkraft-bereinigten) Pro-Kopf-Einkommen überholt habe. Weiter noch gingen die Amerikaner Tim Kehoe und Kim Ruhl von der University of Minnesota. Auf die Frage „Is Switzerland in a Great Depression?“ antworteten sie im Jahre 2004 mit einem klaren Ja: “ We conclude that Switzerland has indeed suffered a great depression and, in fact, is mired in it even today.“

Dass die Schweiz ein Wachstumsproblem habe, entsprach der Einschätzung der meisten Ökonomen. Der Konsens war so stark, dass der Zwischenruf von Prof. Ulrich Kohli «Das Problem ist nur halb so schlimm» für Verwirrung unter den Teilnehmern einer Tagung von Avenir Suisse sorgte. Der damalige Chefökonom der Nationalbank monierte, in den offiziellen BIP-Zahlen werde das Wachstum der Schweiz wegen Messproblemen um 1 bis 1,5% jährlich unterschätzt. Ein riesiger Unterschied.

Ulrich Kohli, ein international anerkannter Wissenschafter, meinte, dass es völlig unplausibel sei, dass Irland ein höheres Pro-Kopf-Einkommen hätte als die Schweiz. Und musste darauf gleich von zwei Seiten Prügel einstecken. Von den Verfechtern der Diagnose Wachstumsschwäche (unter Einschluss des seco) für eine Beschönigung der desolaten Lage der Schweiz. Von der irischen Regierung, weil er die Erfolge in der irischen Wachstumspolitik anzweifle.

Selbst Ulrich Kohli schätzte, dass Irland auch mit „richtig“ gemessenen BIP-Werten die Schweiz tatsächlich bald überholen würde, sollte sich der Trend fortsetzten. Doch dies scheint zumindest momentan nicht der Fall zu sein. Irland befindet sich in einer dramatischen Wirtschaftskrise mit einem Einbruch des (kaufkraftbereinigten) Pro-Kopf-Einkommens von beinahe 7% in 2009 und einer Arbeitslosenrate von 12%, die in 2010 auf über 15% ansteigen dürfte. Dagegen muten der relativ geringe Rückgang des schweizerischen Pro-Kopf-Einkommens um circa 1% und die Arbeitslosenquoten von 3,5% für 2009 und von geschätzten 4,5% für 2010 fast schon idyllisch an.

Weshalb ist es überhaupt so schwierig, das Einkommen eines Landes zu messen? Wie kann es sein, dass ein Land gleichzeitig ein hohes Pro-Kopf-Einkommen und eine geringe Arbeitsproduktivität hat? Wie ist es möglich, dass die Wachstumsraten von europäischen Ländern über viele Jahre um mehrere Prozent auseinanderliegen? Und wie ist es möglich, dass Zahlen und Wahrnehmung so stark auseinanderliegen können? Ist das Pro-Kopf-Einkommen eventuell gar nicht das richtige Mass, den Wohlstand eines Landes zu messen?

Fortsetzung folgt.

Dank an Stefan Staubli für die Mitarbeit bei der Aufbereitung der Daten.