Die moralisch-analytische Damenhandtasche

Urs Birchler

Durch einen Tweet von Alice Kohli June 18, 2013 stiess ich auf einen Artikel im Tages-Anzeiger über das Kleinkredit-Inserat mit der Handtasche.

HandtascheOriginal

Das Inserat kam mir bekannt vor, hatte ich es doch letzten Herbst im Kurs History of Economics and Banking verwendet — siehe Folie unten. Der Hintergrund: Das (von allen monotheistischen Religionen getragene) mittelalterliche Wucher(=Zins)-Verbot hatte für die ökonomische Analyse ein Gutes: Die Kirche musste den Beichtvätern Richtlinien geben, wann Zinsnehmen besonders verwerflich und wann es vielleicht entschuldbar war. Dies zwang zu Fragen wie: Warum ist jemand bereit, Zins zu zahlen? Warum leiht niemand Geld aus, ohne Entschädigung? Mein pädagogischer Hintergedanke: Je mehr jemand über solche Fragen nachdenkt, desto weniger wird er vorschnell moralisieren.

Ich hielt mich bezüglich Wucherverbot für abgeklärt — aber dann: die Schulden-Werbung mit der Handtasche. Die warf mich in Sekundenbruchteilen zurück ins innere Mittelalter: Durch die Blutbahn rauschte Moralin. „Das darf doch nicht wahr sein!“ war noch mein züchtigster Gedanke. Nur geht’s mir jetzt nicht besser als den Beichtvätern. Vielleicht ist es nicht immer gleich schlimm, jemanden zu einem Kredit zu verführen. Studienkredit zum Beispiel. Vielleicht sind auch wohlakzeptierte Kredite wie Hypotheken manchmal heikel. So zwingt uns die Moral stets zum Nachdenken und zur ökonomischen Analyse.

Die erwähnte Vorlesung ist meine Reaktion auf die oft unbefriedigende Diskussion über Ethik in der Wirtschaft. Die Studenten sollen verstehen, wie sich im Lauf der Geschichte ethische und analytische Fragen wie Wirt und Parasit gemeinsam entwickelt haben. Damit wir einander nicht die moralischen Handtaschen um die Ohren hauen müssen. [Die Vorlesung im kommenden Herbstsemester ist ausgebucht.]

Handtasche

[Der Titel diese Beitrags ist eine Widmung an Pipilotti Rist und ihren Vortrag von 1993 an der ETH zum Thema Die audiovisuelle Damenhandtasche]

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