Eierkochinspektoren gesucht

Monika Bütler

Fast hätte ich vergessen, meine NZZaS Kolumne zu verlinken. Geweckt hat mich die Frontseite der „Konkurrenz“ mit ihrem Bericht zur grünen Initiative des Bundes. Mit einem 27 Punkte Plan sollen die Bürger(innen) auf den ökologisch korrekten Weg gebracht werden: Fast ausschliesslich durch Kontrollen, Verbote, Belehrungen, verordnete Dialoge. So weit ist die Bürokratie der EU auch wieder nicht…

Ich habe selbstverständlich nichts gegen eine sparsamere Verwendung der Ressourcen – im Gegenteil: Doch der effizienteste, unbrükratischste und letztlich gerechteste Weg geht noch immer über den Preis.

Hier also meine Kolumne in der NZZaS von heute (27. Januar 2013), veröffentlicht unter dem Titel „Ökostrom-Inspektoren, die prüfen, ob man richtig heizt, sind ein Graus“:

Die Meldung war unscheinbar: Linke Parteien denken über Belegungsvorschriften für subventionierte Wohnungen nach. Damit soll der Bedarf an Wohnfläche wieder reduziert und den «Horrormieten» – sie sind real in 12 Jahren um 10 Prozent gestiegen – zu Leibe gerückt werden.

Das ist natürlich Planwirtschaft. Dennoch: Die Forderung lässt zwei ökonomische Einsichten erkennen. Erstens, es gibt keinen eindeutigen Bedarf an Gütern wie Wohnungen und anderen. Der «Bedarf» wird durch den Preis und andere Faktoren mitbestimmt. So steigt trotz angeblich überteuerter Mieten die durchschnittliche Anzahl Quadratmeter pro Person stetig an, der «Bedarf» an Wohnraum ist vor allem in bestimmten Lagen hoch: Für die ruhige und günstige, aber eher kleine Familienwohnung meiner Schwiegermutter, 20 Zugs- plus 10 Fussminuten vom Zürcher Hauptbahnhof entfernt, war das Interesse gering. Zweite Einsicht: Eine Regulierung der Preise alleine genügt nicht: Damit alle Berechtigten profitieren können, braucht es gleichzeitig eine Rationierung der Mengen.

Für einmal haben linke Politiker einen Markteingriff wenigstens zu Ende gedacht. Das machen selbst bürgerliche Politiker immer seltener. Beispiel: Der Bund will den Energiebedarf senken. Leider nicht mehr so charmant wie damals Adolf Ogi mit seinen legendären Eierkoch-Tipps. Diesmal will der Staat Inspektoren losschicken, die nachprüfen, ob wir richtig heizen. Der Bedarf an Luxusenergie für Sauna und Schaufensterbeleuchtung soll zudem mit Ökostrom gedeckt werden. Staatliche Subventionen für die Ökoenergie reichen offenbar nicht; zusätzlich muss die Nachfrage gestützt werden.

Offenbar weiss der Staat erstens wie und zweitens wofür Energie gespart werden soll. Doch wen geht es etwas an, ob ich meine Texte in der Daunenjacke in Villa Durchzug schreibe oder – bei gleichem Energieverbrauch – im Pyjama im Minergiehaus? Und wo liegt der gesellschaftliche Gewinn, wenn Sauna und Heizpilz mit Ökostrom betrieben werden, Computer und Fritteuse aber nicht? Damit wird keine einzige Kilowattstunde Strom weniger verbraucht. Die Zuordnung von zulässigen Energiequellen zu einzelnen Geräten führt zu einer absurden Erlass- und Kontrollbürokratie. Wer soll nachschauen, welchen Strom die Sauna gerade frisst?

Noch mehr graut mir vor der staatlichen Unterscheidung zwischen «gutem» und «schlechtem» Zweck des Energieverbrauchs. Sauna: schlecht (obwohl gesund); Fritteuse: gut (obwohl nicht so gesund). Kneipe: schlecht (obwohl beliebt); Kirche: gut (ohnehin nie geheizt). Die Linie führt direkt zur staatlichen Papierzuteilung an die «guten» Zeitungen.

Was spricht gegen die unbürokratische und unbestechliche Zuteilung von Energie (oder CO2-Ausstoss) über den Preis? Ist der Energiepreis hoch genug, werden Schaufenster automatisch weniger beleuchtet. Und ich kann ohne staatlichen Besserwisser entscheiden, ob ich dem Haus oder mir selber den Pulli überziehen will.

Keine seriöse Ökonomin denkt, dass es der Markt immer richten kann und soll. Es gibt Güter, deren Zuteilung über den (Markt-)Preis nicht zur gewünschten Verteilung führt. Beispiele sind lebensnotwendige Güter wie Lebensmittel zu Krisenzeiten, die medizinische Grundbetreuung, ein Dach über dem Kopf. Wie viel Dach pro wie viel Kopf es sein soll, ist schon nicht mehr so klar. Verzichten wir auf Preise als Mittel der Zuteilung, verlassen wir uns auf einen Zeigefinger im Hintergrund, der entscheidet, wem was zusteht.

Bei den meisten Gütern ist der Preis der bessere Wegweiser als der behördliche Zeigefinger. Und zwar selbst dort, wo wir dem Markt nicht trauen. Vielleicht wollen wir ja den Energiekonsum einschränken, weil er Kosten für die künftigen Generationen verursacht. Dann aber über den Preis als Steuerungsgrösse, nicht über ein von Inspektoren überwachtes Ökostrom–Obligatorium für Eierkocher.

Schlangenfangerei im Tagi

Urs Birchler

Heute empfängt uns Res Strehle — immerhin der Chefredaktor — auf S. 23 der Printausgabe mit dem Bild einer Warteschlange. Tatsächlich preist er Schlangestehen als gerechte Form der Verteilung von Gütern an. Denn: Weshalb sollen nur Reiche Museen besuchen dürfen? Als Aufhänger dient ihm das Erscheinen des Buches Was man mit Geld nicht kaufen kann, von Michael J. Sandel.

Res Strehle klagt über eine Welt, in der alles käuflich wird. Ein müdes Echo der Kirchenväter, welche sich in der Zeit der aufkommenden Geldwirtschaft darüber beklagten, dass der Besuch einer Prostituierten teurer war, als ein Auftragsgebet. Wir haben darüber berichtet. Alter Marzipan, würde Dürrenmatt sagen. Aber Res Strehles gutes Recht.

Wo das gute Recht des Journalisten aufhört, ist dort, wo er mit einem Mausklick überprüfen könnte, dass er die Leser hintergeht. Beispielsweise: „Wenn alles käuflich ist, … wird zwangsläufig die Korruption zunehmen, weil auch öffentliche Leistungen und Gefälligkeiten aller Art erwerbbar werden“. Genau dies ist falsch. Korruption blüht dort, wo der Markt unterdrückt wird, dort wo die Warteschlangen blühen. Ein Blick auf die Weltkarte der Korruption hätte genügt: Länder mit hohem Korruptionsindex liegen entweder in einem Gürtel um den Äquator oder sind ehemalige Mitglieder der planwirtschaftlichen Hemisphäre. Noch Jahrzehnte nach ihrem Untergang wirkt das Gift der ehemaligen sozialistischen Planwirtschaft. Die im TA abgebildete Schlange, als deren Wahrzeichen, soll uns eine Warnung sein.

Natürlich fällt jedem von uns ein Beispiel ein, für Dinge, die man nicht handeln darf. Meine Studenten beispielsweis können ihre Prüfungsnoten nicht durch Geschenke und Gefälligkeiten aufbessern. Es hat’s, ehrlich gesagt, auch noch niemand versucht. Und natürlich brauchen wir einen gesellschaftlichen Dialog darüber, wo der Markt spielen soll (zum Beispiel bei Flugtarifen) und wo offenbar nicht (im Zürcher Verkehrsstau). In die Diskussion sollte dann aber neben der Gerechtigkeit auch die Effizienz einfliessen. Ist es wirklich moralisch, Menschen ihre Zeit in Warteschlangen verbringen zu lassen? Macht es Sinn, wenn der Kinderarzt drei Stunden anstehen muss, um eine Eintrittskarte ins Museum zu kaufen. Und — warum das Kind nicht beim Namen nennen — auch der CEO einer Grossbank hat (oder hätte) Gescheiteres zu tun als Schlangestehen.

Den TA gibt’s einstweilen noch ganz marktwirtschaftlich unsubventioniert im Abo oder am Kiosk.

Congratulations, Charles!

Urs Birchler

Heute morgen verlieh die Uni Basel die Ehrendoktorwürde an den amerikanischen Ökonom und Bankenhistoriker Charles Calomiris (Columbia).

Bekannt wurde Charles Calomiris für seinen mit Charles Kahn verfassten Aufsatz in der American Economic Review von 1991 zur disziplinierenden Wirkung der Gefahr von Bank Runs. Doch zuvor und seitdem publizierte er eine eindrückliche Reihe von Arbeiten, viele davon zu Themen der Bankenstabilität und -überwchung. Roter Faden in seinem Werk ist das Thema Anreize. Auch in seinem Referat an der Uni Basel von gestern abend: Bankenregulierung hat nur eine Chance, wenn sie zwei Bedingungen erfüllt:

  1. Sie muss berücksichtigen, dass die Überwachten stets Anreize zur Umgehung haben,
  2. Sie muss berücksichtigen, dass auch die Überwacher Anreizen ausgesetzt sind, die das Ziel der Überwachung gefährden können (beispielsweise, weil ihre berufliche Weiterentwicklung nur bei einer der überwachten Banken möglich ist).

Charles Calomiris ging es immer auch um die die praktische Anwendbarkeit seiner Forschung. Verschiedene Regierungen und Behörden, namentlich in Lateinamerika, haben ihn denn auch als Berater beihezogen. Die lange Liste seiner Arbeiten findet sich bei IDEAS oder auf seiner Homepage.

Wir wünschen Charles alles Gute und gratulieren auch der Uni Basel zur klugen Wahl.

Heiratsstrafe oder Heiratsbonus in der AHV?

Monika Bütler

Der frühere BSV Chef Yves Rossier hat es vorgerechnet: Die vermeintliche Heiratsstrafe in der AHV (Plafonierung der Ehepaarrenten auf 150% der Maximalrente) ist im Durchschnitt ein Heiratsbonus. Denn was einem Ehepaar nach der Pensionierung gekürzt wird, ist deutlich kleiner als die Vorteile, die einem verheiraten Paar zugute kommen vor der Pensionierung.

Yves Rossier geht von finanziellen Nachteilen in der Grössenordnung von 1.7 Mia Franken pro Jahr aus (Plafonierung der Rente). Demgegenüber stehen Vorteile von circa 3 Mia Franken gegenüber. Diese setzen sich primär zusammen aus einer Beitragsbefreiung des nichterwerbstätigen Ehepartners während der Ehe und der Witwen/Witwerrente.

Durch die Beitragsbefreiung und das Splitting der Beiträge während der Ehe kann eine halbe bis eine ganze zusätzliche Rente ausgelöst werden – ohne dass der/die Empfängerin je zur Finanzierung der AHV beigetragen hätte. Dieser Vorteil wird nämlich auch kinderlosen Ehepartnern gewährt. Was daran familienfreundlich sein soll, ist mir schleierhaft.  Durch Betreuungsgutschriften erhalten Eltern ja bereits einen grosszügigen Zustupf an die AHV Beiträge (meiner Meinung nach ist dies die richtige Stossrichtung).

Mit der Witwenrente und Zusatzleistungen zur Witwenrente (auch für kinderlose Witwen) bietet die AHV den Ehepaaren zudem eine kostenlose Versicherung, die pro Jahr mit mehr als 2.5 Mia Franken zu Buche schlägt.  Die von Rossier bezifferten Kosten dieser Leistungen unterschätzen den Wert der Versicherung noch. Denn müssten die Individuen auf dem privaten Markt die Leistungen kaufen, wären sie wohl bereit, deutlich mehr für eine Absicherung des hinterbliebenen Partners zu bezahlen. So wie wir bei allen Versicherungen tendentiell mehr zu zahlen bereit sind als der erwartetete Wert der Leistungen.  

Natürlich stimmt diese Rechnung nur im Durchschnitt, nicht für alle: Am besten fährt, wer bis zur Pensionierung verheiratet zusammenbleibt (und so von den Vorteilen der AHV in der Ansparphase profitiert) und sich nach der Pensionierung sofort scheiden lässt (um der Plafonierung zu entgehen). Dass sich  einige Paare  durchaus so verhalten, zeigt ein früherer Beitrag im batz.

Man muss die gesellschaftspolitischen Werte, die der Struktur der AHV zugrunde liegen, nicht mögen: Das System ist wenigstens konsistent. Es geht davon aus, dass Ehepaare – mit oder ohne Kinder – dem traditionellen Lebensentwurf folgen (er arbeitet, sie arbeitet nicht oder nur Teilzeit oder nur wenn die Kinder ausgeflogen sind) und zusammenbleiben, bis der Tod sie scheidet.

Sind Professor(inn)en Mimosen?

Monika Bütler

Kolumne in der NZZ am Sonntag, 4. November (veröffentlicht unter dem Titel: Professoren wollen nicht mehr an die Öffentlichkeit; Angst vor Anfeindungen, Forschungsdruck – Rückzug in den Elfenbeinturm ist schlecht)

 Warum machst Du das bloss?», fragten mich zwei Kolleginnen kürzlich anlässlich einer Konferenz. Dabei mache ich gar nichts Unanständiges. Ich hatte nur erzählt, dass wir – eine Gruppe von Volkswirtschaftsprofessoren an den Universitäten Zürich, Lausanne und St. Gallen – einen Blog betreiben; ein Online-Forum zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen, das ab und zu auch für Aufregung sorgt. Etwa wenn der Chef einer Grossbank selber einen Kommentar auf dem Blog hinterlässt. Oder wenn Beiträge von der Presse aufgenommen werden – freundlich oder weniger freundlich.

Die mögliche Aufregung fanden meine Kolleginnen fast schon bedrohlich. Zwar sind beide keine stereotypen Modellschreinerinnen im Elfenbeinturm, sondern international beachtete Forscherinnen mit relevanten Themen. Zum Beispiel: Wie reagieren Individuen auf aktive Arbeitsmarktmassnahmen? Führt eine Erhöhung des Rentenalters zu mehr Arbeitslosigkeit? Wie unterscheidet sich die Sozialhilfeabhängigkeit zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen? Themen, die auch die Allgemeinheit interessieren. Gleichwohl ist ihnen Öffentlichkeitsarbeit nicht geheuer.

Warum die Zurückhaltung? Zum einen frisst Öffentlichkeitsarbeit der Forschung wertvolle Zeit weg. Sie kostet sogenannten Impact, das heisst Zitate in vielzitierten Publikationen – die Einheitswährung im Forschungsbetrieb. Da ist privates Schreiben und öffentliches Schweigen Gold. Allgemein verständliche Aufsätze zu schreiben oder mit den Medien zu reden, ist bestenfalls Blei. Dieses zieht nach unten: Jede Minute verlorene Forschungszeit rächt sich: weniger Forschungsgelder, tieferes Ansehen, noch weniger Forschungszeit, usw. Attraktiv bleibt die Öffentlichkeitsarbeit für jene, die in der Forschung nichts zu verlieren haben – nicht immer die besten Ratgeber des Volkes.

Die öffentliche Sprechhemmung vieler Kollegen liegt, zum andern, auch an der Angst vor Anfeindungen und Angriffen. Besonders ausgeprägt ist dies in Disziplinen, in denen sich wissenschaftliche Inhalte nicht so leicht von politischer Meinung unterscheiden lassen. In den Sozialwissenschaften riecht – anders als in den meisten Naturwissenschaften – ein Forschungsergebnis oft gleich nach Politik. Jede(r) ist Experte für das Rentenalter oder die Sozialhilfeabhängigkeit. So löst schon das Wort «Anreiz» gereizte Reaktionen aus. Immer.

Sind Forscher Mimosen? Zur Wissenschafts- und Meinungsäusserungsfreiheit gehört nämlich auch die Bereitschaft, Kritik – selbst unfaire – zu ertragen. Obschon noch immer davon überzeugt, kamen mir in den letzten Monaten Zweifel. Medienschelte ist das eine; sie zeigt immerhin, dass man gelesen wird. Was aber, wenn Forscher für ihre Aussagen nicht bloss kritisiert, sondern auch rechtlich zur Verantwortung gezogen werden? So wie kürzlich die Seismologen in Italien. Oder wenn unter tatkräftiger Mithilfe aus den Universitäten vertrauliche Interna in den Medien breit getreten werden. Nicht aufzufallen, ist immer noch der beste Schutz.

Traurige Ironie: Dank einer grösseren Forschungsorientierung sind die Schweizer Universitäten in den letzten Jahren qualitativ viel besser geworden; gleichzeitig verbreiteten sich die Gräben zwischen Akademie und Öffentlichkeit. Ausgerechnet in einer Zeit, in der wir am meisten von der Forschung lernen könnten, schweigen viele Wissenschafter. Und jeder Angriff ist – je nach Standpunkt – guter Grund oder billiger Vorwand für ein weiteres Stockwerk im Elfenbeinturm.

Es liegt an allen Seiten, den Dialog lebendig zu erhalten und Gräben zu überbrücken. Professoren sollten ihr Wissen der Öffentlichkeit zugänglich machen können, bevor diese fragt: «Was machen die bloss?» Die Professoren, die sich die Mühe machen, mit der interessierten Öffentlichkeit zu reden, sollten sich anderseits nicht ständig fragen müssen: «Warum mache ich dies bloss?»

Sind Steuerzahler bessere Menschen?

Monika Bütler

Tribüne im Tagblatt (St. Gallen), 22. September 2012

Mitt Romney hätte Freude an unserem Land: In der Schweiz bezahlen nur 20% der Haushalte keine Einkommenssteuern. Anders als in den USA, wo dies 47% nicht tun und sich stattdessen – immer gemäss Romney – lieber an den staatlichen Tropf hängen. Offenbar übernehmen 80% der Schweizer Haushalte persönliche Verantwortung und halten ihr Leben in Ordnung. Doch sind wir Schweizer wirklich bessere Menschen, wie uns der republikanische Präsidentschaftskandidat suggeriert?

Viele (bürgerliche) Politiker sind der Meinung, dass die Besteuerung aller Einwohner wichtig sei. Oder wie es das Bundesgericht ausdrückt: “Aus dem aus [der Bundesverfassung] hergeleiteten Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung kann auch gefolgert werden, dass alle Einwohner entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit einen – wenn auch unter Umständen bloss symbolischen – Beitrag an die staatlichen Lasten zu leisten haben.” Damit würde auch allen bewusst, dass die Leistungen des Staates nicht gratis zu haben seien.

Wer daraus schliesst, dass nur Einkommenssteuern dieses Bewusstsein auslösen, verkennt drei wichtige Punkte. Erstens sind Einkommenssteuern nicht die einzigen Steuern. Zweitens zahlen viele heute Steuerbefreite in der Zukunft Einkommenssteuern oder haben sie in der Vergangenheit geleistet. Drittens sagt die Steuerlast eines Haushalts nichts aus über seinen effektiven Beitrag an die staatlichen Leistungen.

Zum ersten Punkt: Auch die Ärmeren beteiligen sich an den staatlichen Lasten, nämlich über Sozialversicherungsbeiträge, Konsumsteuern (wie die Mehrwertsteuer) und Gebühren. Diese Steuern sind in der Regel sogar leicht regressiv, sie belasten einkommensschwache Haushalte proportional stärker als gutverdienende. Ironischerweise sind es gerade bürgerliche Exponenten, die eine Reduktion der Einkommenssteuern zugunsten der Konsumsteuern fordern – was letztlich den Anteil der Einkommenssteuer-Befreiten erhöht.

Zum zweiten Punkt. Romneys Sichtweise blendet den Lebenszyklus aus. Unsere Student(inn)en an der HSG bezahlen ihre Einkommenssteuern nicht jetzt, sondern später im Leben. In der Momentaufnahme gehören die meisten von Ihnen zum „Romney-Proletariat“, den ominösen 47 Prozent in den USA bzw. zu den steuerbefreiten 20% in der Schweiz. Auf ein Leben am Busen des Staates spekuliert kaum eine(r) von ihnen. Im umgekehrten zeitlichen Verlauf gilt dasselbe für Pensionierte, deren Rente unter dem Grenzwert für die Einkommenssteuer liegt. Oder ist ein Rentner, der von seinen Ersparnissen lebt, ein linker Schmarotzer?

Der dritte Punkt geht in die andere Richtung. Wer in der Schweiz Einkommenssteuern bezahlt, ist nicht unbedingt ein Nettozahler. So erhalten Freunde von uns ihre Einkommensteuern fast auf den Franken genau als Prämiensubvention der Krankenkasse wieder zurück. Sie sind keine Ausnahme. Die Einnahmen aus der Einkommenssteuer werden dem Mittelstand in verschiedener Form als einkommensabhängige Subventionen teilweise wieder zurückerstattet. Diese Umlagerung von der rechten in die linke Hosentasche scheint, abgesehen vom administrativen Leerlauf, harmlos. Genau das ist sie aber nicht.

Was faktisch aussieht wie eine Einkommenssteuerbefreiung für kleinere und mittlere Löhne ist genau das Gegenteil – nämlich eine doppelte Besteuerung des Einkommens. Verdienten unsere Freunde einen Franken mehr, würden sie doppelt gestraft: Zum einen zahlten sie mehr Einkommenssteuern; zum andern erhielten sie weniger einkommensabhängige Prämiensubvention. Das Bewusstsein, dass die staatlichen Leistungen etwas kosten, wächst so kaum. Eher leidet dadurch das Ansehen des Staates.

Die USA versuchen seit Jahren, eben diese negativen Spar- und Arbeitsanreize für die einkommensschwächeren Haushalte zu mindern, sei es durch Steuergutschriften für Geringverdiener (sogenannte Earned Income Tax Credits) oder die Steuerbefreiung des Existenzminimums. Diese Politik wurde in der Vergangenheit sowohl von republikanischen wie auch demokratischen Präsidenten unterstützt. Der Anteil der Haushalte, die keine Einkommenssteuer bezahlen, ist in den USA genau aus diesem Grund höher als bei uns. Unsere Freunde gehören in der Schweiz zu den „Verantwortungsvollen“ 80%, in den USA hingegen zu den geschmähten 47%. 

Vielleicht sollten wir Romneys unbedarfte Bemerkungen als Anlass nehmen, über die Besteuerung des Existenzminimums nachzudenken. Zwar meinte das Bundesgericht vor einiger Zeit: Aus der verfassungsmässigen Existenzsicherung könne nicht abgeleitet werden, dass “ein bestimmter Betrag in der Höhe eines irgendwie definierten Existenzminimums von vornherein steuerfrei belassen werden könnte.” Ob es allerdings gescheiter ist, Einkommensteuern auch auf geringen Einkommen zu erheben und diese dann in Form von Subventionen wieder zurückzuerstatten, bezweifle ich. Das Dickicht von Steuern und einkommensabhängigen Subventionen bestraft in der Schweiz am härtesten diejenigen, die sich aus eigener Kraft aus der Armut befreien wollen.

Sei es in den USA oder bei uns: Man kann über das Steuersystem unterschiedlicher Meinung sein. Aber Steuern in irgendeiner Form zahlen wir letztlich alle. Und fast alle zahlen über das Leben gesehen auch Einkommenssteuern. Wir sind alle bessere Menschen.

 

Gebrannte Kinder …

Urs Birchler

… fürchten das Feuer, sagt der Volksmund. Daher könnte man erwarten: Banken, die gerettet werden mussten, sind nachher besonders vorsichtig. Aber ist das so? Die BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) in Basel hat dazu eine Studie von Michael Brei und Blaise Gadanecz veröffentlicht (Dank für den Hinweis an die Blick-Redaktion, die mit mir ein Interview geführt hat). Die Autoren vergleichen (am Beispiel des Markts für syndizierte Unternehmenskredite) das Verhalten der Banken, die in der Finanzkrise gerettet werden mussten, mit dem der Banken, die nicht gerettet werden mussten. Sie finden:

  • Sowohl die geretteten als auch die nicht-geretteten Banken reduzierten das Volumen der (syndizierten) Kredite nach der Finanzkrise von 2008.
  • Die geretteten Banken gingen nach der Rettung immer noch höhere Risiken ein als die anderen (wohl ebenfalls systemrelevanten) Banken.
  • Die geretteten Banken schlossen vor der Rettung riskantere Geschäfte ab als die später nicht geretteten Banken; sie scheinen auch eher schlecht bezahlte Risiken auf sich genommen zu haben.

Die Studie besagt allerdings nicht (1.) dass grosse (systemrelevante) Banken riskanter sind, da sie mit Rettung rechnen dürfen (alle Banken in der Untersuchung dürften systemrelevant sein) oder dass (2.) gerettete Banken eindeutig riskanter wären als nicht gerettete (nur der Sektor der syndizierten Anleihen wurde untersucht; ob dieser repräsentativ ist für das gesamte Bankgeschäft, bleibt offen).*

Dass die geretteten Banken nicht in Scham erstarrt sind und alle Risiken über Bord geworfen haben (zum Glück), überrascht nicht wirklich. Wichtig ist nicht, ob eine Bank gerettet wurde, sondern ob sie (bzw. ihre Geldgeber) beim nächsten Mal mit einer Rettung rechnen darf. Hierin dürften sich die geretteten und die nicht-geretteten kaum wesentlich unterscheiden. Was ich aber nie ganz verstanden habe: Weshalb die Retter (die Staaten) nicht viel kräftiger in die Risiokopolitik der geretteten Banken eingegriffen haben (und weshalb die Aktionäre der zu rettenden Banken immer wieder geschont werden).

————-

* Eine unterschiedliche Wirkung nach Grösse der Bank finden Lamont Black und Lieu Hazelwood in einem FED-paper bezüglich des amerikanischen TARP-Hilfsprogramms von 2008: TARP führte nicht zu der angestrebten Ausweitung des Kreditgeschäfts, aber zu einer unterschiedlichen Risikopolitik: Grosse Banken vergaben Kredite mit schlechterem Rating, kleine Banken solche mit besserem Rating.

Sollen Versicherungen Gentests verwenden dürfen?

Publiziert in der NZZ am Sonntag vom 20. Mai 2012 (unter dem Titel: Wenn Versicherungen Gentests verlangen dürften)

Die Wirklichkeit war wieder einmal schneller. Vor zwei Jahren schlug ich in der NZZ am Sonntag höhere Renten für Dicke und Raucher vor. Damit wollte ich nur zeigen, was die Forderung nach risikogerechten Prämien für Renten und Krankenkassen bedeutet. Zu dieser Zeit wurden in England allerdings bereits Verträge über sogenannte „enhanced annuities“ (aufgebesserte Renten) angeboten. Regelmässige Raucher, Übergewichtige oder ehemalige Minenarbeiter – also Menschen mit einer kürzeren Lebenserwartung – erhalten damit eine substantielle Rentenaufbesserung.

Von Risikoselektion profitieren manchmal auch Benachteiligte. Dennoch beschäftigen uns eher die Fälle, in denen sie darunter leiden. Wen Gentests zum Hochrisiko stempeln, kann sich nur noch unter höheren Kosten versichern oder – meistens – gar nicht. Richtig Angst macht, wenn genetische Informationen sogar über Leben entscheiden können. Weil die Eltern behinderter Kinder nicht nur die Betreuung bewältigen müssen, sondern auch noch finanzielle Folgen befürchten.

Wie würden Menschen entscheiden, bevor sie wüssten ob sie reich oder arm, gesund oder krank, als Mann oder Frau geboren werden? Klar: sie würden sich für Versicherungen entscheiden, die nicht nach angeborenen Risiken unterscheiden. Der „Schleier der Ungewissheit“ taugt allerdings wenig in einer Welt, die vor Informationen nur so strotzt. Schon vor mehr als 40 Jahren bemerkte der Ökonom Jack Hirshleifer, dass mehr Informationen nicht immer zu mehr Wohlstand führen. Eben weil sie die Möglichkeit nehmen, sich gegen gewisse Schäden zu versichern.

Doch was tun wir mit immer mehr Informationen, immer billigeren und zuverlässigeren Tests? Verbieten? Gar nichts?

Gar nichts ist oft besser als regulatorischer Übereifer. Wir vergessen, dass dieselbe Information für eine Versicherung ein Vorteil, für eine andere ein Nachteil ist. Beispiel Geschlecht – etwas, was man den meisten ohne Gentests ansieht: Frauen sind für die lebenslange Rente ein schlechtes Risiko (weil sie länger leben), für die Lebensversicherung hingegen ein gutes (weil sie länger leben). Viele Diskriminierungen heben sich daher gegenseitig ungefähr auf. Leider nicht alle: Wenn sich Menschen nicht mehr gegen wichtige Lebensrisiken versichern können, taugt Laisser faire definitiv nichts.

Heikle Informationen lassen sich auch nicht verbieten. Wer über vorteilhafte Informationen verfügt, wird diese auch kommunizieren wollen, wenn bessere Bedingungen locken. Wer dies nicht kann oder nicht will, hat das Nachsehen. Zudem: Wir geben scheinbar harmlose Informationen preis, ohne zu merken, dass diese versicherungstechnisch heikel sind. Der Schulabschluss verrät die Lebenserwartung, die Schuhgrösse das Geschlecht. Versicherungen wissen daher oft mehr über uns als wir selber – und zwar nicht wegen der nun kritisierten Gentests.

Kann denn den Versicherungen wenigstens untersagt werden, genetische Informationen in ihren Verträgen zu berücksichtigen? Rechtlich schon, in der Praxis wird es teuer – für alle. Denn Versicherungen und Versicherte passen sich an. Gewisse Verträge werden nicht mehr angeboten, andere nur noch als Paket. Die guten Risiken versichern sich nicht mehr, was eine Versicherung der schlechten Risiken noch schwieriger macht. Auch Wahlmöglichkeiten für die Versicherten sind heikel – sogar in obligatorischen Versicherungen: Sie erlauben nämlich eine Selbstselektion der guten Risiken.

Das heisst nicht, dass wir Menschen mit versicherungstechnisch ungünstigen Genen und Eltern behinderter Kinder keine Sicherheiten bieten können. Wir müssen sorgen, dass wenigstens die Sozialversicherung die Schwächsten angemessen gegen die finanziellen Folgen von Krankheit, Erwerbslosigkeit und Alter schützen. Sozialversicherung müssen die Individuen auch versichern gegen das Risiko ein schlechtes Risiko zu sein. Ohne Wenn und Aber.

Mehr Skepsis beim Lesen von Statistiken (Kolumne NZZaS)

„Chabis!“, riefen die Bauern vor Jahren, als die Statistiker beim Gemüse eine hartnäckige Teuerung errechneten. Sie hatten Recht. Wenn eine Gurke im Sommer einen Franken, im Winter zwei, im folgenden Sommer wieder einen Franken kostet, hat sich im Endeffekt nichts geändert. Die im Durchschnitt von Sommer und Winter gemessene Teuerung beträgt gleichwohl 25 Prozent! Im Winter plus 100%, im Sommer minus 50% – gibt im Schnitt 50% durch 2.
Was die Bauern nicht gefressen haben, wird uns fast täglich von neuem aufgetischt: Statistische Basis-Tricks. Der Magier lenkt unseren Blick auf den Zähler, um davon abzulenken, dass im Nenner etwas faul ist. Beispiel: Der Reingewinn der Migros „brach um über 20 Prozent ein“. Dass die arme Migros 2011 immer noch 650 Millionen verdiente und damit den Rekordgewinn vom Vorjahr zu mehr als drei Vierteln erreichte, bleibt dem Leser verborgen. Der Trick gelingt hier gleich in doppelter Ausführung: Der Gewinn als Bezugsgrösse (im Nenner) ist selbst schon eine Differenz. Das Resultat (der Gewinnrückgang im Zähler) scheint damit gross und ist im Jahr nach einem Rekordgewinn zwangsläufig eine negative Zahl.
Statistische Basistricks gehören zum Werkzeugkasten vieler Studien, insbesondere solcher mit politischen Zielen. Genauso wie Zuspitzungen, Ausblendungen und schräge (internationale) Quervergleiche. Die mitgelieferte Brille bestimmt mit, welche Aussagen wie wahrgenommen werden.
Auch die kürzlich erschienene Studie von economiesuisse wandte Basistricks an. Damit sollte eine massive steuerliche Entlastung niedrigerer Einkommen in den letzten 20 Jahren belegt werden. Die gewählte Prozent-von-Prozent-Brille vergrössert Veränderungen bei kleinen Einkommen stark. Wird ein Abzug um 1000 Franken erhöht (z.Bsp. für Krankenversicherungen) so sinkt die prozentuale Steuerbelastung bei einem steuerbaren Einkommen von 30‘000 Franken um 8%, aber nur um 0.8% bei 200‘000 Franken. Profitieren am Ende doch die Kleinen von den Abzügen? In Frankenbeträgen sehen die Ersparnisse anders aus: 100 Franken für die Kleinen, 350 Franken für die Grossen.
Die politische Gegenseite ist allerdings auch nicht zimperlich. Für die Berechnung der schweizerischen Vermögensverteilung blieben die für den Mittelstand anteilsmässig gewichtigen Pensionskassenvermögen unberücksichtigt. Die so gemessene Vermögensverteilung der Schweiz ist damit ähnlich „ungleich“ wie in Namibia. Nicht in den Studien erwähnt wurde, dass dies auch für Schweden gilt. Sowohl in der Schweiz wie in Schweden sorgen ausgebaute Sozialversicherungen dafür, dass der Mittelstand auch ohne zusätzliche Vorsorge gut abgesichert ist.
Schade – die Diskussion um die richtige Wirtschafts- und Sozialpolitik ist wichtig. Leider ist das Echo auf objektivere Beiträge gering. Mein Kollege Marius Brülhart zeigte, dass sich die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen und Vermögen in den Jahren vor der Finanzkrise in der Schweiz zwar leicht öffnete. Trotzdem sind die Verteilungen heute gleichmässiger als in den 1970er Jahren, die Veränderungen sind weit geringer als in anderen Ländern. Das zunehmende Wohlstandgefälle der Linken gehört also ins selbe Märchenland wie die grosse Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen von economiesuisse.
Dass verschiedene (Interessen-)Gruppen die Zuspitzung oder Ausblendung für ihre Zwecke verwenden, ist ja nichts Neues. Viele Täuschungsmanöver beruhen aber auf dem Basis-Trick und wären deshalb ebenso leicht zu erkennen, wie der Wolf an seiner schwarzen Pfote. Nur leider scheint es attraktiver, eine statistische Legende zu erfinden oder zu verbreiten als eine zu entlarven. So geistert das Bild der Schweiz als Drittweltland in bezug auf die Vermögensverteilung noch immer herum. Ist Skepsis zu langweilig? Oder liegt es daran, dass die meisten von uns keine Bauern mehr sind, die noch merken: Chabis!