Rückwärts im AHV-Zug – und es ist allen wohl dabei

Monika Bütler

NZZ am Sonntag, 11. Juni 2017

Trotz jahrzehntelangem Pendeln wird es mir im Zug beim Rückwärtsfahren immer noch schlecht. Aber auch robustere Passagiere fahren lieber vorwärts. Dem liegt wohl der Grundinstinkt des Homo Sapiens zu Grunde, nicht in die Vergangenheit zu schauen, sondern in die Zukunft. Dort kommen nämlich die Gefahren her, vor denen wir uns noch hüten können.

Nur – manchmal löst eine bedrohliche Zukunft einen Vogel-Strauss-Effekt aus: Der Blick wendet sich in die Vergangenheit. In der Alterssicherung, zum Beispiel. Als die AHV vor 70 Jahren eingeführt wurde, wurden ihr zwei Kontrollinstrumente zur Seite gestellt: ein zentraler Ausgleichsfonds und die sogenannte „Technische Bilanz“. Letztere stellte, auf weite Sicht berechnet, den Barwert aller künftigen Einnahmen dem Barwert aller künftigen Ausgaben gegenüber.

Die Technische Bilanz war gewissermassen das Frühwarnsystem der AHV. Sie galt lange als Kompass bei Revisionen; sie zeigte rechtzeitig an, ob die Entwicklungen von Ausgaben und Einnahmen aus dem Ruder zu laufen drohten. So liessen sich in den guten Jahren die Überschüsse in der Technischen Bilanz als Rechtfertigung für höhere Leistung heranziehen.

Natürlich gab es auch Kritik an der Technischen Bilanz: Die für die Berechnung notwenigen wirtschaftlichen und demographischen Parameter schwanken über die Zeit. Doch verschiedene Studien, die später mit ungleich höherem Aufwand ähnliche Rechnungen anstellten, kamen immer wieder zu vergleichbaren Ergebnissen.

Letztlich scheiterte die technische Bilanz an der – vermeintlich – guten Finanzlage der AHV: Die jährlichen Überschüsse sprudelten, und eine längerfristige Betrachtung schien überflüssig. Mit der 6. AHV-Revision von 1964 wurde sie abgeschafft.

Seitdem sitzen Herr und Frau Schweizer rückwärts im AHV-Zug. Die Reformvorschläge drehen sich um den rückwärtsgerichteten Ausgleichsfonds. Selbst die von bürgerlichen Politikern vorgeschlagene AHV-Schuldenbremse beruht nicht auf einem Vergleich künftiger Einnahmen und Verpflichtungen, sondern auf der finanziellen Entwicklung der AHV in der Vergangenheit.

Es wäre daher Zeit, die Technische Bilanz wieder einzuführen. Kein Startup bekommt einen Kredit ohne Business-Plan. Doch ausgerechnet beim wichtigsten Sozialwerk mit gut absehbaren Einnahmen und Ausgaben schenken wir uns den Blick in die Zukunft.

Eine technische Bilanz hätte schon in den 1980er Jahren die herannahende Finanzierungslücke angezeigt. Und sie hätte in der laufenden Altersreform 2020 als Kompass dienen können. Berechnungen zeigen, dass der Vorschlag von Bundesrat Berset das klaffende Loch von rund 170% einer jährlichen Wirtschaftsleistung der Schweiz (BIP) halbiert hätte. Immerhin. Die Abstimmungsvorlage vom 24. September reduziert die Lücke nur noch auf 135% – dank „Verbesserungen“ vor allem zu Gunsten der im Parlament am besten vertretenen Generation der 45-64-Jährigen.

Ironischerweise hätte das Bundesamt für Sozialversicherungen die Technische Bilanz mit stetig abnehmendem Aufwand weiterführen können. Bei ihrer Einführung musste noch alles von Hand berechnet werden. Heute liesse sie sich – samt den Auswirkungen simulierter Reformvarianten auf die verschiedenen Generationen – auf jedem Laptop berechnen.

Das Problem ist heute nicht mehr die Berechnung, sondern der (fehlende) Mut, den Ergebnissen ins Auge zu sehen. So sitzt der Homo Helveticus Retrospectans rückwärts im Vorsorge-Zug. Ihm wird es offenbar gerade dank dem Blick in die Vergangenheit nicht schwindlig. Nur merkt er nicht, dass es längst Zeit wäre, auszusteigen.

(Wer noch etwas mehr wissen will: Die AHV: Eine Vorsorge mit Überalterungsblindheit. Christina Zenker & Katia Gentinetta (2009))

Abschied von Gebhard Kirchgässner

Unser Mit-Batzer, Kollege und Freund Gebhard Kirchgässner ist viel zu früh gestorben.

Wir sind sehr traurig.

Monika Bütler, Urs Birchler, Marius Brülhart

Die untenstehende Würdigung erscheint in leicht gekürzter Form in der NZZ vom 5. April.

Am vergangenen 1. April verstarb – auf den Tag genau 25 Jahre nach seinem Eintritt in die HSG – Professor Dr. Dr. hc Gebhard Kirchgässner nach schwerer Krankheit in seinem 69. Altersjahr. Die Universität St. Gallen verliert mit ihm nicht nur einen brillanten Volkswirt und engagierten Lehrer, sondern auch eine moralische Instanz und einen Brückenbauer zwischen verschiedenen Disziplinen, zwischen Theorie und Praxis.

Nach seiner Habilitation an der Universität Konstanz und der ETH Zürich wirkte Gebhard Kirchgässner ab 1985 als ordentlicher Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Osnabrück. 1992 kam er als Vertreter einer modernen Generation von Volkswirtschaftsprofessoren – forschungsorientiert und international vernetzt – an die HSG. Bis zu seiner Emeritierung 2013 prägte der Wandel der damaligen volkswirtschaftlichen Abteilung zu einer international ausgerichteten und interdisziplinären School of Economics and Political Science entscheidend mit.

Gebhard Kirchgässner gehörte zu den profiliertesten und erfolgreichsten Wirtschaftswissenschaftern der Schweiz. Dabei schrieb er nicht nur für seine Forscherkolleginnen, sondern auch – in den Medien und in jüngerer Zeit in Blogs – für Studierende, Politiker und die Allgemeinheit. Seine Arbeiten deckten eine schwindelerregende Breite von Themen ab. So verfasste er zum Beispiel ein Lehrbuch zur Zeitreihenanalyse aber auch Aufsätze zur Bedeutung moralischen Handelns in Marktwirtschaft und Demokratie.

Ganz besonders in Erinnerung wird uns Gebhard Kirchgässner bleiben als einer der Väter der empirischen Forschung zu Föderalismus und Fiskalpolitik. Die Schweiz mit ihren dezentralen Entscheidungsstrukturen und der Vielfalt politischer Systeme diente ihm dabei als Labor. Viele seiner Doktorand(inn)en, die ihn bei diesen Arbeiten begleiteten, sind heute selber erfolgreich in Forschung und Wirtschaftspolitischer Beratung im In- und Ausland tätig.

Gebhard Kirchgässners Forschung fand international grosse Anerkennung. Schweizerischen und internationalen Vereinigungen diente er mit grossem Einsatz, so als Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Volkswirtschaft und Statistik, als Präsident der European Public Choice Society und als Vertrauensperson der Ethikkommission des Vereins für Socialpolitik. Hochverdient wurde es im Jahre 2011 mit dem Ehrendoktor der Universität Freiburg i. Ue. ausgezeichnet.

Ein Entertainer war Gebhard Kirchgässner gewiss nicht, er glänzte vielmehr durch Tiefgang und ein enormes Wissen auch in anderen Disziplinen. Während vieler Jahre lehrte er gemeinsam mit Kollegen aus der Politikwissenschaft. Für die Studierenden vermittelten seine Kurse wertvolle Einsichten über den Tellerrand der Ökonomie hinaus, für die HSG bildeten sie ein wichtiger Bestandteil der angestrebten ganzheitlichen Bildung.

Gebhard Kirchgässner verstand sich immer im Dienst der Gesellschaft. Ganz besonders am Herzen lag ihm sein Engagement für die Schweiz. Bereits vor seiner Einbürgerung, auf die er sichtlich stolz war, diente er seiner Wahlheimat in verschiedenen Funktionen. Er nahm unzählige Beratungsmandate für die Eidgenossenschaft wahr und präsidierte während vieler Jahre die eidgenössische Kommission für Konjunkturfragen. In seiner Wohngemeinde engagierte er sich sogar in der Geschäftsprüfungskommission.

Gebhard Kirchgässner Prinzipientreue und Aufrichtigkeit waren legendär; er sprach auch unangenehme Wahrheiten aus, wenn es der Sache diente. Von seinen Ratschlägen, ob angenehm oder unangenehm, profitierten alle, seine Kolleg(inn)en, seine ehemaligen Studierenden, die Öffentlichkeit. Die Volkswirtschaftslehre als Disziplin verliert mit ihm eine grosse Persönlichkeit, die Schreibende und viele ihrer Kollegen einen spannenden Gesprächspartner und treuen Freund.

Neurentenbonus: (nur) die Übergangsgeneration profitiert

Monika Bütler

Der Ständerat schlägt einen Neurentenbonus von 70 Franken vor als Kompensation für die Senkung des Umwandlungssatzes von 6.8% auf 6%. Bei genauer Betrachtung der Situation wird aber folgendes klar.

  1. Die Übergangsgeneration wird entschädigt für Verluste, die sie so gar nicht hat, weil die Reform auch eine Besitzstandwahrung enthält.
  2. Die bereits pensionierten Generationen werden für die erlittenen Verluste nicht entschädigt.

Um etwas Ordnung in die Diskussion zu bringen, hier eine Auslegeordnung.

Zwei Arten von Pensionskassen (vereinfacht…)

Es gibt im Wesentlichen zwei Arten, die Umwandlung des während des Arbeitslebens angesparten Vermögens in eine lebenslange Rente zu berechnen. Erstens mit zwei getrennten Sätzen für das obligatorische Altersguthaben (generiert von Jahreseinkommen unter circa 85‘000 Franken) und das überobligatorische Kapital (alles andere). Der Umwandlungssatz im Obligatorium unterliegt einer strengen Regulierung (die viel diskutierten 6.8%), den Umwandlungssatz im Überobligatorium hingegen können die Vorsorgeunternehmungen (in gewissen Grenzen) selber festlegen. Umhüllende Kassen, die meisten autonomen grossen Pensionskassen, andererseits, unterscheiden nicht zwischen Überobligatorium und Obligatorium. Sie versichern in der Regel grosszügiger als Kassen mit BVG Obligatorium (mit entsprechend höheren Beitragssätzen). Umhüllende Kassen können die Umwandlungssätze senken, solange die Mindestleistungen gemäss BVG noch immer gewährt sind.

Rentensenkungen in der BV schon seit 2004

Bis Ende 2003 galt in der Schweiz das Modell, von dem viele noch glauben, es existiere noch: Der Umwandlungssatz, der die Umrechnung vom angesparten Alterskapital in die jährliche Rente beschreibt, lag für fast alle Versicherten im BVG gleich, bei damals 7.2%. Ein Alterskapital von 100‘000 Franken löste somit eine jährliche lebenslange Rente von 7200 Franken aus.

Der Schock kam 2004 – also bereits vor 13 Jahren! Die Winterthur Versicherung senkte wegen sinkender Kapitalmarktzinsen und steigender Lebenserwartung den Umwandlungssatz im Überobligatorium auf 5.4% für Frauen und 5.8% für Männer. Weitere Versicherungen und Pensionskassen folgten kurz danach. Eine Frau, die von den 100‘000 Franken die Hälfte im Überobligatorium hatte, erhielte nur noch eine Rente von 6‘300 Franken (3600 (= 7.2% von 50‘000) + 2700 (=5.4% von 50‘000)). Also bereits 2004 faktisch nur noch einen Umwandlungssatz von 6.3%.

Das Überobligatorium ist ja nur für Einkommen über 80‘000 Franken pro Jahr, werden einige einwenden. Doch das ist nur die halbe Wahrheit (oder noch weniger). Gerade weil der finanzielle Druck auf die Pensionskassen durch den überhöhten Umwandlungssatz so stark ist, nützen diese ihren Spielraum aus (d.h. müssen ihn ausnützen, wenn sie nicht pleite gehen wollen). Bei jedem Stellenwechsel wird ein Teil des Eintrittsguthabens als überobligatorisch ausgewiesen, je mehr Stellenwechsel und gewollte oder ungewollte Auszeiten, desto höher der Anteil im Überobligatorium. Rückzahlungen von früheren Kapitalauszahlungen durch Scheidung oder Wohneigentumsbezug gehen meist ebenfalls in den überobligatorischen Teil. Tatsächlich zeigen unsere Zahlen, dass selbst Versicherte mit relativ kleinem PK Vermögen oft 50% oder mehr im Überobligatium haben.

Doppelte Kompensation der Senkung des Umwandlungssatzes

Was heisst dies nun für die vorgeschlagene Reform: Die „neuen“ Rentner haben auf dem Überobligatorium (meist nur ein Bruchteil des Vermögens) neu einen tieferen Umwandlungssatz. Doch genau diese Senkung soll für die Übergangsgeneration zwischen 45 und 65 bereits durch die Pensionskasse kompensiert werden. Es heisst: „Die Vorsorgeeinrichtungen müssen diesen Personen die Altersrente, wie sie nach BVG in der bis zum Inkrafttreten der Reform geltenden Fassung berechnet wird, garantieren.“ Finanziert wird dies über den Sicherheitsfonds.

Die Besitzstandwahrung heisst nichts anderes als dass die Übergangsgeneration bereits kompensiert wird. Und die 70 Franken sollen sie erst noch dazu erhalten. Senkungen des Umwandlungssatzes im Überobligatorium werden hingegen nicht kompensiert. Weder für alte noch für neue Rentner.

Gleiche Konditionen in der Kasse, ungleiche Behandlung in der AHV

Schauen wir uns noch die Versicherten in umhüllenden Kassen an. Umhüllende Kassen können die Umwandlungssätze senken, solange die Mindestleistungen gemäss BVG noch immer gewährt sind. Und das machen sie auch bereits intensiv. Ich kenne keine umhüllende Kasse, die heute noch in der Nähe eines Umwandlungssatz von 6.8% hat. Die aktuellen Zahlen sind zwischen 4.6 und 5%. Für die Versicherten in diesen Kassen ändert sich durch die Reform: NICHTS. Einziger Unterschied: Die neuen Rentner erhalten einen Bonus, die alten Rentner (mit den genau gleichen Konditionen): NICHTS.

Noch gar nicht erwähnt sind die vielen über 80 jährigen, die zum Zeitpunkt der Pensionierung kein oder nur wenig Kapital in der Pensionskasse hatten, weil das Obligatorium erst 1985 eingeführt wurde. Das sind von den Männern zwar nur etwa 20%, bei den Frauen ist dieser Teil allerdings höher. Und als Kompensation erhalten Sie nun in der neuen Reform: NICHTS.

Der Run aufs Gymi ist verständlich

Monika Bütler

Jedes Jahr im März: Tausende Kinder schreiben in Zürich und anderen Kantonen die Gymiprüfung, schwitzen und leiden, freuen sich, wenn es klappt, sind enttäuscht, wenn es nicht klappt. Jedes Jahr werden sie begleitet durch eine Hintergrundserie in den Medien mit den immer gleichen Messages: Gymi ist nicht alles. Angeblich überehrgeizige Eltern werden mit Hohn überschüttet, weil sie ihren nicht so brillanten Nachwuchs  ans Gymi prügeln wollen. Das Ganze wird begleitet vom obligatorischen Lobgesang auf die duale Bildung, ohne den man heute sofort geteert und gefedert wird.

Wer allerdings nachschaut, wer all das schreibt, merkt schnell: Die allermeisten Kritiker sind selber ans Gymi gegangen und haben nachher studiert. Der eigene Nachwuchs geht natürlich ebenfalls aufs Gymi. Das ist dann aber etwas gaaaanz anderes: Aron wollte schon mit 3 Griechisch lernen, Lea ist ein Mathegenie und wäre in der Sek hoffnungslos unterfordert, Caesar ist ein Chemietüftler. Wie es die Zeit ausdrückt: Die Akademiker möchten das Gymi gerne für sich behalten. Oft schwingt noch ein Unterton mit, dass die Deutschen Nachbarn das CH Bildungssystem einfach nicht kapieren wollen.

Liegen denn die gescholtenen Eltern und Kandidaten so falsch? Wir wissen noch so wenig, was die digitale Revolution alles bringt. Aber sicher nicht weniger von den noch wenig zielgerichteten Fähigkeiten, die das Gymi vermitteln will und es meistens sogar erreicht. Das Gymi ist anstrengend, offeriert aber neben Wissensvermittlung auch eine Zeit der Orientierung, des Ausprobierens und des Nachdenkens. Ganz nutzlos kann dieser Weg nicht sein, wie die grosse Zahl importierter Akademiker zeigt.

Die Attraktivität der gymnasialen Bildung hat allerdings auch handfeste Gründe. Erstens ist es für viele Kinder zu früh, mit 14 Jahren eine Lehrstelle suchen zu müssen. Es ist bewundernswert, dass eine grosse Zahl von Kindern die schwierige Berufswahl offenbar mit Erfolg treffen kann.  Viele andere Kinder sind zum Ende der Schulpflicht allerdings weit weg, einigermassen informierte Entscheidungen zu treffen. Eine Lehre machen, nur um danach die Passarelle zu machen, ist für den Lehrbetrieb unbefriedigend (er wird um eine hoffnungvolle Nachwuchskraft gebracht), für den jungen Mann oder die junge Frau sehr aufwändig (fragen sie die Absolventen).

Es fehlt, zweitens, vielerorts ein 10. Schuljahr, eine 4. Sek sozusagen, für die guten SchülerInnen. Heute muss man ironischerweise einem begabten Kind mit Lehrwunsch fast raten, ans Gymi zu gehen. Nicht nur, um sich die Optionen offen zu halten, sondern um bei einem späteren Entscheid nicht ein Jahr in einer Orientierungsstufe mit nicht ganz so motivierten Mitschülern verbringen zu müssen. Ein Skandal zudem, dass das 10 Schuljahr in vielen Gemeinden 10000 Franken und mehr kostet, während die Privilegierten am Gymi nur Kopien und Ausflüge extra bezahlen müssen.

Zu guter Letzt ist das Gymnasium ein vom Steuerzahler paradiesisch ausgestattetes Privileg für die guten Schüler. Dieses Privileg anstreben zu wollen, ist ja nicht so unverständlich. Ich würde mir sogar wünschen, die Gymis würden bei ihren Demos gegen den Bildungsabbau nicht nur die wegfallenden Nebenfächer thematisieren, sondern dafür kämpfen, das Privileg der gymnasialen Bildung auch anderen begabten Kindern zu ermöglichen.

Die Diagnose, dass nicht immer die Richtigen ans Gymi gehen ist so falsch nicht. Dieses Problem löst man nicht mit einem erschwerten Zugang, sondern durch  geeignete Methoden, welche die bisher zu wenig berücksichtigten Kinder identifizieren und fördern (oft Knaben mit nicht akademisch geschulten Eltern).

Dass übermotivierte Eltern ihren minderbegabten Nachwuchs gegen deren Willen ans Gymi prügeln, ist ohnehin eine Legende. Die allermeisten Kinder wollen selber und wissen auch – wenn auch vage – weshalb. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, den heutigen Eltern ständig Führungsschwäche in der Erziehung vorzuwerfen. Ausgerechnet bei einer äusserst wichtigen Entscheidung, die eine sehr lange Zeit betrifft, sollten die Eltern dann nicht mehr reinreden. Wir würden gescheiter den Ehrgeiz der 12-14 jährigen Jugendlichen und ihrer Eltern applaudieren statt kritisieren. Wir werden ihn brauchen können.

PS: Nein, ich habe kein Kind an einer Gymiprüfung.

70 Franken süsses Gift

Monika Bütler

Das erste Mal in der 70 (!) jährigen Geschichte der AHV kommt eine vorgeschlagene Rentenverbesserung nur einer Gruppe von Rentnern und Rentnerinnen zu. Den Neurentnern. Das mag auf den ersten Blick unwichtig klingen, ist es aber nicht. Die Schweiz ist eines der ganz wenigen Länder mit einer universellen 1. Säule. Es gibt keine Spezialregelungen für Militärangehörige, die Polizei, Politikerinnen, Feuerwehrleute, oder Lehrerinnen: alle erhalten die AHV Rente nach dem genau gleichen Prinzip. Bisher mindestens.

Sollte es nach dem Willen des Ständerates gehen, ist damit bald Schluss. Die NeurentnerInnen sollen 70 Franken mehr pro Monat erhalten. Und dies obwohl die Massnahmen zur Sicherung der Alterssicherung für viele dieser Empfänger noch gar nicht gelten.

Ich habe es ehrlich gesagt nicht für möglich gehalten, dass eine solch ungerechte, primär aus abstimmungstaktischen Motiven entstandene Vorlage die Differenzbereinigung zwischen den Räten überleben würde. Auch wenn niemand wirklich an Argumenten interessiert zu sein scheint, hier nochmals die wichtigsten Punkte.

Die Ungleichbehandlung verletzt den Gleichbehandlungsgrundsatz der 1. Säule und öffnet so Tür und Tor für weitere Sonderbehandlungen in der Zukunft. Die Gleichbehandlung ist aber eine wichtige Komponente für den Zusammenhang der Versicherung. Weshalb nicht höhere Renten für Städter, weil dort das Leben so teuer ist. Oder für Landbewohner, weil diese auf ein Auto angewiesen sind.

Der Neurentenbonus ist ungerecht. Viele der heutigen Rentner hatten noch eine wenig ausgebaute berufliche Vorsorge. Obwohl sie aus der 2. Säule eine deutlich geringere Rente erhalten als viele künftige Rentner, kriegen Sie keinen Zustupf. Die Parlamentarier scheinen zudem nicht zu wissen – oder wollen einfach nicht wissen – dass ein Grossteil der in den letzten paar Jahren pensionierten Menschen bereits empfindliche Einbussen durch die Senkung des Umwandlungssatzes haben hinnehmen müssen. Auch diese Rentner erhalten keine Kompensation.

Die 70 Franken pro Monat haben eine miserable Zielgenauigkeit. Ein Grundsatz guter Sozialpolitik ist, dass die Massnahmen möglichst denjenigen zu Gute kommen, die sie am meisten benötigen. Nur ein Bruchteil der Kosten der 70 Franken (im Endausbau 2 Milliarden Franken pro Jahr) gehen an die armen Alten. Diejenigen, die gemäss heutigem Reglement EL beziehen können, nach den geplanten Rentenerhöhungen aber über der EL Berechtigungsgrenze liegen, verlieren sogar. Weil sie in diesem Fall mehr medizinische Leistungen aus der eigenen Tasche bezahlen müssen und weil auf den Renteneinkommen – im Gegensatz zur EL – Steuern entrichtet werden müssen.

Mit den 70 Franken begünstigt der Ständerat seine eigene Generation (zwischen 45 und 65, verheiratet). Es ist schon ein wenig störend, dass ausgerechnet die im Parlament am besten vertretene Bevölkerungsgruppe des Landes von der Massnahme am meisten profitiert: Finanziell gutgestellte (meist verheiratete) Babyboomers – Männer und Frauen, links und rechts. Die Erhöhung der Rente für Verheiratete gehört ins gleiche Kapitel. Auch die heutigen Jungen sollen die 70 Franken erhalten, heisst es jeweils. Doch bis die heutigen Jungen ins Rentenalter kommen, haben sie ein Vielfaches dieser 840 Franken pro Jahr bezahlen müssen.

Die mit den 70 Franken versüsste Unterstützung der Reform könnte nach hinten raus gehen. Dann nämlich, wenn die heutigen über 65 jährigen realisieren, dass sie vom Zuschlag nichts erhalten, die Kosten der Reform aber über eine höhere Mehrwertsteuer mitfinanzieren müssen. Bisher wurde das Ausbleiben des Zuschlags von 70 Franken an die Ü65 von den Befürwortern sehr schlank kommuniziert. Das könnte sich rächen. Immerhin ist sich die wissenschaftliche Literatur ziemlich einig: Ungleichbehandlungen werden nicht goutiert, selbst wenn den heutigen Rentner direkt nichts weggenommen wird.

Mit den Mehrkosten liessen sich deutlich vernünftigere Reformen finanzieren: Zum Beispiel eine Erhöhung der Mindestrente in der AHV. Ich habe zu wenig Angaben, um die 70 Franken für alle in eine Erhöhung der Mindestrente umzurechnen: Mindestens 140 Franken sind es mindestens, es dürften aber eher 200-300 Franken pro Monat sein. (PS: Es sind – vom BSV nachgerechnet – 450 Franken pro Monat!) Von einer Erhöhung der Mindestrente würden zudem diejenigen am meisten profitieren, die heute im Alter die höchste Armutsgefährdung aufweisen: Die alleinstehenden Männer und Frauen (deren Altersrente im Durchschnitt 17% tiefer ausfällt als die Altersrente der Witwen).

 

Altern ist (nicht) lustig

Monika Bütler

Der Beitrag erscheint unter dem selben Titel im HSG Focus 01/2017.

Das Knie knirscht, der Rücken schmerzt, die Falten werden tiefer. Mein Jüngster meinte vor einiger Zeit, dass ich von hinten eigentlich jung aussähe – von vorne hingegen…. Altern ist nicht lustig. Dennoch: Fast alle möchten alt werden, ein immer grösserer Teil der Bevölkerung schafft es auch. Noch vor 20 Jahren kannte man zwar bereits die wachsenden Finanzierungslücken der Alterssicherung, man wusste allerdings herzlich wenig darüber, wie es den älteren Menschen geht. Materiell, gesundheitlich, sozial, und vor allem darüber, wie all dies zusammenhängt. Ob healthy, wealthy and wise oder krank, arm und vergesslich, die optimale Alterspolitik hängt eben nicht nur von den Finanzen ab, sondern auch von den Bedürfnissen der Empfänger.

Ebenfalls erstaunlich: die riesigen Unterschiede zwischen Weiterlesen

Lebenslanges Lernen lohnt sich

Monika Bütler

Eine leicht gekürzte Version erschien unter dem Titel „Es lohnt sich, im Alter nicht den Anschluss zu verlieren“ in der NZZ am Sonntag vom 25. Dezember 2016.

Vor einem Jahr erinnerte ich mich zu Weihnachten an einen Jahrzehnte alten, geheimen Wunschtraum: Violine spielen. Mit über 50? Um mich selber zu überzeugen, erzählte ich meinen Traum bei einem Radiointerview. Nun gab es kein Zurück mehr. Ich mietete mir eine Geige.

Als ich zu Hause das Instrument aus dem Kasten hob, wurde mir bang. Zu alt, um etwas völlig Neues zu lernen? Zu ungeschickt mit einer höchstens mittelmässigen musikalischen Begabung? Gehöre ich jetzt auch zu jenen Alten, die die Jungen imitieren und sich damit nur lächerlich machen?

Mit meiner Verunsicherung stehe ich in der heutigen Zeit nicht alleine da. Nur treffen solche Ängste viele Mitt-Fünfziger – und ihre Arbeitgeber – viel existentieller. Täglich lesen wir von Stellenverlusten älterer Mitarbeiter. Weniger agil, nicht mehr lernfähig; tapsig am Computer, stumm im Kreativitätsseminar – so das Vorurteil. Auch beim – messbaren – Wissen um finanzielle Zusammenhänge (Financial Literacy) schneiden die Älteren relativ schlecht ab. Andererseits: Noch nie war ein so grosser Teil der über Ü-55 berufstätig wie heute.

Was ist an den Vorurteilen und den widersprüchlichen Zahlen dran? Zum Glück wurden in den vergangenen 20 Jahren Zahlen gesammelt. Grosse Datenprojekte wie SHARE – Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe – haben geholfen, Wissenslücken zu schliessen. Vergleiche über die Zeit hinweg und zwischen den Ländern, mit Hundertausenden (anonymer) individueller Daten, erlauben die Identifikation kausaler Zusammenhänge.

Und die Forschungsresultate sind für einmal eindeutig: Die Alten abzuschreiben, ist dumm. Ältere Mitarbeiter sind nicht weniger produktiv als Junge. Nicht einmal am Fliessband: Eine etwas tiefere Geschwindigkeit machen die Älteren wett mit höherer Zuverlässigkeit und tieferen Fehlerquoten.

Beängstigend ist allerdings der starke negative Zusammenhang zwischen vorzeitiger Pensionierung und einem Verlust kognitiver Fähigkeiten. Zwar geht die Kausalität in beide Richtungen. Natürlich verlieren Menschen mit nachlassenden Fähigkeiten ihren Job eher als andere. Doch die Forschung zeigt auch, dass ein früher Ausstieg aus dem Erwerbsleben zu einem Nachlassen wichtiger Fähigkeiten führt. Denn selbst als unangenehm empfundene Beschäftigungen halten das Gehirn auf Trab. Und die Arbeit verhindert eine soziale Isolation.

Den Anschluss nicht zu verlieren lohnt sich also. Und es geht. Zugegeben, es ist schwierig für Hans, eine neue Technik (oder ein neues Instrument) zu erlernen. Doch ist es das für Hänschen nicht auch? Der schmerzhaft langsame Unterricht, den wir an Schulbesuchen erleben, ist kein Zeichen unqualifizierter Lehrerinnen. Auch kleine Köpfe brauchen Zeit und vor allem viel, viel Übung.

Es ist vielleicht mühsamer, im fortgeschrittenen Alter noch etwas zu lernen. Aber unmöglich ist es nicht. Wichtiger als Begabung sind – im Alter nicht notwendigerweise schwächer – Disziplin und Zuversicht. Am Arbeitsplatz setzt Zuversicht voraus, dass beide Seiten daran glauben: Nicht nur die Angestellte, sondern auch die Chefs. Und dass beide Seiten um die Mühsal des lebenslangen Lernens wissen. Vielleicht sollten wir an Management-Trainings, statt noch mehr Case Studies und Theorie, die Teilnehmer etwas komplett Neues lernen lassen. Es muss ja nicht Geige sein, es geht auch mit Stricken oder Suaheli. Wer sich selber mit etwas neuem abmüht, hat eher Verständnis und Geduld für die Lernenden. Und – traurig aber wahr: die meisten schaffen es nicht von alleine. Es braucht Unterstützung, vielleicht sogar sanften Druck. Das ist bei Hans nicht anders als bei Hänschen.

Schon die ersten Erfolgserlebnisse helfen. Auch bei mir. Als ich am vierten Advent die Weihnachtslieder probte und insgeheim über schwierige Stellen und meinen kratzigen Stil fluchte, ging plötzlich die Türe auf. Vor mir stand mein jüngerer Sohn – ein Teenager –, die eigene Geige in der geübten Hand, und fragte: „Mama, darf ich mitspielen? Zusammen klingt es so schön.“

 

Mit dem Navi im Kofferraum gegen Uber

Letzten Donnerstag besuchte ich einen kranken Kollegen etwas ausserhalb von St. Gallen. Da ich rund 20 Minuten hätte auf den Bus warten müssen, nahm ich ein Taxi.

Also setzte ich mich ins Taxi und gab dem Fahrer die Adresse.

Fahrer freundlich: Wissen wo ist?

Ich habe Ihnen doch die Adresse gegeben!?

Fahrer etwas weniger freundlich: Ich meine, wo fahren?

Das weiss ich nicht. Deshalb nehme ich ja ein Taxi.

Fahrer verwirft die Hände.

Haben Sie kein Navi?

Fahrer verwirft die Hände und steigt aus. Im Kofferraum findet er das Navi, installiert es und tippt die Adresse ein. Nach mehr als 5 Minuten fahren wird dann doch noch los.

Geärgert hat mich die Sache besonders, weil ich sonst bei jeder Gelegenheit die Ostschweizer Taxis als service-orientiert, kundenfreundlich und zuverlässig lobe. Kein „Du schweigen, du Frau“, keine kostspieligen Umwege, keine versifften Taxis mit unfreundlichen Fahrern wie in Zürich.

Natürlich hätte ich mein eigenes Mobil Navi zücken können. Für einen ausländischen Gast wäre dies allerdings teuer geworden. So extravagant ist ein installiertes Navi in einem Taxi nun auch wieder nicht.

Man kann die ungleichen Bedingungen für Taxiunternehmen und für Uber anprangern. Glaubwürdiger wären die Bedenken über ungleiche Wettbewerbsbedingungen allerdings, wenn sich die Taxiunternehmen in Sachen Kundenfreundlichkeit an die von neuen Wettbewerbern mitgeprägten Standards hielten. Diese wären in den meisten Fällen gratis (freundlich) oder mit geringen Anstrengungen (Navi aus dem Kofferraum) zu erreichen.

 

 

 

Die verheiratete berufstätige Frau in der Schweiz

Monika Bütler

Heute habe ich bei der Aufbereitung der Publikationsgeschichte der Schweizerischen Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik – mit 152 Erscheinungsjahren gehört sie immerhin weltweit zu den ältesten Fachzeitschriften der Volkswirtschaftslehre – eine wahre Trouvaille entdeckt.

In der 1949 Ausgabe der Zeitschrift verfasste Dr. Albert Koller, Direktor des Eidgenössischen Statistischen Amts von 1946 bis 1957, einen Aufsatz zur schwindenden Bedeutung der verheirateten Frau im schweizerischen Berufsleben. Aus der Sicht von Koller war dies eine „wichtige, wenn auch wenig beachtete soziale Errungenschaft des letzten halben Jahrhunderts“. Während um 1900 war noch ungefähr jede fünfte nichtledige Frau berufstätig war, so sank dieser Anteil bis ins Jahr 1941 auf einen Achtel. Ziemlich bemerkenswert, gab es doch damals noch keine (für Witwen wichtige) AHV.

Die Zahlen sind spannend – die Interpretation durch Herrn Koller ebenfalls. Es lassen sich wenig überraschende Aussagen finden wie „Bildet die Ausübung eines Berufes für den Mann die Voraussetzung fur die Gründung einer Familie, so bedeutet bei den Frauen die Heirat im allgemeinen den Abschluss der beruflichen Karriere“. Oder aber Versuche, die Daten zur Untermauerung von statistischen Hypothesen heranzuziehen.

So fragt sich der Autor zum Beispiel, ob der Geburtenrückgang (!) mit der Berufstätigkeit der Frauen zusammenhängen könnte. Seine Methode – der Berechnung der Korrelation der Kinderzahl einer Frau mit ihrem Arbeitsmarktstatus – erfüllt die Kriterien einer modernen Ursache-Wirkungskette allerdings nicht ganz.

Der Text schliesst mit einem frommen Wunsch: „Die familienstatistischen Ergebnisse weisen den Weg für die künftige Sozialpolitik zugunsten der verheirateten berufstätigen Frau. Das Ziel erblicken wir in einer weiteren Abnahme der Zahl jener Ehefrauen, denen es aus wirtschaftlichen Gründen nicht vergönnt ist, die ganze Arbeitskraft ihrem Haushalt und ihrer Familie zu widmen oder dann wenigstens in einer Erleichterung der beruflichen Pflichten dieser Frauen und Mütter.“

Die Tücken der Tragbarkeitskriterien beim Hauskauf

Monika Bütler

Eine gekürzte Fassung dieses Texts erschien am 30. Oktober in der NZZ am Sonntag unter dem Titel „Banken entdecken ihr Herz für Familien“.

Partnerwahl und Hauskauf, − zwei der wichtigsten Entscheidungen im Leben. Zur Partnerschaft genügen zwei; beim Hauskauf ist meist eine dritte Partei dabei: die Bank. Ihre Bedingungen entscheiden, ob Haus oder Wohnung erschwinglich sind. Neuestens haben die Banken ihr Herz für den Mittelstand entdeckt. Sie möchten die Tragbarkeitskriterien für Hypotheken lockern, um jungen Familien die Eigenheimidylle zu ermöglichen.

Nach alter Regel sollten die jährlichen Kosten eines Hauses nicht mehr als einen Drittel des Bruttoeinkommens betragen.  Hauptkostenpunkt ist der Hypothekarzins. Der wäre heute eigentlich tief. Gewitzt durch die von einem Immobilienboom in den USA ausgelöste Finanzkrise (und angehalten durch die Finanzbehörden)  kalkulieren die Banken jedoch mit einem längerfristigen Durchschnittssatz von gegenwärtig 5%. Diesen möchten einzelne Banken auf 3% senken. Konkret: Bei einem Kaufpreis von 1 Mio. Franken und Eigenmitteln der Käufer von 200‘000 Franken wäre statt eines Bruttoeinkommens von 150‘000 Franken (bei 5% Zinsen und 1% des Kaufpreises als Unterhalt) neu nur noch eines von 102‘000 Franken notwendig. Gerade im Mittelstand ein beachtlicher Unterschied.

Auf den ersten Blick hat die vorgeschlagene Änderung durchaus ihren Charme. Fast alle Prognosen gehen von langfristig tiefer Realzinsen aus. Die Alterung der Bevölkerung und der Rückgang der Produktivität sind die Hauptgründe dafür. Und Inflation ist (noch) nicht in Sicht.

Doch ganz so einfach ist die Rechnung nicht. Denn, erstens, lauern im neuen makroökonomischen Umfeld mit tieferen Zinsen neue Gefahren für die Käufer:Nicht nur die Zinsen sind tief, das Wirtschaftswachstum ist es ebenfalls. Die Hauskäufer können nicht mehr damit rechnen, dass sich der relative Wert der Hypothek gemessen an ihrem Einkommen über die Zeit sozusagen magisch verkleinert. Es ist denn auch kein Zufall, dass die Zahl der Rentner, für die die Hypothek eine zu grosse finanzielle Belastung darstellt, heute sehr viel höher liegt als früher.

Zwanzig Jahre ohne nennenswerte Inflation haben uns zudem vergessen lassen, wie sehr höhere Inflationsraten und somit Hypothekarsätze die Haushalte belasten – auch wenn Renten und Löhne vollständig an die Teuerung indexiert sind. Hypothekarzinsen von über 7% wie in den 1990er Jahren wären mit beim erwähnten Beispiel mit einem Einkommen von 100‘000 Franken kaum mehr tragbar.

Zweitens wird wohl ein Teil der Erleichterung beim Hauskauf gerade wieder aufgefressen von den dadurch ausgelösten Preissteigerungen: Bieten zwei Interessenten für eine Wohnung, hört das Preisangebot spätestens dann auf, wenn die Tragbarkeitsbedingungen binden. Sind diese lockerer, können dieselben Bieter nicht nur höhere Gebote machen, auch der Kreis der Anwärter wird grösser. Das logische Resultat: das Haus wechselt die Hand zu höherem Preis. Dies ist nicht einfach graue Theorie. Die empirische Evidenz aus verschiedenen Ländern zeigt eindeutig, dass direkte oder indirekte Erleichterungen des Immobilienkaufs durch für weniger reiche Haushalte immer auch zu höheren Preisen führen. Die vermeintliche Unterstützung geht teilweise oder ganz an die Hauseigentümer und Baufirmen.

Interessanterweise versteht man im Ausland, dass dank der Tragbarkeitskriterien die Immobilienpreise in der Schweiz nicht noch mehr gestiegen sind. Am letzten Dienstag versandte das deutsche Bundesfinanzministerium einen Gesetzesentwurf zur Bekämpfung der drohenden Immobilienblase. Eine der vorgeschlagenen Massnahmen: strengere Vergabekriterien.

Also nichts machen und gerade junge Mittelstandsfamilien weiterhin vom Hauskauf abhalten? Ein Kompromiss wäre die strengen Tragbarkeitskriterien etwas in die Zukunft zu verschieben und diese mit höheren verbindlichen Abzahlungsraten zu verbinden. Die Amortisation müsste so hoch sein, dass bei gleichem Einkommen in 15 Jahren wieder die konservativen 5% erreicht würden. Dies hätte zwei weitere Vorteile: Erstens ist die Bereitschaft einer hohen Amortisation für die Banken ein gutes Signal für das berufliche Selbstvertrauen der Schuldner.

Zweitens schützt eine tiefere Verschuldung die Betroffenen im – leider nicht seltenen – Scheidungsfall. Die amerikanische Ökonomin Betsey Stevenson zeigte nämlich, dass die Menschen das Scheidungsrisiko bei fast allen Entscheidungen berücksichtigen (Kinder, Sparen, Arbeit), sonderbarerweise nicht aber beim Hauskauf. Sie verkennen, dass von den zwei Entscheidungen die Partnerwahl die wichtigere ist: Wer dort einen Fehler macht, hat auch das Haus auf Sand gebaut.