Rationierung statt Ratio?

[Meine Kolumne in der NZZaS vom 19. Februar 2023, ohne die kleinen Kürzungen, die notwendig waren, um die 4600 Zeichen Limite einzuhalten.] 

Meine Mutter strich die Butter nicht, sie legte sie – zur Verwunderung von uns Kindern – in Zentimeter dicken Scheiben aufs Brot. Auch während zahlreicher Diätversuche zum Abnehmen und zur Senkung ihres zu hohen Cholesterolspiegels. 

Der Grund: Wie viele andere Lebensmittel, war Butter von 1939 bis 1948 auch in der Schweiz rationiert. Dies alleine hätte noch nicht gereicht, Mutters nie endendes Nachholbedürfnis zu erklären. Ihre eigene, früh verwitwete Mutter war gezwungen gewesen, die Buttermarken gegen andere notwendige Güter wie Schuhe für die noch kleinen Kinder einzutauschen. Obwohl meine Mutter den Sinn von Rationierungen im Krieg durchaus einsah, fürchtete sie sich ihr ganzes Leben vor weiteren solchen Einschränkungen. Ihr späterer Butterkonsum war ihre Waffe gegen diese Angst.

Und nun: Die Rationierungsidee ist zurück als eine der Strategien zur Bewältigung des Klimawandels. Etwas versteckt wie bei der Forderung, Flugreisen nur noch für Geschäftsreisen und Familienbesuche zuzulassen. Oder sogar als Leitidee in Ulrike Herrmanns „Ende des Kapitalismus“: eine Art Kriegswirtschaft mit Kern einer Rationierung von Gütern mit CO2-Hintergrund: Privatautos und Flugreisen (keine mehr), Nahrungsmittel wie Fleisch (ein paar Gramm pro Woche), Wohnraum, eigentlich fast alle Güter. 

Ganz gleich ist die Ausgangslage nicht: Ging es während der Kriege primär um eine einigermassen gerechte Zuteilung knapper lebensnotwendiger Güter, dienen die neuen Rationierungsideen dem erzwungenen Verzicht auf „schädliche“ Güter, deren Nachfrage momentan „zu hoch“ ist. Und das macht die Rationierungs-Strategie tückisch. Eine Rationierung und Ausschaltung des Preismechanismus ist das schlechteste Mittel, den Verbrauch fossiler Energien einzuschränken. 

Wer festlegt, in welcher Form der CO2-Ausstoss noch erfolgen darf, tut dies unter totaler Ausblendung der individuellen Präferenzen und der menschlichen Fähigkeit, sinnlose Restriktionen zu umgehen und durch Innovationen bessere Lösungen zu finden. Und vergisst dabei die Interdependenzen zwischen den Gütern und die internationalen Verflechtungen. Das Handy wird man den Menschen kaum wegnehmen. Doch was ist dann mit Netflix? 

Rationierung funktioniert prima mit den am letzten Tag einer Bergtour knapp gewordenen Lebensmitteln. Wer durch eine grössere Stadt flaniert, muss den Grössenwahnsinn einer umfassenden, der Umerziehung dienenden Rationierung sofort spüren. Selbst die geradezu einfach anmutenden Rationierungen im zweiten Weltkrieg mussten begleitet werden durch eine Vielzahl von Erlassen und ständiger Nachjustierung und Kontrollen.

Genau so wichtig: WER entscheidet, WIE die noch zugelassene Energie auf die Güter verteilt wird und zu welchem Preis diese an die Bevölkerung verteilt werden. Dies fängt schon bei den bescheidenen Formen der Rationierung an: Wer entscheidet nach welchen Kriterien, was ein genehmer, d.h. flugbegründender Familienbesuch ist? Und wer stellt sicher, dass keine zusätzlichen CO2-Schleudern (Rinder, Bitcoin-Farmen) aufgestellt werden?

Selbstverständlich spricht nichts gegen eine deutlich sparsamere Verwendung der Ressourcen – im Gegenteil: Doch der effizienteste, unbürokratischste und letztlich gerechteste Weg geht noch immer über den Preis. Zum Beispiel über eine – an die Bevölkerung zurückerstattete! – Lenkungsabgabe auf Energie in Abhängigkeit des CO2-Ausstosses. (Bitte jetzt keine Hinweise, dass die Schweiz zu klein sei, die Welt alleine zu retten; das stimmt selbstverständlich, gilt aber auch für die Rationierung.)

Die Anhängerinnen einer Rationierung scheiden diesem Mechanismus allerdings nicht zu trauen, er sei nicht wirksam. Damit argumentieren sie genau wie die Alkohol- und Tabaklobby im Widerstand gegen Lenkungsabgaben auf schädliche Substanzen. Und liegen genauso falsch. Wenn Lenkungsabgaben selbst bei Suchtmitteln funktionieren, gibt es keinen Grund anzunehmen, sie wirkten bei der Energie nicht. Wird beispielsweise der Flugpreis verdreifacht, bleibt der Flug sehr viel teuer als die Bahn, selbst wenn die ganzen Einnahmen an die Bevölkerung zurückerstattet werden. 

Es ist ohnehin naiv zu glauben, Rationierung, die Mutter der Korruption, würde den Markt ausschalten. In den Kriegswirtschaften gab es Sekundärmärkte, obwohl die Regierungen versuchten, diese durch sehr aufwändige Kontrollmechanismen zu verhindern. Und blühende Schwarzmärkte sind geradezu typische Ausprägungen aller Planwirtschaften mit festgelegten Mengen und Preisen. 

Das Problem dieser „Märkte“ ist, dass sie nicht mehr Angebot und Nachfrage widerspiegeln, sondern die Machtverhältnisse der Gesellschaft in unterschiedlichen Formen: Zugang zu den (klandestinen) Produzenten oder Händlern knapper Güter, die Nähe zu Beamten und zu Informationen. Wir können uns nur ausmalen, wie sehr diese Umgehungen spielen, wenn es nicht nur nicht nur um die Zuteilung knapper Güter geht wie in den Kriegen, sondern um eine obrigkeitliche Beschränkung durchaus vorhandener Güter. Darunter leiden würden diejenigen, die weder die Zeit noch das Wissen haben, in solchen Märkten mitzutun. Leiden, nicht nur unter dem künstlichen Mangel, sondern unter administrativer Demütigung.

Wie vor 80 Jahren meine Grossmutter: Mehr zugesetzt als die fehlende Butter hat meiner Mutter nämlich zeitlebens das Gefühl der Ohnmacht, Verwandten und Bekannten ausgeliefert gewesen zu sein, die die Notlage der vaterlosen Familie ausnutzten.

Unternehmensteuern: Der zweite Blick lohnt sich

Etwas ausführlichere Version meines Artikels Einnahmen aus Unternehmenssteuern steigen (nzz.ch) vom 27. November in der NZZ am Sonntag mit Links zu den Forschungspapieren.

Unternehmen geniessen in den Medien gegenwärtig wenig Sympathie, ganz besonders die grossen Multinationalen. Übergewinne, vernachlässigte Lieferketten, Steuervermeidung. Gerade die Steuern: Den Staaten fehlt es an Geld, und gleichzeitig sinken die Unternehmenssteuersätze. Kein Wunder, so scheint es zumindest, steigt die Staatsverschuldung überall an.

Doch, was sagt die Statistik. Die OECD lässt in ihrem kürzlich erschienenen Report «Corporate Tax Statistics» Corporate Tax Statistics: Fourth Edition – OECD die Zahlen zu den Unternehmenssteuern sozusagen für sich selbst sprechen. Diese sind in der Tat eindrücklich: Seit 2000 sind die Steuersätze im Durchschnitt um rund acht Prozentpunkte gesunken – in allen Regionen der Welt. Die effektiven Steuersätze sind oft noch tiefer, weil es insbesondere für Aufwendungen in Forschung und Entwicklung Steuererleichterungen gibt.

Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Der gleiche OECD-Report zeigt auch das, was letztlich zählt und zahlt: die Einnahmen aus der Unternehmenssteuern. Und diese sind im gleichen Zeitraum trotz der geringeren Steuersätze nicht gesunken, sondern deutlich gestiegen: von 12.6% auf 15% als Anteil and den gesamten Steuereinnahmen, von 2.6% auf 3.1% als Anteil am BIP, in allen Regionen der Welt mit Ausnahme der USA. In der Schweiz stiegen die Einnahmen des Bundes aus der Unternehmenssteuer seit 2000 um einen Viertel von 2.4% auf 3.1% des BIP.

Der Blick auf die Steuersätze im OECD Bericht ist nicht zufällig. Steuersätze sind einfach messbar und durch die Politik direkt beeinflussbar, und sie stehen auch im Fokus der OECD-Initiativen mit dem Ziel, die Gewinnverschiebungen zwischen den Ländern zu reduzieren. Ein anderes Bild vermitteln, wie erwähnt, die Steuereinnahmen. Im Vergleich zeigt sich auch, dass Zahlen nicht einfach für sich selbst sprechen. Die OECD zeigt die Entwicklung der Steuereinkommen brav in einer Grafik, deren vertikale Achse bei 0 belässt. Die Zunahme der Steuer-Einkommen wirkt daher bescheiden. In der Grafik der Steuersätze schneidet sie den Teil unter 15% ab und macht dadurch den Tubelihang zur Lauberhornabfahrt. Der Trick ist alt und aus Werbung und politischer Propaganda wohlbekannt.

Ob eine Absicht dahintersteckt, sei dahingestellt. Dass der Eindruck der fiskalischen Auszehrung zur Agenda der OECD passt, mag Zufall sein.  Immerhin stellt die OECD die Datenbasis und Hintergrundberichte öffentlich zugänglich zur Verfügung. Sie liefert damit eine sehr willkommene Grundlage für weitere Analysen. 

Nur muss man diese auch ansehen. Ein Blick auf die Forschung zeigt, dass es eben meist komplizierter ist, als der erste Blick suggeriert.

Zuerst ist nicht einmal klar, wer letztlich die Unternehmenssteuer zahlt (die Ökonominnen sprechen von Steuerinzidenz). Es ist eben nicht die Unernehmung als abstraktes Gebilde: Am Schluss zahlen immer Menschen. Aber nur die reichen Kapitaleigner! könnte man einwerfen. Stimmt auch nicht ganz. Wie eine sehr sorgfältig gemachte Studie aus Deutschland Do Higher Corporate Taxes Reduce Wages? Micro Evidence from Germany – American Economic Association (aeaweb.org) zeigt, tragen bei einer Erhöhung des Steuersatzes die Arbeitnehmenden indirekt über tiefere Löhne bis zur Hälfte der Steuerlast. Unter höheren Steuern leiden Geringqualifizierte, Junge und Frauen.

Im Gegenzug führen tiefere Steuersätze nicht einfach zu höheren Steuereinnahmen, wie man aus den OECD-Daten zu den Steuersätzen trug-schliessen könnte. Das musste zum Beispiel der Kanton Luzerns erfahren. Die Halbierung des Steuersatzes finanzierte sich nicht – wie erhofft – selber. The Corporate Elasticity of Taxable Income: Event Study Evidence from Switzerland (econstor.eu) Denn die Steuereinnahmen hängen nicht nur von der Wirtschaftslage ab, sondern auch von der Wettbewerbssituation und der Wirksamkeit von Massnahmen gegen Steuerhinterziehung oder Profit-Shifting. 

Genau um letzteres, der Verschiebung von Gewinnen über interne Verrechnungspreise geht es bei den politischen Vorstössen der OECD. Und das ist ziemlich kompliziert, wie eine Gruppe von ForscherInnen The Race Between Tax Enforcement and Tax Planning: Evidence From a Natural Experiment in Chile | NBER (unter ihnen die Zürcher Professorin Dina Pomeranz und der dezidiert linke Berkeley Professor Gabriel Zucman) am Beispiel Chile zeigte. 

Eine Gesetzesreform verschärfte dort die Informationspflichten der multinationalen Unternehmen über deren internationale Überweisungen Gleichzeitig erhielt die Steuerbehörde mehr Mittel zur Durchsetzung der Verrechnungspreisregeln. Die Reform machte Chile zu einem Musterknaben bei der Umsetzung der OECD-Verrechnungspreisstandards.

Doch die Analyse der qualitativ hochwertigen administrativen Daten zu Unternehmens-Steuern und -Zöllen zeigte ein ernüchterndes Resultat: Die verschärften Regeln erreichten nichts; die Einnahmen aus der Unternehmenssteuer blieben unverändert, ebenso die Preise der Waren; es gab keine Unterschiede zwischen von der Reform betroffenen und nicht betroffenen Firmen. Nur eine Branche profitierte massiv: Die Reform führte zu einem Boom bei der Beschäftigung von Verrechnungspreisexperten in Chile. Ein klassisches Beispiel unbeabsichtigter Folgen einer wirtschaftspolitischen Massnahme.

Solche Studien mit guten Daten sind wichtig für die politische Diskussion. Denn letztlich geht es darum, welche Art der Besteuerung von Unternehmen und Individuen der Gesellschaft am meisten bringt. Das ist nicht nur eine Frage der politischen Einstellung, sondern auch der Qualität der Entscheidungsgrundlagen. Die Politik tut gut daran, empirisch belastbare Grundlagen zu künftigen Vorlagen zu schaffen. Denn, wie das Beispiel der gescheiterten Verrechnungssteuer-Reform zeigt, sind die Stimmbürgerinnen nicht nur kritischer gegenüber Unternehmen geworden, sondern auch gegenüber schlecht dokumentierten Vorlagen. Wirtschaftselixier Verrechnungssteuerreform? | Batz

Wie sogar unverbesserliche Warmduscher plötzlich zu Energiesparern werden

Monika Bütler

Meine Kolumne Geld & Geist: Vom unverbesserlichen Warmduscher zum Energiesparer (nzz.ch) in der NZZ am Sonntag vom 2. Oktober in einer etwas ausführlicheren Version, ergänzt mit Links zu Forschungsarbeiten.  

«Die Deutschen erhalten die Gasrechnung – und werden wütend» titelte der Tagesanzeiger vor gut einer Woche. Die Wut ist verständlich. Die Haushalte leiden stark unter den gestiegenen Preisen. Dazu kommt ein Ohnmachtsgefühl, wenn erstens die Rechnung für den Energiekonsum erst dann kommt, wenn er nicht mehr verändert werden kann. Und wenn zweitens den meisten gar nicht klar ist, wo und wie sich Energiesparen lohnt. 

Genau um die Sichtbarkeit des Energiekonsums ging es in einem Experiment vor einigen Jahren in Zürich. Die WissenschaftlerInnen Verena Tiefenbeck, Lorenz Goette, Kathrin Degen, Vojkan Tasic, Elgar Fleisch, Rafael Lalive und Thorsten Staake Overcoming Salience Bias: How Real-Time Feedback Fosters Resource Conservation | Management Science (informs.org)*  wollte herausfinden, ob eine sofortige Rückmeldung zum Verbrauch das Verhalten den Menschen beeinflussen kann. Zu diesem Zweck installierten sie zusammen mit dem EWZ (Elektrizitätswerk Zürich) in mehreren hundert Haushalten digitale Geräte zur Messung des Energieverbrauchs beim Duschen in Echtzeit. Die Daten der Testhaushalte wurden anschliessend mit denjenigen einer Kontrollgruppe ohne Geräte verglichen. 

Das verblüffende Resultat: das Feedback noch unter der Dusche reduziert den Energieverbrauch um ganze 22%, oder um deutlich mehr, als der durchschnittliche Haushalt für die Beleuchtung ausgibt. Dies ohne irgendwelche Belohnungen für die Testgruppe und in einer Zeit, in der die Energiekrise noch in weiter Ferne schien. 

Die Einsparungen waren höher, länger anhaltend und treffsicherer als Kampagnen («Ogi kocht Eier») oder als Interventionen, die den Energieverbrauch zeitverschoben oder aggregiert zurückmeldeten, zum Beispiel als Wochenrechnung. Die Echtzeitfeedbacks wirkten nicht nur in der Anfangsphase, sondern über die ganze Versuchszeit von mehr als zwei Monaten. Und das Schönste: Gerade diejenigen, die bisherigen Lang-Warm-Duscherinnen reduzierten beim Echtzeit-Feedback ihren Verbrauch am meisten. 

Das Sprichwort «Ab Aug’ ab Herz» gilt auch hier: Menschen haben die Tendenz, sich auf Dinge oder Informationen zu konzentrieren, die sichtbar sind und auffallen, während sie eher ignorieren, was nicht ins Auge fällt. Die Forschung spricht von einem Salience Bias (etwas schwerfällig als «Hervorhebungsverzerrung» übersetzt). Das heisst nicht, dass die Leute irrational oder faul sind. Nur ist Informationsbeschaffung und -verarbeitung oft zeitaufreibend und teuer. (Für Interessierte: Etwas Hintergrund zur Rolle von Salience bei ökonomischen Entscheidungen Pedro Bordalo, Nicola Gennaioli und Andrei Shleifer Salience | NBER)

Die Wirkung der Salience von Informationen auf unser Verhalten ist nicht auf den Energieverbrauch beschränkt. Die empirische Forschung zeigt klar, dass auch die Sichtbarkeit von Steuern und Gebühren einen Einfluss auf das Verhalten der Konsumenten und Steuerzahlerinnen hat. 

So zeigen die amerikanischen Forscher Raj Chetty, Adam Looney, and Kory Kroft Chetty_SalienceTaxation.pdf (harvard.edu), dass die Verkaufssteuer in Geschäften unterschiedlich wirkt, je nachdem, ob sie bereits auf den Preisschildern im Regal eingerechnet und somit sichtbar ist (wie in den USA üblich) oder erst statt nachträglich an der Kasse erhoben wird. Mit Preisschildern inklusive Verkaufssteuer war die Nachfrage im Lebensmittelgeschäft um 8 Prozent geringer.

Auch eine Alkoholsteuer, die in den angegebenen Preisen enthalten ist, reduziert den Alkoholkonsum stärker als eine Steuer, die an der Kasse zum Rechnungsbetrag addiert wird. Für die Geschäfte und den Fiskus ist es somit profitabel, wenn die Steuer erst dann erhoben wird, nachdem die Kaufentscheidung bereits gefallen ist. Doch die geringe Sichtbarkeit von Lenkungssteuern verändert das Konsumverhalten und unterläuft die angestrebte Prävention. 

Eine geringe Sichtbarkeit von Verbrauch und Gebühren für die Konsumenten wirkt sogar zurück auf Preise und Steuersätze. Amy Finkelstein E-ZTax: Tax Salience and Tax Rates | NBER analysiert dies am Beispiel der Strassengebühren: Werden die Gebühren elektronisch erhoben – das heisst so, dass die Autofahrer sie nicht jedes Mal direkt sehen können, wenn sie eine Bezahlstation passieren – liegen die Gebühren um etwa 20-40% höher im Vergleich zu einer manuellen Bezahlung.

Je sichtbarer („salient“) eine Steuer ist, desto grösser der politische Druck, den Steuersatz tief zu halten. Daten aus den USA zeigen, dass der Übergang zur Quellenbesteuerung – anstelle der in der Schweiz üblichen Steuererhebung beim Individuum – tendenziell zu höheren Steuern führte. Versteckte Steuern wie die Quellensteuern lassen sich besser erheben und erhöhen als klar sichtbare Steuern. 

Ein interessantes Beispiel dafür ist die US amerikanische property tax (eine Art Grundsteuer, die sich am Wert des Grundstücks/Immobilie misst und die auf Gemeindeebene erhoben wird), wie Marika Cabral und Caroline Hoxby The Hated Property Tax: Salience, Tax Rates, and Tax Revolts | NBER zeigen: Als sichtbarste Steuer wird sich am vehementesten bekämpft, inclusive Steuerrevolten. Dies obwohl die meisten Amerikaner viel mehr Einkommenssteuern als property tax bezahlen.

Wir unterschätzen nicht nur unseren (Energie)Verbrauch, sondern auch Gebühren und Steuern, wenn sie nicht direkt sichtbar sind. Mit weitgehenden Konsequenzen: Unvollständig informierte Menschen können sich schlechter anpassen und sich auch weniger wehren. Die Verzerrungen kosten; nicht nur den Einzelnen, sondern gerade im Energie- und Klimabereich der Gesellschaft insgesamt. 

Bequemerweise müssen wir zum Duschen keine Münzen mehr einwerfen (obwohl die Geräte noch im Handel sind). Wie im EWZ-Versuch kann die Digitalisierung, Informationen in unserem Alltag in Echtzeit verfügbar machen. Und wir können unsere Entscheidungen so treffen, wie wir wirklich möchten. 

Sichtbarkeit im Sinne von Salience bedingt auch Fokussierung. Ein Haushalt mit dem Armaturenbrett eines Jumbo-Jets ist nicht die Lösung. Gerade dort, wo der Staat eine Echtzeit-Messung fördert, lohnt sich eine Konzentration auf das Wichtigste. Sonst kippt die Informationslücke in eine Informationsflut. In einer Energiekrise nützt der Kilowattzähler am Eierkocher kaum mehr als an Sparkoch Ogi zu denken.

Angst essen Wirtschaft auf

Monika Bütler (erschienen in NZZaS 26.04.2020)

Für einmal waren einige Epidemiologen schneller als fast alle Wirtschaftsbeobachter. Während erstere Anfangs Februar ihre Aktien verkauften, prognostizierten letztere noch einen überschaubaren Rückgang des Weltwirtschaftswachstums. Von Rezession oder gar Depression war nicht die Rede. Nur wenige Wochen später und mit vollständigen oder partiellen Lockdowns in vielen Ländern wissen wir: Die Kosten der COVID19 Krise werden gigantisch sein (z.B. Studie Atkeson, Studie BIS). Gleichzeitig keimt bei Vielen die Hoffnung auf, dass eine Lockerung der staatlichen Einschränkungen einen grossen Teil Einbruchs wieder wettmachen könnte.

Doch was wissen wir überhaupt über die Kosten des Virus? (Spoiler: schuld sind nicht nur staatliche Massnahmen.) Was sind die Grundkonflikte, die sich der Wirtschaftspolitik in dieser Krise stellen? (Es ist kompliziert.) Und was soll die Wirtschaftspolitik tun, um die langfristigen Schäden möglichst gering zu halten und der Gesellschaft nach einer – so hoffen wir möglichst schnellen – Eindämmung des Virus einen gelungenen Neustart zu ermöglichen? (In den Worten Mario Draghis: whatever it takes)

Zum ersten: Erste Schätzungen und Daten zeigen klar: Die wirtschaftlichen Kosten der Pandemie sind nicht allein die Folge der staatlichen Restriktionen. Die Pandemie selbst hat direkte Kosten in Form von Arbeitsausfällen wegen Krankheit oder Quarantäne, Schutzmassnahmen, der Betreuung erkrankter Menschen und der mit der Krankheit verbunden organisatorischen Massnahmen (Studie Kahn). Die KOF schätzt deren Beitrag auf rund 10-15% des Wirtschaftseinbruchs. Staatliche Einschränkungen und individuelle Verhaltensänderungen machen weitere rund 30-40% des Einbruchs in der Schweiz aus. Meist wird unterschätzt, dass die Menschen in einer Pandemie aus Vorsicht oder Angst vor Ansteckungen ihr Verhalten freiwillig anpassen (KOF Studie). So zeigen Restaurantbuchungen vor den Lockdowns in den USA, dass rund zwei Drittel des Rückgangs nicht auf die staatlich verordneten Schliessungen, sondern auf die Vorsicht der Kunden – von den Ereignissen in Europa gewarnt – zurückgehen (Studie Gupta). Selbstauferlegte Restriktionen führten selbst im liberalen Schweden zu massiven Einbrüchen in Konsum und Mobilität (Studie Dahlberg).

Der Rest, also rund die Hälfte, ist der internationalen Entwicklung geschuldet. Die Nachfrage nach Schweizer Gütern ist eingebrochen, Aufträge werden in die Zukunft verschoben, die Grenzen sind geschlossen und Lieferketten sind gerissen (Studie Baldwin, KOF Indikatoren, Global Trade Alert). Dies alles liegt teilweise auch an staatlichen Restriktionen im Ausland – nur können wir diese nicht beeinflussen.

Ernüchternde Folgerung: Selbst wenn die Schweiz sämtliche Restriktionen lockerte, hätten wir wohl noch immer eine deutlich geringere Wirtschaftsleistung. Profitieren wird das Land hingegen von allfälligen Normalisierungen im Ausland.

Zum zweiten: Gesundheit oder Wirtschaft? Unbestritten und empirisch belegt ist, dass Lockdown-Massnahmen (zu denen auch freiwillige Einschränkungen gehören) Menschenleben retten, je früher desto mehr. Gleichzeitig treiben diese Massnahmen aber auch die Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit in die Höhe. Ob langfristig gesehen zwischen Gesundheit und Wirtschaft ein Zielkonflikt besteht, ist sehr viel schwieriger zu beurteilen. Nicht nur weil das Aufwiegen Menschenleben gegen Wirtschaftsleistung heikel ist, oder weil bei Covid19 mit der Überlastung des Gesundheitswesens eine weitere Komplikation dazu kommt. Sondern weil wir viel zu wenig wissen sowohl über die weitere Entwicklung der Krankheit (Spätfolgen, Immunitäten, medizinischer Fortschritt), als auch über die Mechanismen eines Aufschwungs. Wenn das Virus besiegt ist, wird die Welt anders aussehen. Wie wissen wir noch nicht.

Möglicherweise ist der Zielkonflikt zwischen Gesundheit und Wirtschaft gar keiner. Bei der Spanischen Grippe von 1918/19 hatten jene Städte, die früh Massnahmen trafen (Lockdowns, social Distancing) nicht nur weniger Menschenopfer zu beklagen, sondern hatten später auch einen stärkeren Aufschwung. Die Wirtschaft erkrankte an der Grippe, nicht am Lockdown (Studie Correia). Ein oft genannter Einwand gegen staatliche Restriktionen ist, dass nicht nur das Virus, sondern auch eine Rezession zu Todesfällen führt. Empirisch gilt dies in den Industrieländern allerdings nicht. Tiefe Rezessionen führen zu psychischen Problemen, aber nicht zu mehr Todesfällen, wie eine Studie des Nobelpreisträgers Angus Deaton zeigt (Studie Deaton, Studie van den Berg oder Studie Ruhm).

“Angst essen Wirtschaft auf” – so könnte man in Abwandlung des Filmtitels von Rainer Werner Fassbinder den Zusammenhang zwischen Virus und Wirtschaft zusammenfassen. Die Menschen haben Angst vor Ansteckungen. Dies zeigen Auswertungen der Anrufe bei “Die Dargebotene Hand” (Studie Brülhart und Lalive). Und diese Angst lähmt die Wirtschaft. Es ist eine alte und sehr gut dokumentierte Lehre aus der ökonomischen Analyse: Das Vertrauen der Menschen erklärt einen wesentlichen Anteil ihrer Investitions- und Konsumentscheidungen. Die Wirtschaftspolitik muss deshalb die schwierige Balance finden zwischen Öffnung und Beruhigung.

Sei es wegen Lehren aus früheren Krisen, ersten Erkenntnissen von COVID19 in China und Italien, oder Unsicherheiten über den weiteren Verlauf der Seuche, die Krise führte zu einem ungewohnten Konsens unter der Ökonom(inn)en amerikanischer Spitzenuniversitäten: Tiefe wirtschaftliche Einbrüche müssten in Kauf genommen werden, um die Verbreitung des Virus einzudämmen und eine zweite, wirtschaftlicher vermutlich viel verheerende Welle zu verhindern (IGM Forum).

Was uns zum dritten führt: “Was tun?” Kaum jemand bestreitet die Notwendigkeit einer grosszügigen Abfederung der Krise in den nächsten Monaten. Wenn gesunde Unternehmen illiquid sind, zerbrechen für den Neustart wertvolle Strukturen im Konkurs. Insbesondere die Möglichkeit der Kurzarbeit, um die uns viele Länder beneiden, sichert den Angestellten einen grossen Teil des Einkommens und erlaubt es den Betrieben, ihr Personal zu behalten.

Im Gegensatz zu normalen Rezessionen sind in der COVID19 Krise die Firmen sehr unterschiedlich exponiert. Zudem machen bei KMUs, die wegen des Lockdowns ihren Betrieb einstellen mussten oder nur im reduzierten Masse arbeiten, die Kapitalkosten rund 40% der Wertschöpfung aus. Eine teilweise Kompensation dieser Kosten durch den Staat versichert nicht nur die unverschuldeten Einkommenseinbrüche, sondern führt auch zu einer breiteren Verteilung der Lasten.

Die Crux der Politik ist, dass sie es eigentlich nur falsch machen kann, sei es im Lockdown, sei es in der Wirtschaftsrettung. Reagiert sie zurückhaltend und spät, sind die Schäden an Menschen und Wirtschaft gross. Reagiert sie kühn und rechtzeitig (oder allenfalls zu früh), wird der Vorwurf laut, sie hätte überreagiert und so den Schaden verursacht. Auch die Politik ist vom Missverhältnis zwischen Wissen und Risiken schlicht überfordert. Denn, wie die Epidemiologen schon im Februar richtig erkannten: Der Boss ist das Virus.

 

Vermögensungleichheit bei nicht-menschlichen Tieren

Monika Bütler

«We present the first description of “wealth” inequality in a non-human animal». Interessant – zumal die Vermögensungleichheit in diesem Blog schon mehrere Male diskutiert wurde (siehe hier und hier oder hier). Grund genug, die Batz-LeserInnen an den Resultaten teilhaben zu lassen.

Die Studie befasst sich mit der Behausung von Einsiedlerkrebsen. (Zur Erinnerung: Einsiedlerkrebse bewohnen leere Schneckenhäuser oder ähnlichen Behausungen, die von anderen Lebewesen stammen). Konkret messen die Forscher die Verteilung der Grösse der Schneckenhäuser (interpretiert als das Vermögen der Einsiedlerkrebse) und vergleichen sie anschliessend mit der Vermögensverteilung menschlicher Tiere.

Der gemessene Gini Koeffizient der Krebse ist um 0.32. Er ist somit deutlich kleiner als der Gini-Koeffizient heutiger Industriestaaten, bei denen die Gini Koeffizienten zwischen circa 0.50 (Slowakei) und 0.85 (das sehr vermögensungleiche Schweden) liegen. Zur Illustration habe ich die Lorenzkurve der Einsiedlerkrebse aus den Daten des Papers rekonstruiert und damit meine alte Graphik zum Vermögensverteilungsquiz (siehe hier und hier) mit den brandneuen Erkenntnissen angereichert. Tatsächlich liegt die Kurve deutlich über derjenigen der relativ vermögensegalitären Länder wie Irland und Japan.  Auf jeden Fall erreichen die Krebse eine Vermögensverteilung, von der Thomas Piketty nur träumen kann.

Die Forscher argumentieren, dass die gemessene Ungleichheit unter den Einsiedlerkrebsen eher mit derjenigen von kleineren Menschengruppen (Jäger und Sammler zum Beispiel) vergleichbar sei. Möglicherweise ist der Vergleich der Krebsimmobilien mit den menschlichen Vermögen nicht der richtige. Die Schneckenhäuser werfen ja – ausser dem Eigenmietwert – keine Rendite ab und können weder abgebaut noch aufgebaut werden. Eine Verschuldung – wie bei einem guten Viertel der Schweden beobachtet wird – ist auch nicht möglich. Zieht man als Vergleich die Verteilung der Einkommen menschlicher Tiere heran, ist die Übereinstimmung hingegen frappant.

Ob die Einsiedlerkrebse zum Verständnis der Ungleichheit unter den Menschen taugen, wie die Forscher suggerieren, ist meines Wissens noch nicht restlos geklärt.

PS: Wer sich für die Messung der Vermögensungleichheit interessiert, hier noch mein Beitrag für das Magazin Cicero.

Quelle: I.D. Chase, R. Douady and D.K. Padilla, A comparison of wealth inequality in humans and non-humans, Physica A (2019), doi: https://doi.org/10.1016/j.physa.2019.122962

Ergänzungsleistungen (EL) und Vermögen

Monika Bütler

National- und Ständerat streiten um die – dringend notwendige – Reform der Ergänzungsleistungen (siehe NZZ und Tagesanzeiger, zum Beispiel). Ein Knackpunkt dabei ist die Anrechnung des Vermögens.

Heute beträgt der Freibetrag zum Bezug von EL 37‘500 Franken, das darüber hinausgehende Vermögen wird nur zu 1/10 (im Heim: 1/5) zum Einkommen gerechnet. Es ist somit möglich, EL zu beziehen mit einem Vermögen von deutlich über 100’000 Franken. Das ist aus verschiedenen Gründen heikel: Erstens, weil mit diesem partiellen Vermögensschutz die Erben auf Kosten der Steuerzahler versichert werden. Zweitens, weil eine solch komplizierte Regelung zu einer Bevorzugung von potentiellen EL Bezügern mit mehr Wissen (oder schlauen Kindern) führt. Zu guter Letzt widersprechen Zahlungen an Bezüger mit genügend Vermögen dem Sinn von bedarfsorientierten Leistungen.

Der Nationalrat möchte nun die Vermögensgrenze auf 100’000 Franken absenken und „übermässigen“ Verwendung des Kapitalbezugs aus der zweiten Säule mit einer 10% Strafkürzung auf den EL belegen. (In Klammern, aber wichtig: Es wäre besser gewesen, die Vermögensanrechnung bei EL zur IV anders zu behandeln als die EL zur AHV. Für die IV wäre eine höhere Vermögensgrenze angemessen, da es hier nicht um den Schutz der Nachkommen geht, sondern um die eigene künftige Lebensgrundlage der Versicherten.)

Unbestritten hat das schweizerische Sozialversicherungssystem starke Anreize für einen Kapitalbezug aus der zweiten Säule (siehe hier und hier und hier). Das durch die EL garantierte Einkommen liegt rund 1000 Franken pro Monat über der AHV-Maximalrente. Wer eine relativ kleine Rente aus der Pensionskasse und kein Privatvermögen hat, fährt mit dem Barbezug fast immer besser als mit der Rente. Besser fahren auch diejenigen mit einer kürzeren Lebenserwartung – oft Menschen, die nicht so Glück hatten im Leben,

Die Anreize kommen allerdings nicht nur von den EL; die steuerliche Belastung des Kapitalbezugs ist in den meisten Kantonen ungleich tiefer als die Steuerlast auf den PK Renten. Salopp gesprochen bestraft man Leute, die vorher wegen tieferen Steuern zum Barbezug gelenkt wurden (wobei auch die Pensionskassen wegen überhöhten Umwandlungssätzen keine Veranlassung sehen, dies zu ändern).

Eine Anrechnung vergangener Ausgaben ist heikel, rechtlich und praktisch. Abgesehen von Schenkungen an die Nachkommen: Wie soll der Staat beurteilen, welche Ausgaben „unnötig“ waren, wann der Verbrauch des Kapitals „vorzeitig“ war? Vielleicht wurde das PK Kapital bezogen, um eine vorzeitige Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen zu finanzieren (und die IV zu schonen)? Vielleicht war die Bezügerin krebskrank zum Zeitpunkt der Pensionierung? Ausser in wenigen klaren Fällen (Schenkungen an Kindern, Immobilienerwerb) ist die Beurteilung eines vorzeitigen Verbrauchs der PK Guthaben willkürlich und anmassend.

Was tun? Es ist sinnvoll – wie vorgeschlagen – die Vermögensgrenze zu senken. Die EL sind nicht dazu da, die Erben zu schützen. Die Vermögensgrenze bei den EL zu AHV hätten man noch weiter senken können und dafür die partielle (für viele zu komplizierte) Anrechnung des Vermögens als Einkommen fallen lassen. Wer zuerst den Grossteil des Vermögens abbauen muss, wird sich seine Anschaffungen/Ausgaben gut überlegen – ob mit oder ohne Kapitalbezug aus der PK.

PS1: Vielleicht überlegen sich ja die PolitikerInnen auch einmal, ob es wirklich sinnvoll ist, den Kapitalbezug steuerlich zu subventionieren – um ihn dann später wieder zu bestrafen.

PS2: Hausbesitz kompliziert die Analyse ein wenig. Es gibt aber genügend Ideen (zBsp Rückzahlung der EL bei der Veräusserung/Vererbung des Hauses), damit umzugehen.

 

Führt die Reform 2020 zu mehr Frühpension?

Rafael Lalive & Stefan Staubli

Die Reform der Altersvorsorge 2020 senkt die Kosten einer Frühpension. Im geltenden System kann eine Rente maximal zwei Jahre vorbezogen werden. Für jedes Jahr Vorbezug wird die Rente um 6.8 Prozent gekürzt. Vorbezug kostet, eine volle Rente von z.B. 2000 CHF schmilzt auf 1864 CHF, aber er kann sich auch lohnen, insbesondere für Personen, welche gesundheitlich geschwächt sind.

Die neue AHV ermöglicht einen Rentenvorbezug um bis zu drei Jahre bei tieferen Kürzungssätzen: 4.1 Prozent für ein Jahr Vorbezug, 7.9 Prozent für zwei Jahre Vorbezug und 11.4 Prozent für drei Jahre Vorbezug. Diese Abschläge sind deutlich geringer, die oben erwähnte Vollrente von 2000 CHF sinkt lediglich auf 1918 CHF bei einjährigem Vorbezug. Die neue AHV kürzt die Renten deutlich weniger als die alte, also sollten mehr Menschen von der Möglichkeit eines Vorbezugs Gebrauch machen.

Wir können die Auswirkungen der neuen AHV heute noch nicht messen. Die 1997 in Kraft getretene 10. AHV-Revision ermöglichte jedoch den Vorbezug zu einem noch geringeren Kürzungssatz. Frauen, die zwischen 1939 und 1947 geboren wurden, konnten ihre Altersrente zu einem Kürzungssatz von nur 3.4 Prozent für jedes Jahr Vorbezug vorbeziehen. Allerdings waren diese Frauen ebenfalls von der Erhöhung des ordentlichen Rentenalters auf zuerst 63 Jahre und dann 64 Jahre betroffen. Sehr viele der betroffenen Frauen sollten also einen Vorbezug tätigen, d.h. ihre Altersrente beim ordentlichen Rentenalter vor der Reform beziehen.

LaliveStaubliDie Grafik weist den Anteil aller Frauen der Jahrgänge 1938 und 1939 , die eine AHV oder IV Pension beziehen, aus. Im Jahrgang 1938, mit ordentlichem Rentenalter 62, beziehen rund 15 Prozent aller Frauen eine IV Pension vor 62 und alle Frauen eine AHV Pension im Alter von 62 Jahren. Im Jahrgang 1939, mit ordentlichem Rentenalter 63, treten mehr als zwei Drittel aller Frauen den Pensionsbeginn erst im Alter 63, beim neuen Rentenalter, anstatt die Rente mit 62 zu beziehen. Lediglich rund 18 Prozent allter Frauen des Jahrgangs 1939 tätigen den Vorbezug zum tiefen Kürzungssatz von 3.4 Prozent.

Vorbezug macht wenig Sinn für arbeitende Frauen, da der Bezug der Alterspension steuerlich unattraktiv ist. Viele Frauen arbeiten mit 61 Jahren jedoch nicht mehr und diese Frauen sollten eher den Vorbezug der Rente wählen. Aber auch diese nicht mehr arbeitenden Frauen schieben den Pensionsbezug auf, genau wie Frauen, welche mit 61 Jahren noch arbeiten. Eine deutliche Vergünstigung der Frühpension führt nur zu wenig Vorbezug. Weshalb?

Pensionsentscheide sind komplex, erfordern viel Information und basieren auf Annahmen über die Zukunft. Zudem wird in der Schweiz jedermanns Pension automatisch am Rentenalter berechnet, selbst wenn man sich nicht darum bemüht. Es gibt im wesentlichen zwei Arten mit Komplexität umzugehen. Aktive Menschen informieren sich und suchen den für sie besten Entscheid. Andere sind passiv, informieren sich wenig, und lassen geschehen, was das System für sie vorsieht. Wie viele Menschen die aktive oder die passive Strategie verfolgen ist schwer direkt erfragbar, aber trotzdem entscheidend dafür wie eine Reform die finanzielle Gesundheit der AHV beeinflusst.

Die 10. AHV-Revision bietet eine einmalige Gelegenheit, den Anteil der Menschen mit passiver Strategie abzuschätzen. Alle Menschen mit passiver Strategie sollten beim Rentenalter in Pension gehen, während die meisten Menschen mit aktiver Strategie die Rente früh beziehen sollten, weil ein Vorbezug sehr günstig war. Unsere Analysen zeigen, dass rund zwei Drittel aller von der 10. AHV-Revision Betroffenen ihren Pensionsentscheid aktiv gestaltet haben. Rund ein Drittel hat sich passiv verhalten und die Pension am ordentlichen Rentenalter bezogen.

Passives Pensionsverhalten verzerrt die Wirksamkeit von Pensionsreformen. Eine Erhöhung des Rentenalters verschiebt den Rentenantritt stärker als in einer Welt, in der alle Menschen aktiv sind. Finanzielle Anreise, wie das Reduzieren der Kosten einer Frühpension, wirken jedoch weniger stark, weil Menschen mit passiver Strategie diesen Anreizen einfach keine Beachtung schenken. Eine Pensionspolitik, welche nur auf das Erhöhen des Rentenalters mit einfachem Zugang zu einer Frühpension setzt, bürdet Menschen mit passiver Entscheidungsstrategie hohe Kosten auf. Diese warten länger auf eine Pension, obwohl eine Frühpension optimal wäre.

Diese Kosten können wir senken. Wir können Information zu den Konsequenzen von Pensionsentscheiden so zur Verfügung gestellt wird, dass auch Menschen mit passiver Pensionsstrategie sie wahrnehmen. Ein Vermögensauszug ähnlich dem aus der zweiten Säule, der alle Pensionsvermögen und Einkommen zu einem Gesamtvermögen verrechnet, könnte vielen Menschen helfen ihre Pensionsentscheide aktiv zu gestalten.

Zu den Autoren:
Rafael Lalive und Stefan Staubli sind Professoren der Wirtschaftswissenschaft in Lausanne und Calgary. Sie untersuchen die letzte Rentenreform im Rahmen eines Forschungsprogramms des National Bureau of Economic Research, das sich allen Fragen um Pensionsreformen widmet.

Service Public

Monika Bütler

Unser älterer Sohn, 15, besuchte mich in den Sommerferien am Arbeitsplatz in St. Gallen. Als er dem Kondukteur (neu Reisezugbegleiter) seinen SwissPass zeigt, legte dieser die Stirn in Falten. Das GA war schon mehrere Male in der Waschmaschine gelandet, nach Umwegen auf dem Fundbüro, auf dem Fussballplatz und wer weiss noch wo. An mehreren Stellen gebrochen und kaum mehr lesbar. „Du solltest Dir dringend eine neue Karte besorgen“, meinte der Kondukteur.

Unser Sohn erzählte die Geschichte noch am gleichen Abend (was bei der Verschwiegenheit von Teenagern ja bereits an ein Wunder grenzt). Wir waren uns einig, dass wir das ohnehin mal in Angriff nehmen müssten – auch weil das Bild noch aus der Kindergartenzeit stammte. Und dann kamen dringendere Sachen dazwischen und wir schoben die Angelegenheit auf die lange Bank.

Etwa 10 Tage später erhielt unser Sohn ein Schreiben der SBB. Darin enthalten: einen nigelnagel neuen SwissPass. Unser Sohn glaubt bis heute nicht recht, dass der gute Kondukteur selber die neue Karte bestellt hatte. So etwas sei doch gar nicht menschenmöglich. Ein Wunder. Doch eine andere Möglichkeit gibt es nicht: mein Mann und ich waren es bestimmt nicht.  Und so reist unser grosser Teenager mit einem neuen GA durch die Welt – mit Kindergartenfoto.

 

Mini-Regierungsprogramme statt Sachvorlagen – die schleichende Abwertung der direkten Demokratie

Monika Bütler

(erschienen unter dem Titel „Je heikler die Reform, desto grösser die Vorlage“ in der NZZ am Sonntag, 8. Juli 2017)

„Ihr Schweizer stimmt über den Umwandlungssatz ab?? Du machst Witze?!“ Die Verblüffung meines kanadischen Kollegen ging weit über die politische Bestimmung des Umwandlungssatz hinaus: Eine Rentenreform direkt-demokratisch?

In Festreden und nach Abstimmungen – vor allem nach gewonnenen – wird unsere Direkte Demokratie gern gelobt. Zurück im politischen Alltag trauen unsere Parlamentarier und Regierenden dem Urteil der Stimmbürger(innen) nicht immer. Und verpacken heikle Entscheidungen mehr und mehr in wahre Monstervorlagen.

Die Auswirkungen der Energiestrategie ES2050 überblickte kaum jemand. Selbst Experten haben Mühe, alle Elemente der im Herbst zu entscheidenden Reform zur Alterssicherung AV2020 zu verstehen. Die vor kurzem abgelehnte Unternehmenssteuer-Reform war da fast schlank.

Solche umfangreichen und komplizierten Vorlagen mit kaum abschätzbaren Folgen sehen weniger wie Sachvorlagen aus als wie schwammige Mini-Regierungsprogramme einer grossen Koalition. Dies zeigt sich auch in den Debatten: Argumente treten in den Hintergrund, Überzeugungen in den Vordergrund. „Es gibt keine Alternative.“ „Wer gegen uns ist, spielt den Linken/Rechten in die Hände.“ Werbebüros werden dafür bezahlt, die Vorlagen wieder „einfach“ zu machen.

Zugegeben, die Welt ist komplex (was sie im Urteil der Zeitgenossen früher schon war). Drum sind gewisse Abstimmungsvorlagen notgedrungen anspruchsvoll. Nur: Sie werden noch komplexer, wenn unterschiedliche Vorlagen aus abstimmungstaktischen Gründen zu Paketen geschnürt werden. Oder wenn Zückerchen für potentielle Gegner die angedachten Reformen zu wahren Wundertüten anreichern.

Tatsächlich hat der Souverän nicht immer den Weitblick gehabt, eine letztlich erfolgreiche Reform bei der ersten Gelegenheit durchzuwinken. Die Langsamkeit der Direkten Demokratie ist aber nicht unbedingt schlecht. Mit Abstimmen ist ein Lernprozess der Stimmbürger verbunden. Gleichzeitig entwickeln sich auch die Vorlagen. Ein Paradebeispiel ist die AHV, die nach mehreren Fehlversuchen in den dreissiger Jahren 1949 in der Volksabstimmung obsiegte.

Die meisten Schweizer(innen) sind stolz auf die direkte Demokratie. Zu Recht: Sie haben sie nämlich nicht gratis erhalten. Und mussten schon früher mehrmals für sie kämpfen. Von 1914 bis 1949 hielten Bundesrat und Parlament – aus Angst vor dem unwissenden Volk – wenig von direkter Demokratie. Lieber regierten sie, wie Martin Beglinger in einem faszinierenden Essay (NZZ Geschichte No 10) nachweist, mittels Dringlichkeitsrecht. Initiativen wurden zum Teil über 10 Jahre verschleppt oder gingen ganz „vergessen“. Bis welsche Erzföderalisten und Gottlieb Duttweiler den Stimmbürgern wieder zu ihren Rechten verhalfen – dies gegen Willen sämtlicher grosser Parteien.

Vom obrigkeitlichen Misstrauen gegenüber dem Souverän zeugen noch heute die Hürden für Initiativen: nicht nur die Unterschriftenzahl, sondern auch das Erfordernis der Einheit der Materie. Dies kontrastiert seltsam zu den Monstervorlagen neueren Datums, die den Einheits-Test wohl verfehlen würden.

Man kann mit guten Gründen die direkte Demokratie kritisieren und sie anpassen wollen. Eine Aushebelung durch die Hintertür mit Miniregierungsprogrammen ist der falsche Weg. Die Vor- und Nachteile der direkten Demokratie müssen offen diskutiert werden können. Die Urteilskraft der Stimmbürgerinnen sollte man ohnehin nicht unterschätzen: So wurde die Direktwahl des Bundesrates schon dreimal abgelehnt: 1900, 1942 und 2013. Das fand mein kanadischer Kollege ebenfalls erstaunlich.

 

RentnerInnen im Ausland – ein kleiner Nachtrag

Monika Bütler

RentnerInnen im Ausland trügen nichts zur Wertschöpfung in der Schweiz bei, ärgerte sich die FDP Präsidentin Petra Gössi. Daher seien auch die 70 Franken Zuschlag für Neurentner abzulehnen, weil rund 30% der Pensionierten im Ausland leben. Tendenz steigend. Zu überlegen sei zudem eine Anpassung der Renten an die jeweiligen Lebenshaltungskosten der RentnerInnen im Ausland.

Der Aufschrei folgte sofort. Zu Recht. Erstens geht es niemanden etwas an, wo die Pensionierten ihren Lebensabend verbringen. Zumal gerade für ehemalige Gastarbeiter die Rente oft nur im Ausland genügend hoch ist für ein entspanntes Leben. In der Schweiz müssten sie dazu Ergänzungsleistungen beantragen. Zweitens haben sich diese Menschen den Anspruch auf ihre Rente genau so verdient, wie diejenigen, die in der Schweiz bleiben.

Drittens verstösst eine Indexierung der Renten an die Lebenshaltungskosten gegen das seit 1948 hochgehaltene Prinzip der Gleichbehandlung aller AHV Renter. Wie übrigens auch die 70 Franken gegen das Gleichbehandlungsprinzip verstossen. Wer aus Gründen der Gleichbehandlung gegen die 70 Franken Zuschlag ist, darf eine Ungleichbehandlung der Rentner im Ausland logischerweise nicht zulassen. Sonst müssten ja auch die Renten in Zürich höher sein als im Calancatal.

Viertens schliesslich habe ich Steuern (welche die Auslandrentner nicht in der Schweiz bezahlen) und Konsum (der nicht in der Schweiz bleibt) bisher nicht als Teil der Wertschöpfung eines Landes verstanden. Auch wenn Wertschöpfung meist ein schwammiger Begriff ist, Frau Gössis Interpretation ist doch eher etwas unkonventionell.

Ein wenig ist die Empörung dennoch heuchlerisch. Als Alternative zu den 70 Franken Zuschlag für alle Neurentner wurde gegen Ende der Debatte auch der Vorschlag diskutiert, stattdessen die Minimalrente um 450 Franken anzuheben. Bundesrat Berset begründete damals seine ablehnende Haltung gegenüber diesem Vorschlag unter anderem damit, dass 70% der Rentenerhöhung an AHV RentnerInnen im Ausland gehen würden. Der Aufschrei blieb aus.