50 Jahre und kein bisschen weiter?

Am 23. Januar 1973, einem trübkalten Dienstag, um 08.30 Uhr fand in der Schweiz ein Staatsstreich statt – mehr oder weniger unfreiwillig, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, und nur als provisorisch gedacht. Putschistin contre coeur war die Schweizerische Nationalbank. Nach kurzer Rücksprache mit dem Bundesrat teilte sie den Banken mit, dass sie “heute darauf verzichtet, ihre Interventionen am Dollarmarkt aufzunehmen. Sie wird sich vom Markte fernhalten, bis eine Beruhigung eingetreten ist.” 

Die Nationalbank zog damit die Notbremse: Die Notenbankgeldmenge hatte allein am Vortag um fast vier Prozent zugenommen; dies bei einer Inflationsrate von bereits über sieben Prozent pro Jahr. Sie wollte deshalb den Kurs des amerikanischen Dollars vorläufig nicht weiter durch Dollarkäufe stützen, zumal Präsident Nixon schon 1971 den Dollar vom Gold abgekoppelt hatte.

Indem die SNB die Fessel der vom Bundesrat festgelegten Goldparität (und – indirekt – Dollarparität) sprengte, mutierte sie – salopp gesprochen – von einem passiven Währungskiosk zu einer mündigen Notenbank. Sie übernahm erstmals in ihrer Geschichte die Kontrolle über die von ihr geschaffene Geldmenge. 

Die anderen Europäischen Notenbanken folgten der Pionierin kurz darauf und lösten ihre eigenen Währungen vom Dollar. Dies bedeutete, wie im Artikel von Thomas Fuster in der gestrigen NZZ nachzulesen ist, das Ende der Währungsordnung von Bretton-Woods (an der die Schweiz offiziell nicht einmal beteiligt war).

Aus dem “vorläufig” wurde ein “dauernd”: So begann im Januar 1973 das Zeitalter der flexiblen Wechselkurse – der Verantwortung der Nationalbank für Inflation oder Deflation. Die Währungen der wichtigen Länder wurden zu FIAT-Money, zu Geld, das allein in der Hand der einzelnen Notenbank liegt.

Der Ausstieg aus der Dollar-Parität bedeutete auch das Ende der Finanzierung von Staatsdefiziten (konkret: der Kosten des Vietnamkriegs und der amerikanischen Sozialpolitik) durch die Notenbanken der Partnerländer. Den meisten Notenbanken gelang es in der Folge, ihre Politik am Ziel der Preisstabilität auszurichten und von den Finanzbedürfnissen des Staates zu lösen.

Doch knapp vierzig Jahre später stand das FIAT-Geld auf dem Prüfstand. In der Finanzkrise von 2007-08 und der darauffolgenden Eurokrise von 2011 mussten die FIAT-Währungen beweisen, dass sie die Wirtschaft vor einem Absturz in die Deflation bewahren können – anders als das “barbarische Relikt” des Goldes in den 1930er Jahren. Dies gelang eindrücklich, doch wie die Katze durch den offenen Türspalt, schlich sich eine alte Bekannte ein: Die Finanzierung von Staatsdefiziten durch die Notenbanken.

Im Juli 2012 versprach der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, alles zu tun, was es brauchen würde, um den Euro zu retten. Dazu musste er den Anstieg der Risikoprämien auf italienische und griechische Staatsanleihen auf unbezahlbare Höhen wieder rückgängig machen. Er übersetzte “FIAT money“ von “Es werde Geld” in “Es werde beliebig viel Geld”. Draghi löste damit die Ankerleine des Euro, genauso wie der amerikanische Präsident Nixon 1971 den goldenen Anker des Bretton-Woods-Systems versenkt hatte. 

Mit seinem “all in” hat Präsident Draghi seine riskante Wette fürs erste gewonnen: Der Euro überlebte vorerst ohne Austritte. Doch ob die EZB und die anderen Notenbanken aus dem Gravitationsfeld der Staatsschulden wieder auf einen konsequenten Kurs der Preisstabilität zurückfinden werden, scheint 50 Jahre nach 1973 – mit viel grösseren Staatsschulden und mit viel grösseren Geldmengen als damals – noch offen. Die damals errungene Autonomie muss erneut verdient werden.

Auch dieser Beitrag beruht auf dem “Das Einmaleins des Geldes” (hep-Verlag, Sommer 2023)

NZZ reitet auf totem Pferd

Urs Birchler

In der NZZ von gestern präsentiert der Direktor des Liberalen Instituts, Oliver Kessler, unter dem Titel „Falsche Lehren aus der Grossen Depression“ eine alte, längst widerlegte Kritik an der amerikanischen Zentralbank FED.

Die Federal Reserve soll die Krise von 1929 mit einer übermässig expansiven Geldpolitik (mit)verursacht haben. Kessler bezieht sich auf den 1995 verstorbenen radikalen Vertreter der (staatskritischen) Österreichischen Schule (Mises, Hayek u.a.) Murray Rothbard, Autor des Buches America’s Great Depression (1963).

Das Argument von Rothbard/Kessler, die FED habe in den Jahren 1921-29 die Geldmenge ausgeweitet, ist aber falsch:

  • Die als „Beweis“ angeführten Käufe der FED von Staatsobligationen sind nur ein Teil des Ganzen: Die gleichzeitig auslaufenden Guthaben der FED werden dabei ausgeblendet.
  • Die FED war in diesen Jahren keineswegs autonom, sondern operierte unter dem Goldstandard. Unter diesem floss aber aufgrund der Entwicklung in Europa in grösserem Ausmass Gold in die USA. Die eigenständigen Massnahmen der FED zielten darauf ab, diese expansiven Einfluss wenigstens teilweise zu kompensieren.

Die „übermässig expansive“ Politik der FED ist daher eine Legende, bzw. eine Folge des Goldstandards, der gerade bei der Östereichischen Schule einen guten Ruf geniesst. Auch die Interpretation des Börsenbooms bis 1929 als „verdrängte Inflation“ wurde schon von Friedmann und Schwarz „A Monetary History of the United States 1867-1960“ — nach wie vor dem Standardwerk zur amerikanischen Geldgeschichte (siehe zum Beispiel die detaillierte Diskussion durch Michael Bordo) — ausdrücklich verworfen:

„The widespread belief that what goes up must come down … plus the dramatic stock market boom, have led many to suppose that the United States experienced severe inflation before 1929 and the Reserve System served as an engine of it. Nothing could be further from the truth.“ Noch weiter von der Wahrheit entfernt dürfte dennoch Rothbards Behauptung sein, die FED sei nach dem Börsencrash von 1929 zu expansiv gewesen.

Die NZZ und der Leiter des Liberalen Instituts reiten hier auf einem zumindest lahmen Pferd. Das ist schade: Wer selber liberal fühlt (wie der Autor dieses Beitrags) wünscht sich den Wettstreit der (gerne auch neuen) Ideen und nicht das Aufwärmen längst abgetischter Irrtümer.

P.S.: Dieser Beitrag ist in keiner Weise gemeint als Verharmlosung der Geldmengenexpansion der meisten Notenbanken seit Beginn der Finanzkrise von 2007.

Im Apfelstrudel des Strukturwandels

Urs Birchler

Der Tagesanzeiger meldet, die Grossbäckerei mit dem phantasievollen Namen Groba AG müsse mehr als die Hälfte ihrer Stellen abbauen. Mein Gott! Dort war doch (vor bald einem halben Jahrhundert) mein erster Studentenjob! In einer Backstube am Zürcher Kreuzplatz fabrizierte Groba gefrorene Apfelstrudel für die Marke Findus. Die gewürfelten Äpfel kamen in grossen Büchsen. Dahinter stand irgendwie die Alkoholverwaltung, die verhindern wollte, dass die Äpfel verschnapst wurden.

Erinnern kann ich mich an den Chef und seine Frau, die gelegentlich mit dem grauen Pudeli zu Besuch kam, welches aber nicht an den Apfelstückli schnuppern durfte. Die Belegschaft bestand grösstenteils aus einer Gruppe Frauen, die jeweils in aller Herrgottsfrühe mit dem Minibus aus dem Thurgau herbeigefahren wurden für Fr. 3.50 die Stunde. Dazu die beiden Studenten: Ein Grieche, dessen Namen ich leider vergessen habe, und ich, beide für je Fr. 7.– die Stunde. Wir studierten beide Wirtschaft im selben Semester. Die in der Vorlesung mit einem Ohr vernommene Idee, dass Löhne etwas mit Produktivität zu tun hätten, kam uns in der Backstube nachhaltig abhanden. Die Thurgauerinnen berserkten den ganzen Tag und steckten mit blossen Händen gefrorene Strudel in die vorgefertigten Schachteln.

Was der Grieche und ich mit dem doppelten Lohn zum BIP beitrugen, ist mir nicht mehr in der notwendigen Schärfe erinnerlich. Auf dem mit Mehl eingestäubten Tisch, wo der Teig ausgewallt werden sollte, zeichneten wir jedenfalls mit dem Finger Grafiken zu den Aufgaben vom Proseminar am Vortag, Ich sehe noch deutlich, wie ich dem noch ahnungsloseren Kollegen erklärte, warum sich Indifferenzkurven nicht schneiden können (was sogar in den Zeiten der behavioral economics noch zu gelten scheint). Als uns der Chef ertappte, entliess er den Griechen. In einer Aufwallung von internationaler Arbeitersolidarität schleuderte ich ihm meine Kündigung auch gleich ins Gesicht.

Und jetzt baut die Groba AG wieder ab. Ironischerweise, weil der wichtigste Kunde von Frischbackwaren auf gefrorenes Zeug umstellt. Also auf das, was „wir“ damals herstellten. Wir Weitblickenden.

Der Finanzhimalaya

Urs Birchler

Der Beitrag zur SNB von Simon Schmid (2. Folge) in der Republik weckt nostalgische Gefühle. Seine sehr hilfreiche Grafik zur Entwicklung der SNB-Bilanz erinnert mich an eine analoge Grafik, mit der wir in den den achtziger und frühen neunziger Jahren in den Geschäftsberichten der SNB jeweils die Entwicklung der Bankbilanzen illustrierten. Aufgrund der „Berge“ in der Grafik „Mittelfluss“ erhielt diese von den Kollegen den Übernamen „Himalaya-Grafik“. Zunächst aber die ruhigere Abbildung der Bilanzstruktur:

Sie zeigt blau die von den Banken vergebenen Kredite, rot-braun deren Finanzierung und grün die Kreditbeziehungen zwischen den Banken, die logischerweise beidseitig (Aktiven und Passiven) auftauchen. Nun aber ab ins Hochgebirge, zum Geldabfluss (oben) und seinem Spiegelbild, dem Geldzufluss (unten).

Das blaue Massiv, der Mittelabfluss in Form der Kreditvergabe (netto) zeigt schön den Konjunkturboom der späteren achtziger Jahre. Die SNB musste die Party allerdings auftragsgemäss verderben und die Zinssätze angesichts drohender Inflation ansteigen lassen. Dies führte zu den typischen Verlagerungen der Kundengelder auf (mittelrosa) Termineinlagen (Festgelder), da deren Verzinsung rascher reagierte als die Zinssätze auf den Sparheften. Die Spargeldbestände (hellrosa) und die Sicht- und Kontokorrenteinlagen nahmen ab (das heisst, sie wechselten 1990 in die obere Hälfte (Mittelabfluss). Ferner nahmen die Banken seit 1988 netto Geld bei ausländischen Banken auf; das Interbankgeschäft (grün) wechselt vom Mittelabfluss zum Mittelzufluss. Nicht alle Banken konnten das (blaue) Kreditwachstum rechtzeitig verdauen. Die Spar+Leihkasse Thun, die tatsächlich Kredite zum Teil ins Blaue hinaus gegeben hatte, ging 1991 unter. Das Kreditgeschäft der Banken geriet denn auch 1984 in die Flaute.

Einige Leser verstanden den Himalaya jeweils nicht ohne Sauerstoff; eine veränderte Rechnungslegung riss zudem tiefe Verwerfungen auf. So wurde die Grafik schliesslich eingestellt. Mit wehmütigem Gruss an meine damaligen Kolleginnen und Kollegen im „Ressort Bankwirtschaft“, wie die Keimzelle der heutigen Finanzstabilität damals hiess. Und mit Dank an Simon Schmid.

Die verheiratete berufstätige Frau in der Schweiz

Monika Bütler

Heute habe ich bei der Aufbereitung der Publikationsgeschichte der Schweizerischen Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik – mit 152 Erscheinungsjahren gehört sie immerhin weltweit zu den ältesten Fachzeitschriften der Volkswirtschaftslehre – eine wahre Trouvaille entdeckt.

In der 1949 Ausgabe der Zeitschrift verfasste Dr. Albert Koller, Direktor des Eidgenössischen Statistischen Amts von 1946 bis 1957, einen Aufsatz zur schwindenden Bedeutung der verheirateten Frau im schweizerischen Berufsleben. Aus der Sicht von Koller war dies eine „wichtige, wenn auch wenig beachtete soziale Errungenschaft des letzten halben Jahrhunderts“. Während um 1900 war noch ungefähr jede fünfte nichtledige Frau berufstätig war, so sank dieser Anteil bis ins Jahr 1941 auf einen Achtel. Ziemlich bemerkenswert, gab es doch damals noch keine (für Witwen wichtige) AHV.

Die Zahlen sind spannend – die Interpretation durch Herrn Koller ebenfalls. Es lassen sich wenig überraschende Aussagen finden wie „Bildet die Ausübung eines Berufes für den Mann die Voraussetzung fur die Gründung einer Familie, so bedeutet bei den Frauen die Heirat im allgemeinen den Abschluss der beruflichen Karriere“. Oder aber Versuche, die Daten zur Untermauerung von statistischen Hypothesen heranzuziehen.

So fragt sich der Autor zum Beispiel, ob der Geburtenrückgang (!) mit der Berufstätigkeit der Frauen zusammenhängen könnte. Seine Methode – der Berechnung der Korrelation der Kinderzahl einer Frau mit ihrem Arbeitsmarktstatus – erfüllt die Kriterien einer modernen Ursache-Wirkungskette allerdings nicht ganz.

Der Text schliesst mit einem frommen Wunsch: „Die familienstatistischen Ergebnisse weisen den Weg für die künftige Sozialpolitik zugunsten der verheirateten berufstätigen Frau. Das Ziel erblicken wir in einer weiteren Abnahme der Zahl jener Ehefrauen, denen es aus wirtschaftlichen Gründen nicht vergönnt ist, die ganze Arbeitskraft ihrem Haushalt und ihrer Familie zu widmen oder dann wenigstens in einer Erleichterung der beruflichen Pflichten dieser Frauen und Mütter.“

Geldreform — Weltreform

Urs Birchler

Hier ein Veranstaltungshinweis in eigener Sache:


Abschiedsvorlesung von

Prof. Dr. Urs Birchler
Professor of Banking am Institut für Banking und Finance.

„Geldreform — Weltreform“

Das Geldwesen ist aus den Fugen, Reformvorschläge blühen. Freigeld, Vollgeld, Bit-Geld, Negativzins, Bargeldverbot: Was gestern als Wahn erschien, ist heute Wirklichkeit — und umgekehrt. Ein Blick durch’s monetäre Kaleidoskop in die Zukunft…

Dienstag, 24. Mai 2016, 18.30
Universität Zürich, Aula KOL-G-201, Rämistrasse 71, 8006 Zürich (Lageplan)


Die Mühen von Ecopop mit Hong Kong und Singapur

Monika Bütler

Die Schweiz soll nicht wie Hong Kong oder Singapur werden. Ein griffiger und einleuchtender Slogan der Ecopop Befürworter. Nur leider falsch.

Natürlich möchten die meisten von uns (mich eingeschlossen) lieber in der Schweiz als in Hong Kong  leben. Nur ist der Vergleich der beiden asiatischen Städte mit der Schweiz unfair und berücksichtigt weder die Geschichte noch das wirtschaftliche, geopolitische und klimatische Umfeld der unterschiedlichen Gegenden. Das richtige Gegenstück im Vergleich mit Hong Kong oder Singapur wäre Hong Kong/Singapur ohne „Dichtestress“. Ein einfacher Blick über die Grenzen der beiden Städte zeigt: Die Wahl ist eben nicht zwischen 15 Quadratmetern/Person im Dichtestress und plus minus gleichem Lebensstandard auf 45 Quadratmetern/Person ohne Dichte. Sondern

  • zwischen 15 Quadratmetern/Person in guten hygienischen und relativ umweltfreundlichen Verhältnissen, mit Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln, Arbeitsstellen und guten Schulen, welche den Kindern die Tür zur Welt offen halten.
  • und 15 Quadratmetern/Person in prekären Behausungen ohne ÖV, ohne adäquate Arbeitsplätze mit beschränkter medizinischer Versorgung und qualitativ schlechten Schulen. Und ja: mit Dreck und Umweltbelastungen.

Kein Bewohner Singapurs würde mit einem Bewohner ännet der Johor Strait tauschen wollen. Umgekehrt hingegen schon.

Da ich Singapur viel besser kenne, hier etwas Hintergrund zu Singapur. Nach der Unabhängigkeit Singapurs von Grossbritannien schloss sich die Stadt nach dem 1962 Merger Referendum der Federation of Malaya an (im Wesentlichen Malaysia, Sarawak und Nord Borneo). Die Gründe: Grösse des Landes, Knappheit an Wasser, Land und natürlichen Ressourcen. Die zwei Jahre in Union mit Malaysia waren allerdings geprägt von Auseinandersetzungen und Meinungsverschiedenheiten. So wollte Singapur eine Gleichbehandlung aller Rassen, Sprachen und Religionen, was vom Rest der Federation abgelehnt wurde. 1965 wurde Singapur aus der Federation geworfen, ohne in der Frage überhaupt angehört zu werden.

Interessanterweise wurde Singapur ein Stadtstaat contre coeur. Das heutige Singapur ist somit eine Antwort auf die Herausforderungen, welche dem neuen Staat mit dem knappen Land und der Abwesenheit von natürlichen Ressourcen erwuchsen. Wie auch die Schweiz setzte Singapur in der Folge auf eine wirtschaftliche Entwicklung, die auf Unternehmertum, technologischem Fortschritt und Ausbildung basierte. Und auf eine gewisse Einwanderung, welche den Fortschritt erst ermöglichte. Singapur hat heute eine durchaus restriktive Einwanderungspolitik; diese berücksichtigt jedoch die Bedürfnisse der Bevölkerung insbesondere nach Arbeitskräften, die im Lande selber fehlen. Mit einer Abschottung wäre der Vorsprung Singapurs gegenüber seinen Nachbarn schnell weg. Immigration ist eben nicht nur Folge der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern auch teilweise deren Ursache.

So unterschiedlich Hong Kong oder Singapur und die Schweiz auch sein mögen. Auch bei uns muss der breite Wohlstand in den ländlichen Gegenden zuerst erwirtschaftet werden. In den viel dichter bevölkerten Städten nämlich oder den nicht so idyllischen Industriezonen. Die Umsetzung eines weiteren Slogans der Ecopop Befürworter – die Arbeitsplätze zu den Bewohnern bringen und nicht umgekehrt – würde nie und nimmer die Wertschöpfung bringen, die nötig wäre, um unseren Lebensstandard zu halten.

PS: Die momentane Popularität von Ecopop hat allerdings nicht viel mit deren Argumenten zu tun als viel mehr dem Schweigen und der Untätigkeit der Politik in den Diskussionen um die Folgen Personenfreizügigkeit (siehe meinen früheren Beitrag). Niemand erklärte den besorgten Bürgern, woher die (nicht so zahlreichen) Ausländer kommen, die wirklich Probleme machen (nämlich mehrheitlich nicht aus der EU). Auf griffige – auch während der Personenfreizügigkeit mögliche – Massnahmen gegen eine Einwanderung in den Sozialstaat (Rückführungen, Einschränkungen des Familiennachzuges, Straffung des Asylwesens) wurde verzichtet. Und wir warten bis heute auf eine vernünftige Einwanderungspolitik für Bürger aus Drittstaaten. Statt den Zug sanft zu bremsen, schielte die Politik viel zu lange auf die Notbremse (in Form der Ventilklausel). Die Notbremse zogen am 9. Februar andere. Im Tunnel.

 

Wir, die AHV

Monika Bütler

(Zu Weihnachten eine kleine Liebeserklärung an die AHV, publiziert im Bulletin der Credit Suisse, 18. Dezember 2013)

Als meine Grossmutter, im Krieg mit drei kleinen Kindern verwitwet, 1948 das erste Mal eine bescheidene AHV Rente erhielt, weinte sie vor Erleichterung und Dankbarkeit. Dabei waren die rund 35 Franken pro Monat selbst für damalige Verhältnisse wenig, gerade einmal 7% des Medianeinkommens. Trotz Unterstützung ihrer Kinder lebte sie auch später in ärmlichen Verhältnissen, in einer kleinen dunklen Wohnung ohne richtige Heizung. Dennoch blieb sie zeit ihres Lebens sehr dankbar über ihre AHV Rente.

65 Jahre später: Die Schweizer Illustrierte portraitiert den „coolsten Rentner der Schweiz“, das frühere Ski-Idol Bernhard Russi, mit Jahrgang 1948 gleich alt wie die AHV. Zwischen meiner Grossmutter (die mit 66 Jahren als gebrechliche Frau starb) und dem topfitten Neurentner Russi liegen Welten. Auch zwischen der AHV von 1948 und der AHV von 2013 liegen Welten. Die Leistungen sind gemessen am Durchschnittslohn mehr als zweieinhalb mal höher als früher, sie wurden ergänzt durch eine obligatorische berufliche Vorsorge und Ergänzungsleistungen. Seit der Einführung der AHV ist die verbleibende Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren um rund acht Jahre gestiegen – meist beschwerdefreie Jahre notabene. Den heutigen «Alten» geht es heute im Durchschnitt nicht nur finanziell viel besser als früher; sie sind auch gesünder und fühlen sich jünger. Nur zwei Sachen blieben unverändert: das AHV-Rentenalter liegt unverrückbar bei 65 Jahren – wie 1948. Und die AHV ist noch immer Teil der schweizerischen Identität.

Allerdings sind da auch noch die negativen Prognosen über die künftige Entwicklung der AHV. Selbst politische Kreise, die noch vor wenigen Jahren jede Finanzierungslücke der AHV bestritten haben, müssen inzwischen eingestehen, dass sich ohne Gegenmassnahmen bald ein grosses Loch in der Versicherungskasse auftut.

Die drohende Finanzierungskrise hat der Popularität der AHV noch keinen Abbruch getan. Kaum eine schweizerische Institution ist so beliebt und in allen Bevölkerungskreisen so stark verankert wie die AHV. Die AHV ist eine Erfolgsgeschichte: In relativ kurzer Zeit konnte damit die Armut im Alter praktisch ausgemerzt werden. Dies gilt insbesondere für die Witwenarmut, die selbst in Ländern wie den USA noch immer beobachtet werden kann. Die Versicherung verursachte seit ihrer Einführung keine Skandale. Sie arbeitet schnell, transparent und mit ausgesprochen tiefen Verwaltungskosten.

Die AHV, das sind wir. Das Geheimnis dieser Liebesbeziehung? Fast alle Einwohner der Schweiz tragen zur Finanzierung der AHV bei, fast alle profitieren einmal davon. Man muss – im Gegensatz zur IV – nicht streiten, ob jemand eine Rente beziehen darf. Das Alter kann zweifelsfrei und mit geringen Kosten festgestellt werden kann. «Scheinalte» gibt es nicht.

Die Stellung der AHV ist im internationalen Vergleich einzigartig.  Ihr Kürzel steht längst nicht nur für die Versicherung im Alter und beim Tod des Ernährers; es ist mittlerweile Synonym für Menschen ab 65. Während in anderen Ländern Senioren, „best agers“ oder „silver agers“ Rabatte gewährt werden, heisst es in der Schweiz beim Eingang ins Schwimmbad oder ins Museum schlicht und einfach: „Eintritt Erwachsene, Kinder & AHV…“. Sind die Züge an schönen Tagen voll, stöhnen die Pendler „die AHV ist unterwegs“, die wohl weltweit einzige reisende Sozialversicherung. Und unter den Ärger über fröhlich jassende Senioren mischt sich wohl auch etwas Neid.

Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ausgerechnet eine Sozialversicherung so sehr zum Selbstbild der Schweiz gehört. Eine erste Vorlage zu einem AHV-Gesetz scheiterte nämlich 1931 in der Referendumsabstimmung: an der prekären Wirtschaftslage, konservativen Wirtschaftskreisen, den Jungen für die die Beiträge zu hoch waren, den Pensionskassen, die fürchteten vom Gesetz übergangen zu werden und den Kommunisten, denen die Leistungen zu bescheiden waren. Besonders interessant dabei: Bereits damals tat sich ein Röstigraben – ebenfalls schon fast ein Teil unserer Identität – auf, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Vorlage von 1931 traf nicht nur auf den Widerstand konservativer Landkantone sondern auch auf die Ablehnung welscher Kantone. In der Waadt erhielt der Vorschlag mit 24% Ja etwa gleich wenig Zustimmung wie in der Innerschweiz. (In Klammern bemerkt: Ausgerechnet der fosse du rösti, welcher heute für grosse Differenzen in Fragen zur Sozialpolitik steht, zeigt, dass die vermeintlichen Gräben vielleicht eher identitätsstiftende Folklore sind als Scheidungsgründe).

Dass die Identifikation mit der AHV so gross ist hat vielleicht mit einem weiteren Teil der schweizerischen Identität zu tun, der direkten Demokratie. Institutionen wie die Alterssicherung werden eben gerade nicht auf dem Reissbrett entworfen, sondern im politischen Prozess. Das Volk verfügt durch die direkte Demokratie sozusagen über ein Einzelpostenvetorecht, ein so genanntes «line item veto». Es ist gar nicht möglich, dem schweizerischen Souverän eine Reform der Alterssicherung als Teil eines Gesamtpaketes unterzujubeln. Jeder Bürger, jede Bürgerin ist gezwungen sich mit der Materie auseinanderzusetzen. Herausgekommen ist im Falle der AHV eine einfache und übersichtliche Lösung gegen Alters- und Witwenarmut. Es gibt im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern keine Sonderlösungen für Beamte und andere Bevölkerungsgruppen. So bleibt die Versicherung auch anpassungsfähig und schlank.

Von Partikularinteressen blieb die AHV dennoch nicht verschont. Beispiel: Die Änderungen im Rentenalter der Frauen durch die damals ausschliesslich männlichen, mehrheitlich mittelalterlichen und verheirateten Bundesparlamentier. Die Senkung des anfänglich ebenfalls auf 65 Jahre festgelegten Frauenrentenalters auf 62 Jahre wurde nicht nur mit der Existenzsicherung (Frauen haben tiefere Löhne) begründet, sondern auch damit, dass die Männer und ihre im Durchschnitt drei Jahre jüngeren Ehefrauen gemeinsam in Pension sollten gehen können.

Die hohe Verankerung in der Bevölkerung hat auch Nachteile: Sie hemmt notwendige Reformen, wenn aus lauter Liebe ungünstige demographische und wirtschaftliche Entwicklungen ausgeblendet werden. An Warnungen über drohende finanzielle Ungleichgewichte aufgrund der demographischen Entwicklung fehlte es nämlich nie; die SNB schrieb bereits 1957 von einer «zunehmenden Überalterung».  Nur wenn es gelingt, die an sich erfreuliche Zunahme der Lebenserwartung in der AHV zu berücksichtigen, bleibt die Versicherung auch in der Zukunft in weiten Kreisen der Bevölkerung verankert und beliebt.

Die AHV als Teil der schweizerischen Identität wackelt nämlich. Im Sorgenbarometer liegen die Probleme der Alterssicherung an dritter Stelle mit 29% Nennungen. Auf die Probe gestellt wird die Beziehung allerdings nicht nur durch das finanzielle Ungleichgewicht, sondern auch durch einen immer engeren Blick auf die eigenen Vorteile. So zeigt das Sorgenbarometer, dass in der Beurteilung der staatlichen Leistungen zwischen Innen- und Aussensicht eine beträchtliche Lücke klafft. 65% der Befragten geben zwar an, selber zu wenig vom Staat zu erhalten, doch sind nur 39% dieser Meinung, wenn es um die anderen geht; für 51% tut der Staat im Allgemeinen zu viel. Die Diskussion um die vermeintliche Heiratsstrafe in der AHV geht in dieselbe Richtung. Die bevorzugte Behandlung der Ehepaare wären der Beitragsphase wird dabei geflissentlich ausgeblendet.

Die Solidarität zwischen den Einkommensgruppen in den AHV ist riesig. Viele Erwerbstätige zahlen ein Vielfaches dessen ein, was sie später an Rente beziehen. Bei einem Einkommen von 500‘000 Franken werden der AHV, inklusive Arbeitgeberbeiträge, circa 42‘000 Franken pro Jahr geschuldet. Drei Viertel davon – also eine ganze maximale AHV Jahresrente – reine Steuern, die keinerlei Einfluss auf die Rentenhöhe haben.  Dass die Grossverdiener bis heute der AHV die Stange halten, ist nicht selbstverständlich. Dies könnte sich ändern, wenn von denen, die ohnehin schon sehr viel beitragen, noch mehr einfordert wird. Schon heute haben internationale Konzerne Mühe, ihren ausländischen Spitzenkräften zu erklären, weshalb sie auch auf dem nicht rentenbildenden Einkommen AHV Beiträge zu entrichten haben. Immerhin: Die Umverteilungsvorlagen 2013 brachten diese auch international aussergewöhnlich starke Solidarität wieder stärker ins Bewusstsein: Die Angst vor wegbrechenden AHV Einnahmen beunruhigt die Stimmbürger mehr – und ist demzufolge eher zu vermitteln – als negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Wie sagte doch der verstorbene Bundesrat Tschudi: „Die Reichen brauchen die AHV nicht, aber die AHV braucht die Reichen.“

Trotz aller – auch selbstgeäusserter – Kritik bleibt die AHV auch für die schreibende Wissenschaftlerin ein integraler Teil des schweizerischen Erfolgsmodells. Nicht nur weil mir die Dankbarkeit meiner Grossmutter für immer im Gedächtnis eingraviert ist.

Die moralisch-analytische Damenhandtasche

Urs Birchler

Durch einen Tweet von Alice Kohli June 18, 2013 stiess ich auf einen Artikel im Tages-Anzeiger über das Kleinkredit-Inserat mit der Handtasche.

HandtascheOriginal

Das Inserat kam mir bekannt vor, hatte ich es doch letzten Herbst im Kurs History of Economics and Banking verwendet — siehe Folie unten. Der Hintergrund: Das (von allen monotheistischen Religionen getragene) mittelalterliche Wucher(=Zins)-Verbot hatte für die ökonomische Analyse ein Gutes: Die Kirche musste den Beichtvätern Richtlinien geben, wann Zinsnehmen besonders verwerflich und wann es vielleicht entschuldbar war. Dies zwang zu Fragen wie: Warum ist jemand bereit, Zins zu zahlen? Warum leiht niemand Geld aus, ohne Entschädigung? Mein pädagogischer Hintergedanke: Je mehr jemand über solche Fragen nachdenkt, desto weniger wird er vorschnell moralisieren.

Ich hielt mich bezüglich Wucherverbot für abgeklärt — aber dann: die Schulden-Werbung mit der Handtasche. Die warf mich in Sekundenbruchteilen zurück ins innere Mittelalter: Durch die Blutbahn rauschte Moralin. „Das darf doch nicht wahr sein!“ war noch mein züchtigster Gedanke. Nur geht’s mir jetzt nicht besser als den Beichtvätern. Vielleicht ist es nicht immer gleich schlimm, jemanden zu einem Kredit zu verführen. Studienkredit zum Beispiel. Vielleicht sind auch wohlakzeptierte Kredite wie Hypotheken manchmal heikel. So zwingt uns die Moral stets zum Nachdenken und zur ökonomischen Analyse.

Die erwähnte Vorlesung ist meine Reaktion auf die oft unbefriedigende Diskussion über Ethik in der Wirtschaft. Die Studenten sollen verstehen, wie sich im Lauf der Geschichte ethische und analytische Fragen wie Wirt und Parasit gemeinsam entwickelt haben. Damit wir einander nicht die moralischen Handtaschen um die Ohren hauen müssen. [Die Vorlesung im kommenden Herbstsemester ist ausgebucht.]

Handtasche

[Der Titel diese Beitrags ist eine Widmung an Pipilotti Rist und ihren Vortrag von 1993 an der ETH zum Thema Die audiovisuelle Damenhandtasche]

Geld: Wunder oder Bluff?

Urs Birchler

Sind Sie zufällig Notenbankgouverneur und wissen schon alles über’s Geld?
Oder sind sie blutiger Laie und haben schon fast resigniert?

Egal — ich wette, dass Sie staunen werden.

BamakoUm Sie ein bisschen auf die Folter zu spannen: Ich wollte ja eigentlich nur eine internationale Uno-Schutztruppe ins Leben rufen zum Schutz einer besonderen Sehenswürdigkeit. In Bamako, Mali, einem Ort, der gegenwärtig von Kriegswirren heimgesucht wird, steht nämlich ein eiffelturmartiges Denkmal (siehe Bild). An der Kinderuni liess ich die Zuhörer(innen) raten: Gilt das Denkmal (a) einem Baseball, (b) der Kaffeebohne, (c) einer Weltwährung? Batz-Leser(innen) tippen sofort richtig auf (c), genauer auf die Kauri-Schnecke (Cypraea Moneta) die erste und vor allem in Asien und Afrika weit und bis spät verbreitete Weltwährung. An ihre bewegte Geschichte erinnern die Banknoten der Malediven und eben das Denkmal in Bamako — und ein Video, auf das ich über einen (Anti-)Sklaverei-Blog gekommen bin.

Ich hoffe, ich habe nicht zuviel versprochen: Wer sich das Video anschaut, versteht plötzlich alles über das Geld oder nichts mehr, oder beides. Viel Spass!
WivesCowries