Nun jammern sie wieder – Die Geberkantone und der Finanzausgleich

Von Gebhard Kirchgässner

Ende 2015 läuft die zweite Periode des neuen interkantonalen Finanzausgleichs aus. Daher muss das Parlament neu entscheiden, und es fragt sich, ob an der Struktur des Finanzausgleichs etwas geändert werden soll. Die Geberkantone, allen voran Schwyz und Zug, verlangen zum einen, dass ihre Zahlungen begrenzt werden sollen, und zweitens sollen jene Kantone, die Mittel aus dem Finanzausgleich erhalten, bestraft werden, wenn sie die Geberkantone mit niedrigeren Steuersätzen unterbieten. (siehe NFA-Geberkantone 2014, S.7)

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BR Schneider-Ammanns fromme Wünsche

Wer batz.ch regelmässig liest, weiss: Bundesrat Schneider-Ammanns Wünsche zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie nach der Annahme der MEI sind hochwillkommen. Wir haben uns vermehrt zu den negativen Arbeitsanreizen des schweizerischen Steuer- und Subventionssystems geäussert, zuletzt unmittelbar nach der Abstimmung vom 9. Februar hier. Wenn die Zweitverdienerin effektiv fast das gesamte zusätzliche Einkommen in Form von Steuern und Betreuungskosten abgeben muss, die Schulstruktur keine geregelte (Teil-)Zeitarbeit zulässt, so ist es nicht verwunderlich, dass die Beschäftigung der Frauen in der Schweiz gemessen in Vollzeitäquivalenten relativ tief ist. Siehe dazu unsere Beiträge: Wie der Schweizer Mittelstand vom Arbeiten abgehalten wird, Familienartikel: Umbau der antiquierten Schulstruktur!, Kinderkrippen helfen gegen Lohnungerechtigkeit, und viele mehr.

Nur: Blauäugig ist, wer von den Massnahmen – selbst wenn sie sofort umgesetzt werden könnten – eine schnelle Wirkung erwartet. Die meisten Familien haben angesichts des heute vorherrschenden Schul- und Betreuungsangebot geplant. Will heissen: viele Frauen haben bewusst Berufe gewählt, die eine relativ geringe Teilzeitarbeit zulassen. Darunter hat es Ärztinnen und vielleicht sogar die eine oder andere Ingenieurin. Aber für viele der „stillgelegten“ Fähigkeiten dürfte sich die Nachfrage in Grenzen halten. Um es etwas böse auszudrücken: Aus den nun wenig beschäftigten Kunsthistorikerinnen werden nicht über Nacht Hausärztinnen, aus den Ethnologinnen keine Informatikerinnen.

Die Ursache für die hohe Nachfrage nach ausländischen Fachkräften liegt eben nicht nur in der Unterbeschäftigung von Frauen, sondern auch in der schweizerischen Bildungslandschaft. Heute sind 60% und mehr der Schüler(innen) an den Mittelschulen weiblich. Problematisch ist selbstverständlich nicht der hohe Anteil Mädchen, sondern die Tatsache, dass wir vielen intelligenten aber eher technisch-naturwissenschaftlichen Kindern die Schule vermiesen und ihnen teilweise den Weg zu einer Universitätsausbildung verbauen. Darunter sehr viele Buben, aber auch Migrantenkinder, die sich mit dem Überhang an sprachlichen Fächern und der Wichtigkeit (schwierig beurteilbarer) soft skills schwer tun. So sehr ich den dualen Bildungsweg für eine grosse Stärke des schweizerischen Ausbildungssystems halte: Chirurgen und Physiker gibt es kaum über diesen Weg. Diese Leute, die wir eventuell selber hätten ausbilden können, importieren wir später aus dem Ausland.

Um Missverständnisse auszuräumen: Ich begrüsse die angekündigten Massnahmen selbstverständlich. Die Unterbeschäftigung der Frauen in der Schweiz ist sehr teuer. Der sogenannte Gender Employment Gap – der Unterschied in Vollzeitäquivalenten zwischen Männern und Frauen – beträgt rund 40%, gleich hoch wie in der Türkei und deutlich höher als der OECD Durchschnitt von 30%. Gelänge es, diesen Gender Employment Gap nur schon auf den OECD Durchschnitt zu senken, könnten wir uns ein ganzes Jahr Erhöhung des Rentenalters eigenfinanzieren – für Mann und Frau, notabene.

 

Steuer-Salat

Urs Birchler

Letzte Woche traf ich eine Kollegin in einem populären vegetarischen Restaurant Nähe Bundeshaus Bern. Bei der Selbstbedienung am Buffet hat der Kunde als erstes die Wahl zwischen Teller und Plasticschachtel. Konservativ wähle ich ersteren. Ein paar Tische weiter hat sich ein Gast für Plastic entschieden, gerät aber darob in eine Diskussion mit dem Personal. Die nehmen’s aber ernst mit dem Stil, denke ich zuerst, aber Irrtum: Est geht nicht um Stil, sondern um Steuer. Der Teller ist für’s Essen im Restaurant oder an den Tischen draussen (MWSt-Satz: 8%). Der Plastic ist für’s Take-Away (MWSt-Satz: 2.5%).

Der Wirt ist auch Steuereintreiber. Meine Bekannte, Juristin, klärt mich auf: Liesse er die Gäste im Restaurant aus der Plastic-Schachtel speisen, so würde er sich der Steuerhinterziehung schuldig machen. Das Beispiel zeigt: Mit jeder Differenzierung entstehen versteckte Kosten wie im vorliegenden Fall eine Verstimmung des Gastes durch einen bloss ehrlichen Wirt.

Am einfachsten wäre also wohl der Einheitssteuersatz — alles zu 8%. Aber einfach ist nichts. Auch bei einem Einheitssteuersatz lauert im Hintergrund der Satz von null: Was ist überhaupt eine steuerpflichtige Leistung? Die Betreuung alleinreisender Kinder im Flughafengebäude? (JA). Der Vertrieb von Anteilen an kollektiven Kapitalanlagen, die unter schweizerischem Recht stehen? (NEIN, grob gesagt). Das volle Salatbuffet findet sich auf der MWSt-Seite der Eidg. Steuerverwaltung (die auch nichts dafür kann). Servez-vous!

Barbezug des PK Vermögens? Teil 2

Monika Bütler

Schon seit mehr als 10 Jahren beschäftige ich mich mit der Wahl zwischen Rente und Kapital (aus der beruflichen Vorsorge) bei der Pensionierung. Diese individuelle Entscheidung ist auch aus wissenschaftlicher Sicht interessant. Erstens handelt es sich – neben Partnerwahl, Familienplanung und Hauskauf – um eine der grössten wirtschaftlichen Entscheidungen im Leben. Immerhin geht es in der Schweiz im Durchschnitt um einen Betrag von rund 400‘000 Franken. Zweitens spielen sowohl „rationale“ wie auch psychologische Faktoren eine Rolle bei der Wahl. Zu den psychologischen Faktoren gehören „framing“ (wie wird die Wahl zwischen Kapital und Rente dargestellt – framed eben), „peer effects“ (man orientiert sich an Kollegen) oder „default“ (man nimmt die Standardoption, die einem präsentiert wird).

Zu den ökonomisch rationalen Gründen für Kapital oder Rente gehören die Berücksichtigung von Lebenserwartung, Familiensituation, Investitionsmöglichkeiten, Steuern, der Umwandlungssatz oder – lange Zeit vergessen – andere Sozialversicherungen, die einen im Notfall auffangen können. Ergänzungsleistungen (EL) zum Beispiel. Schon sehr lange habe ich auf die Gefahr hingewiesen, dass die EL zum Kapitalbezug verleiten könnten. Weil eben diese staatlichen Gelder die Lücke füllen zum Existenzminimum, wenn die PK Gelder aufgebraucht sind. Ganz lange wollte niemand etwas davon wissen – und nun plötzlich alle.

Die Versuchung ist durchaus real: Wer monatlich 2000 Franken AHV bezieht und 1000 Franken aus der BV kann sich deutlich besser stellen, wenn er das Kapital bezieht (in diesem Falle etwas 175‘000 Franken), es langsam oder schneller aufbraucht und später die Lücke mit EL deckt. Mit den EL kommt er nämlich ebenfalls auf 3000 Franken pro Monat. Niemandem sei hier bösartiges Verhalten unterstellt. Selbst wenn jemand sehr vorsichtig plant, ist die Chance gross im fortgeschrittenen Alter auf EL angewiesen zu sein.

Nun schlägt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) angesichts der stark ansteigenden EL Kosten Alarm und möchte den Kapitalbezug einschränken. Der Pensionskassenverband ASIP hingegen sieht keinen Beweis dafür, dass Barbezüge des Pensionskassenkapitals ursächlich für den Anstieg der EL Kosten verantwortlich seien. Wer hat nun recht?

Zuerst einmal eine Warnung: Es wird kaum je möglich sein, ökonometrisch sauber die Ursachen-Wirkungskette zwischen Barbezug und EL Leistungen zu beweisen. Vergleiche zwischen Pensionskassen mit unterschiedlichen Optionen und oder über die Zeit wären wohl möglich (seeeeehr langfristig), wären aber ebenfalls nicht 100% zuverlässig, die Kausalkette zu identifizieren.

Wir, Kim Peijnenburg, Stefan Staubli und ich, haben daher einen anderen Zugang zu einer möglichen Erklärung zwischen EL und Kapitalbezug versucht: Für rund 30‘000 Individuen haben wir die getroffenen Entscheidungen zwischen Rente und Kapital verglichen mit den „optimalen“ Entscheidungen eines Simulationsmodells mit und ohne EL. Bei diesem handelt es sich um ein sogenanntes Lebenszyklusmodell, welches den optimalen Konsum- und Sparplan eines Individuums ausrechnet mit und ohne Kapitalbezug, mit und ohne EL. Die optimale Entscheidung ist dann diejenige Option – Kapital oder Rente –, welche dem Individuum den grösseren Nutzen bringt. Wobei der Nutzen nicht einfach Geld ist (dann wäre es fast immer optimal, das Kapital zu wählen), sondern auch einen möglichst gleichmässigen Konsum in der Rentenphase. Also beispielsweise die Vermeidung eines Konsumeinbruchs im hohen Alter.

Wir finden, dass die von uns auf Grund des Modells prognostizierten individuellen Entscheidungen im Durchschnitt sehr gut mit den beobachten Werten übereinstimmen (in der untenstehenden Graphik markiert als „data, non-parametric regression). Aber nur, wenn die EL mitberücksichtig werden („simulation with MTB“, wobei MTB = means tested benefits = EL). Falls die Individuen keinen Zugang zu EL hätten, würden sie ihr Kapital viel häufiger verrenten und höchstens einen kleinen Teil des Kapitals in bar beziehen („simulation without MTB“). Je grösser das angesparte Kapital  bei der Pensionierung, desto weniger sind die EL für die individuellen Entscheidungen relevant und desto eher wird die Rente gewählt. Das gilt im Simulationsmodell wie auch bei den Beobachtungen. Natürlich ist das kein eigentlicher Beweis. Nur bin ich gespannt auf alternative Erklärungen. Kim, Stefan und ich haben vieles probiert, und nichts gefunden.Bild1Die EL als Rückversicherung sind teuer. So fallen bei einem angesparten PK Vermögen von 300‘000 Franken (aber ohne sonstiges Privatvermögen) im Durchschnitt rund 77‘000 Franken EL an, im Falle einer Barauszahlung, aber nur 3000 Franken im Falle einer Verrentung des Kapitals. Die Pflegekosten sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Natürlich würde eine BVG Rente von 1700 Franken pro Monat (dies entspricht der Rente aus 300‘000 Franken PK Kapital), nicht zur Finanzierung der Pflege reichen. EL müsste diese Person so oder so haben. Bei einer zweijährigen Pflegezeit muss der Staat im Falle einer Kapitalauszahlung rund 40‘000 mehr berappen als bei einem Rentenbezug.

Auf den ersten Blick scheint die Sache somit klar: Der Kapitalbezug müsste verboten werden, mindestens so, dass mit der Rente der durch die EL gedeckte Existenzbedarf gedeckt wird. Allerdings leiden darunter eher die weniger vermögenden Versicherten und diejenigen mit einer kürzeren Lebenserwartung. Es gibt auch sanftere Wege, die EL Leistungen aufgrund des Kapitalbezugs zu reduzieren. Zum Beispiel durch einen erschwerten Zugang zu EL. Heute werden 37‘500 Franken Freibetrag beim Bezug von EL, auch das darüber hinausgehende Vermögen wird nur zu 1/10 (im Heim: 1/5) zum Einkommen gerechnet. Würden diese Freibeträge deutlich gesenkt – zum Beispiel auf die Vermögens Freibeträge bei Sozialleistungen, müsste der Staat erst später mit EL einspringen. Wir haben zudem berechnet, dass strengere Zugangsbedingungen für EL einige Individuen dazu bringen könnten, sich die Leistungen der PK doch als Rente auszubezahlen. Was die EL Kosten weiter senken würde.

 

Barbezug des PK Vermögens? Teil 1

Monika Bütler

Schon seit vielen Jahren beschäftige ich mich mit den möglichen Auswirkungen eines Barbezugs der angesparten Kapitals bei der Pensionierung (Nein, es geht hier nicht um den Vorbezug zum Erwerb von Wohneigentum). Meine bereits vor 10 Jahren geäusserten (und durch unsere wissenschaftliche Untersuchungen gestützte)Befürchtungen, dass der Barbezug zu erhöhten Ausgaben in der EL führen könnte, ist nun auch in der politischen Diskussion angekommen. Zeit, das Ganze etwas zu beleuchten.

Zu Beginn eine Warnung: Es ist unheimlich schwierig, eindeutig zu beweisen,  dass jemand wegen der Möglichkeit der EL seine PK Gelder in bar bezieht. Oder dass der Barbezug der PK Gelder eine wichtige Ursache für den starken Anstieg der EL in den letzten Jahren ist. Unsere Untersuchungen zeigen aber immerhin, dass ein Teil des Barbezugs der PK Gelder mit der Erklärung „EL als Rückversicherung“ kompatibel ist. Dazu mein nächster Beitrag (hoffentlich morgen, wer sich nicht gedulden kann, muss das wissenschaftliche Papier lesen). Heute einfach ein paar Grundlagen (gekürzter und bearbeiteter Auszug aus unserer Studie zu EL für Avenir Suisse).

Ein Arbeitnehmer ohne Vermögen und kurz vor der Pensionierung erwartet eine AHV Rente von 2‘000 Franken pro Monat. Er hat 400’000 Franken in der Pensionskasse. Dies entspricht bei einer vollständigen Verrentung des Kapitals rund 27’000 Franken pro Jahr. Wählt er diese Option, hat er ein Renteneinkommen von rund 4‘200 Franken pro Monat. Er wird Ergänzungsleistungen erst dann beantragen müssen, wenn er aussergewöhnlich hohe Pflegekosten im hohen Alter zu begleichen hat.

Er hat jedoch noch eine andere Option. Beispielsweise kann er sich das Kapital auszahlen lassen und den Kindern überschreiben. Das ihm verbleibende Einkommen liegt nun deutlich unter den für die Ergänzungsleistungen massgeblichen Einkünften. Anrecht auf Ergänzungsleistungen hat er dennoch nicht, denn das verschenkte Kapital wird ihm als fiktives Einkommen angerechnet.

Hätte der Versicherte hingegen dasselbe Kapital für sich selbst ausgegeben – beispielsweise für eine Weltreise oder die Renovation des Hauses – darf ihm das Kapital nicht mehr als Einkommen angerechnet werden, womit er Anrecht auf Ergänzungsleistungen hat. Bereits dieses fiktive Beispiel zeigt, dass von den Ergänzungsleistungen ein starker Anreiz ausgeht, sein Altersguthaben als Kapital zu beziehen. Natürlich ist eine luxuriöse Weltreise nach der Pensionierung nicht alltäglich, die angenommenen Zahlen sind jedoch ziemlich nahe an den durchschnittlichen Einkommen aus AHV und PK. Das Bundesgericht hat diese Praxismit dem wegweisenden Bundesgerichtsentscheid 115 V 352 gestützt (siehe Schluss des Textes).

Bei der regulären oder vorzeitigen Pensionierung kann sich der Versicherte einen Teil des angesparten Altersguthaben in bar auszahlen lassen. Dieser Anteil kann im obligatorischen Teil zwischen 25 und 100 Prozent betragen, im Überobligatorium zwischen 0 und 100 Prozent. Die Mindestauszahlung von 25 Prozent im Obligatorium ist erst seit der ersten BVG Revision 2007 bindend; davor stand es den Kassen frei, den Kapitalbezug gar nicht zuzulassen. Traditionell bieten die Versicherungen eine volle Kapitalauszahlung, ebenso kleinere Kassen.

Natürlich ist der geschilderte Fall – Kapital beziehen, rasch aufbrauchen und dann Ergänzungsleistungen beantragen – in den meisten Fällen übertrieben. Dennoch bilden die Ergänzungsleistungen auch dann einen deutlichen Anreiz zum Kapitalbezug, wenn eine sparsamere Verwendung der aus der PK bezogenen Gelder geplant ist. Bewusstes Ausnützen der Sozialversicherungsleistungen kann dann kaum unterstellt werden, hingegen werden Ergänzungsleistungen als «Rückversicherung» zumindest einkalkuliert.

Ökonomisch kann aus Sicht des Versicherten vom einem Zielkonflikt zwischen einem möglichst hohen Lebenseinkommen und einem möglichst glatten Konsum gesprochen werden. Der Barbezug maximiert in jedem Fall das Lebenseinkommen, führt aber unter Umständen dazu, dass ein spürbarer Rückgang des möglichen Konsums nach dem Aufbrauchen dieses Vermögens in Kauf genommen werden muss. Für kleine Vermögen aus der Beruflichen Vorsorge bringt der Barbezug den grösseren Nutzen. Ab einer gewissen Schwelle jedoch überwiegt der Nutzen eines gleichmässigen Konsums über die ganze Rentenzeit den Nutzen aus einem möglichst grossen Bezug von EL. Bei welchem Niveau genau dieser Effekt eintritt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Neben den individuellen Präferenzen sind dies auch die Lebenserwartung, der Zeitraum, indem das Vermögen aufgebraucht wird sowie makroökonomische Faktoren wie Zinssätze und Inflationsraten.

Die Ergänzungsleistungen zur AHV bilden eine wichtige Komponente in der Absicherung eines Mindesteinkommens im Alter, das durch die AHV alleine nicht erreicht werden kann. Sie reduzieren aber erstens auch den Anreiz, selbst zu sparen oder durch Erwerbseinkommen die(vorzeitige) Pensionierung aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Ergänzungsleistungen bilden zweitens einen Anreiz, angesparte Gelder aus der Pensionskasse bar zu beziehen und die Existenzsicherung im hohen Alter nicht mit einer Rente aus der beruflichen Vorsorge, sondern über die Ergänzungsleistungen zu «versichern».

Bundesgerichtsentscheid 115 V 352 vom 2. November 1989

Eine Arbeitnehmerin erhielt zum Zeitpunkt ihrer Pensionierung anfangs Oktober 1985 ein Kapital von insgesamt 88’597 Franken ausbezahlt, das sie innerhalb von 15 Monaten für die Bezahlung von Steuern sowie für mehrere Flugreisen und einen neuen Bodenbelag ausgab. Anschliessend stellte sie Antrag auf EL.

Bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen berücksichtigte die zuständige Durchführungsstelle aber nicht das tatsächlich vorhandene Vermögen, sondern bezog sich auf den Vermögensstand von Anfang Oktober 1985 und akzeptierte nur Vermögensminderungen im Umfang der Steuern von 20‘000 Franken. Für darüber hinausgehende Ausgaben sah die Durchführungsstelle keine objektive Notwendigkeit und war deshalb nicht bereit, diese Kosten indirekt über die Ausrichtung von Ergänzungsleistungen mitzutragen.

Gegen dieses Vorgehen erhob die Rentnerin Beschwerde, welcher das Bundesgericht stattgab. Es führte in seinem wegweisenden Entscheid aus, dass nicht vorhandenes Vermögen nur dann als hypothetisches Vermögen angerechnet werden könne, wenn für die Vermögenshingabe keine adäquate Gegenleistung erbracht wurde.

 

 

 

Piketty für Eilige

Urs Birchler

Der Ökonom Thomas Piketty, der Autor des gegenwärtigen No 1 Bestsellers Capital in the 21st Century, ist in aller Munde. In der NZZaS von heute (S.34; mit Kommentar von Reto Föllmi) sowie in früheren NZZ-Ausgaben ([1],[2],[3],[4]). Im Tagesanzeiger ([15] und [6]) und seinem Blog Never Mind the Markets ([7]).

Wer die 700 Seiten nicht sofort lesen will, dem können wir hier eine ausgezeichnete Besprechung empfehlen. Sie stammt von Robert E. Solow, Wirtschafts-Nobelpreisträger von 1987 und ist erschienen in der New Republic (Printversion). Solow bespricht Pikettys Buch wohlwollend und fair, obwohl er dessen politischen Ansichten (v.a. den Vorschlag einer scharfen Besteuerung der Reichen) keineswegs teilt.

Die Vermögensverteilung, Pikettys Hauptthema, und die Probleme bei deren Messung hat Monika Bütler schon verschiedentlich diskutiert, sowohl hier als auch als Quiz und dessen Auflösung. Letztere verweist auch auf den Artikel in der NZZaS.

Mindestlohn: Weshalb 22 Franken pro Stunde und 4000 Franken pro Monat nicht dasselbe sind

Monika Bütler

Als unsere Kinder noch kleiner waren, hatten wir während gut zweier Jahre eine Haushälterin mit einem 80% Pensum. Aus verschiedenen Gründen kehrten wir wieder zum alten System zurück; zu einer Haushälterin im Stundenlohn mit einem geringeren Pensum. Obwohl wir nun einen deutlich höheren Stundenlohn zahlen, kostet uns das Ganze nur noch etwa die Hälfte. Dies bei einem nur minim höheren eigenen Arbeitsaufwand.

Vor der Mindestlohninitiative hätten wir uns in beiden Fällen nicht fürchten müssen. Die ungelernte 80% Haushälterin verdiente rund 24.50 pro Stunde (bei einem 100% Pensum wäre der Monatslohn etwas über 4400 Franken gelegen), die neue Haushälterin verdient rund 32 Franken pro Stunde. Dennoch: Für die neue Haushälterin dürfte es trotz deutlich höherem Stundenlohn gar nicht so einfach sein, denselben Monatslohn wie ihre Vorgängerin zu erreichen, weil die Arbeit mit mehreren Haushalten viel zerstückelter ist. Die Arbeit ist zudem anstrengender, ruhige Perioden seltener.

Weshalb erzähle ich dies überhaupt? Der Ersatz von Stellen im regulären Monatslohn durch Stellen im Stundenlohn dürfte wohl eine der wichtigsten Anpassungsmechanismen bei einer Annahme der Mindestlohninitiative sein. Auch wenn es bei uns nicht Kostengründe waren, die zum Systemwechsel führten. Für ein kleines Restaurant sieht das anders aus. Es wird sich eventuell das Servicepersonal im Stundenlohn noch leisten können, aber nicht mehr im Monatslohn. Unter dem Strich wird dann die (fast) gleiche Arbeit unter grösserem Stress mit kleineren Sicherheiten für die Arbeitnehmer geleistet. Unter Einhaltung des Mindestlohnes zwar – besser gestellt ist damit aber niemand, im Gegenteil. Vielleicht haben die Initianten sogar recht, wenn sie denken, dass sich der Abbau an Stellen in Grenzen hält. Wesentlich wahrscheinlicher ist, dass gute Stellen im Monatslohn (meist mit Aussicht auf höhere Löhne nach einiger Zeit) durch schlechtere Stellen im Mindestlohn-kompatiblen Stundenlohn ersetzt werden.

Andere Anpassungsmechanismen könnten sein, allfällige Lohnnebenleistungen (Spesen, Beiträge ans Essen) nicht mehr separat auszuweisen. Wer früher 3800 Franken verdiente und 200 Franken in anderer Form, erhält neu einfach 4000 Franken pro Monat ohne Nebenleistungen (und muss unter Umständen erst noch mehr Steuern bezahlen). Wer nun sofort böse Arbeitgeber wittert, dem empfehle ich einmal in grenznahen Gebieten (im St. Galler Rheintal zu Beispiel) einen Nachmittag mit dem Velo oder Auto herumzufahren. In diesen Gebieten haben schon heute Restaurants und andere kleine Dienstleister die grösste Mühe mit der Konkurrenz ännet der Grenze mithalten zu können. Dies obwohl schon heute die Preise aus der Zürcher Konsumentenperspektive traumhaft tief sind.

Die Internationale Erfahrung hat uns gezeigt, dass ein rigiderer Arbeitsmarkt zu einer grösseren Anzahl von prekären Stellen und ineffizienten Umgehungsmechanismen führt. Gerade weil die Schweiz bisher einen relativ liberalen Arbeitsmarkt hat, kommen schon ganz junge und unerfahrene Menschen in den Genuss von Festanstellungen im Monatslohn mit den dazu gehörenden Sicherheiten. Die allermeisten, die mit einem Lohn unter 4000 Franken beginnen, werden nach relativ kurzer Zeit darüber entlohnt.

Damit ich nicht missverstanden werde. Ich teile die Meinung der Initianten, dass einem in Vollzeit tätigen Arbeiter der Gang zum Sozialamt erspart werden müsste. Nur ist der Mindestlohn als Massnahme zur Unterstützung der Working Poor schrecklich ungeeignet. Erstens lebt nur eine Minderheit von Tieflohnbezügern in Armutsgefährdeten Haushalten. Zweitens garantiert auch ein Mindestlohn nicht, dass eine Arbeiterin (mit Kindern zum Beispiel) genug zum Leben hat.

Was wären dann die Alternativen? Zuerst einmal muss das Existenzminimum von Einkommensteuern befreit werden, wie ich hier auch schon ausgeführt habe. Dem Argument, dass auch auf dem Existenzminimum Steuern bezahlt werden müssten, um den Leuten die Kosten staatlicher Leistungen vor Augen zu halten, kann ich nicht folgen (hier nachzulesen). Um die Lücke zwischen Einkommen und Existenzsicherung zu garantieren sollte die Schweiz ein System einer negativen Einkommenssteuer für Niedrigverdiener einführen. Dabei werden kleine Einkommen bis zu einer gewissen Grenze subventioniert. Das System hat sich in den USA sehr bewährt und hat gerade vielen Frauen aus der Armut geholfen – und ihnen den ungeliebten Gang zum Sozialamt erspart.

Erblasser sind träge

Marius Brülhart

Endlich ist es soweit: Meine Studie mit Raphaël Parchet zum Zusammenhang zwischen Erbschaftssteuern und Mobilität – im Batz schon vor bald vier Jahren angekündigt – hat nun auch das wissenschaftliche Gütesiegel einer internationalen Publikation verpasst bekommen. Fürs SECO-Magazin „Die Volkswirtschaft“ haben wir dazu einen erläuternden Bericht geschrieben.

Etwas vereinfachend können unsere Resultate auf drei Beobachtungen reduziert werden:

  1. Wohlhabende Rentner bewegen sich infolge von interkantonalen Unterschieden bei der Erbschaftssteuerbelastung kaum. Unser geschätzter Wert der Erbschaftssteuerelastizität für Rentnerhaushalte im obersten Einkommensdezil beträgt -0.09 – also nahe bei null.
  2. Diese Trägheit des Steuersubstrats zieht nach sich, dass kantonale Erbschaftssteuersenkungen auch langfristig mit Steuereinbussen verbunden sind. Unten stehende Grafik macht das deutlich.
  3. Die kantonalen Erbschaftssteuersenkungen der vergangenen drei Jahrzehnte wurden überwiegend mit dem Argument des Wettbewerbs um mobile Steuerzahler gerechtfertigt. Angesichts unserer ersten beiden Feststellungen handelte es sich allerdings um einen „imaginären Steuerwettbewerb“.

Zwei kleine Seitenhiebe kann ich mir vor diesem Hintergrund nicht verwehren. Erstens schreibt der Bundesrat in seiner Botschaft zur hängigen Erbschaftssteuerinitiative punkto Wanderungsreaktionen auf Erbschaftssteueränderungen (S. 142): „Empirische Untersuchungen bezüglich der Bedeutung dieses Problems liegen nicht vor.“ Dies dürfte nunmehr nicht mehr behauptet werden.

Und zweitens kann die Befürchtung, eine nationale Erbschaftssteuer würde zu „einem Einbruch des Steuersubstrats von Bund und Kantonen“ führen, getrost in der Kategorie Schauermärchen klassiert werden.

Andererseits ist die Erbschaftssteuer halt doch eine Steuer und zieht somit gewisse – wenn auch vergleichsweise geringe – ökonomische Verzerrungswirkungen nach sich. Die Einführung einer nationalen Erbschaftssteuer sollte somit explizit an die entsprechende Erleichterung einer anderen, schädlicheren Steuer gekoppelt sein. Gerade dies tut die hängige Initiative jedoch nicht, und da liegt ihre Achillesferse.

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Steuerwettbewerb in der Schweiz: Ein Auslaufmodell?

Marius Brülhart und Kurt Schmidheiny

Was geneigte Batz-Leser schon lange wussten und Avenir Suisse bestätigt hat, wird nun auch vom Bundesrat anerkannt: Der Finanzausgleich schränkt die Anreize für aggressiven Steuerwettbewerb massiv ein. Im eben erschienenen Wirksamkeitsbericht 2012-2015 zum Finanzausgleich zwischen Bund und Kantonen hält der Bundesrat fest, dass „ein ressourcenschwacher Kanton beim geltenden (progressiven) Umverteilungsmechanismus des Ressourcenausgleichs wenig Anreize hat, sein Ressourcenpotential zu steigern“ (S. 9). Die Grenzabschöpfungsquote, d.h. der Anteil vom mittels erfolgreicher Standortpolitik angelocktem Steuersubstrat welcher via Finanzausgleich verloren geht, beläuft sich bei den Empfängerkantonen auf „im Durchschnitt rund 80 Prozent“.

Es ist also, als würden einem erfolgreichem Empfängerkanton pro frisch angezogenem Steuerfranken 80 Rappen vom Bund und den anderen Kantonen gleich wieder weggenommen. Im politischen Sprachgebrauch gelten solche Steuersätze als „konfiskatorisch“, und man geht gemeinhin davon aus, dass sie so ziemlich jeglichen Ansporn zu wirtschaftlicher Leistung unterbinden.

Angesichts dieser Tatsache mag es erstaunen, dass der Bundesrat in seinem Communiqué zum Wirksamkeitsbericht gleichzeitig feststellt, dass sich der Steuerwettbewerb seit der Neuordnung des Finanzausgleichs im 2008 „eher intensiviert“ hat. Haben die Kantone denn nicht verstanden, dass sich strategische Steuersenkungen kaum bezahlt machen? Oder spielten andere Faktoren mit, welche die Anreizeffekte des Finanzausgleichs neutralisierten?

Diese Fragen schlüssig zu beantworten, ist nicht leicht. In unserer Hintergrundstudie für den Wirksamkeitsbericht erklären wir das Paradox folgendermassen: „Es ist methodisch unmöglich, den scheinbar verstärkten Steuerwettbewerb schlüssig auf die NFA zurückzuführen, denn wir verfügen über keine ‚Kontrollgruppe‘. Die leichte Aufstockung der Mittel in der NFA gegenüber dem alten System könnte durchaus einen Anteil zu den beobachteten Tendenzen beigetragen haben. Zudem ist denkbar, dass die Grenzabschöpfungsquoten vor der NFA noch höher gelegen hatten [diese sind für den alten Finanzausgleich schlicht nicht berechenbar]. Andererseits boten auch die Konjunktur und Nationalbankausschüttungen den Kantonen gleichzeitig mit der NFA-Einführung finanzpolitischen Spielraum für Steuerermässigungen. Die überdurchschnittlichen Steuersenkungen der Empfängerkantone hatten überdies bereits vor 2008 eingesetzt und scheinen daher zumindest nicht allein von der NFA ausgelöst worden zu sein.“ (S. 3)

Etwas spekulativ könnte man daraus schliessen, dass der Appetit auf Steuerwettbewerb im heutigen System langfristig nachlassen dürfte, da die Kantonsmehrheit auf der Empfängerseite die Mechanik des neuen Finanzausgleichs zu berücksichtigen gelernt hat. Zudem stehen die konjunkturellen Vorboten heute auch nicht so prächtig wie vor zehn Jahren, was die Lust auf Hau-Ruck-Steuersenkungen weiter hemmen dürfte.

Fast alle in unserer Hintergrundstudie benutzten Daten können Sie übrigens auf der Internetseite fiscalfederalism.ch selbst analysieren, und dies sowohl für natürliche Personen wie auch für juristische Personen. Als Appetitanreger auf die Darstellungsmöglichkeiten unseres Daten-Tools hier eine Grafik, die anhand der Kantone Neuenburg, Obwalden und Schwyz zeigt, wie sich die Anzahl lukrativer Steuerzahler im umgekehrten Verhältnis zur Steuerbelastung verändert hat. In unserer Studie schätzen wir die durchschnittliche Steuerelastizität von Haushalten im obersten Einkommensdezil auf -0.6. Reiche Haushalte können somit tatsächlich mittels Steuersenkungen angelockt werden – allerdings längst nicht in einem Ausmass, welches erlauben würde, die Steuern zu senken, ohne Einnahmeausfälle in Kauf nehmen zu müssen. Auch diese Erkenntnis deutet darauf hin, dass aggressive Steuersenkungen keine besonders zukunftsträchtige Strategie darstellen.

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Weiterwursteln nach Plan B

Monika Bütler

(Kurzkommentar zum Abstimmungsresultat über die Masseneinwanderungsinitiative der SVP, publiziert in der Weltwoche vom 13. Februar 2014)

Die Schweiz leistet es sich, junge Frauen sehr gut auszubilden, um sie später mit fehlenden Tagesschulen, steuerlichen Fehlanreizen und Vorurteilen aus dem Arbeitsmarkt zu ekeln. Nur knapp lehnte der Souverän eine explizite Belohnung des zu Hause-bleibens ab. Die Schweiz leistet es sich auch, intelligenten künftigen Ingenieuren und vollzeitarbeitenden Ärzten die Schule zu vermiesen mit einer Pädagogik, die weiche Faktoren höher gewichtet als Mathematik und Naturwissenschaften. Über eine längere Beschäftigung älterer Menschen denken wir schon gar nicht mehr nach. Für weniger ehrgeizige und produktive Junge ist Sozialhilfe ohnehin viel attraktiver. Damit sich die Anstrengung auch für die oben unerwähnten nicht lohnt, bietet der Staat Wohnraum und Betreuung einkommensabhängig an.

Die Lücken füllten motivierte Einwanderer. Und nun?

Wir sollten die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wenigstens zum Anlass nehmen, über die Verschwendung einheimischer Ideen und Fähigkeiten nachzudenken. Meine Vermutung: Am Schluss kommt doch Plan B zur Anwendung. Niemand wagt, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Gesuchte Fachkräfte kommen nach wie vor – einfach unter undurchsichtigen, teuren Kontingenten. Plan B, B für Bürokratie.