Griechenland: der stille Weg

Urs Birchler

Seit Wochen wird diskutiert: Soll Griechenland raus oder drin bleiben? Gleichzeitig ist offenkundig, dass niemand eine Entscheidung treffen wird:

  1. Griechenland wird nicht aus der EURO-Zone ausgeschlossen. Länder wie Portugal und Spanien werden sich hüten, für einen Austritt Griechenlands zu stimmen.
  2. Griechenland wird den EURO nicht offiziell aufgeben. Die Austrittsdrohung ist viel wertvoller als der Austritt.

Damit bleibt nur ein Weg: Der griechische Staat muss — angesichts leerer Kasse — Beamte, Lehrer, Strom und Papier mit Gutscheinen bezahlen. Diese können in einem künftigen Zahlungsversprechen bestehen (ähnlich den ähnlich den kalifornischen IOUs) oder der Staat kann die Gutscheine zur Bezahlung künftiger Steuern anrechnen. Die Gutscheine können durchaus auf Euro lauten — genauso wie in der Schweiz die WIR-Guthaben auf Franken lauten.

Dies ist kein Patentrezept, sondern ein Szenario, das eintritt, wenn „nichts“ geschieht (weder Austritt, noch Rauswurf). Ob sich im griechischen Alltag dann längerfristig der Euro durchsetzen wird oder der kouponi, das wollen wir hier nicht prognostizieren.

Euro 1.20: Warnung!

Urs Birchler

Heute hat die SNB, wie in der Presse bereits gemeldet, die neuesten Zahlen zu ihren Devisenbeständen publiziert (siehe unten). Diese zeigen, dass die SNB die Kursuntergrenze für den EURO von 1.20 CHF in den letzten Wochen verteidigen musste. In der Presse ist viel von den Risiken für die SNB die Rede. Dabei geht vergessen, dass auch die Angreifer hohe Risiken eingehen. Hedge-Funds spekulieren auf eine Aufwertung des Frankens und verschulden sich dazu „risikolos“ in Euro (in der Annahme, das Risiko einer Aufwertung gegenüber dem Franken sei null). Wenn es dann aber doch einmal in die andere Richtung geht — dann sind die Verluste gigantisch. Im Gegensatz zur SNB haben aber Hedge-Funds nicht beliebig lange Schnauf. Vielleicht probiert die SNB einmal einen Überraschungsschlag und stemmt den Euro für kurze Zeit auf 1.22? Hedge-Funds: Ich habe Euch gewarnt (Postcheckkonto auf Anfrage)!

Währungsreserven der SNB (gemäss IMF data dissemination standard; Monatsenden in Mio. CHF):

303’773 Mai 2012
237’588 Apr 2012
237’454 Mar 2012
227’230 Feb 2012
227’212 Jan 2012
254’254 Dez 2011
229’278 Nov 2011
245’036 Oct 2011
282’352 Sep 2011
253’351 Aug 2011

Gibt sich und hat Mühe: Die EU zur Restrukturierung von Banken

Urs Birchler

EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier hat heute seinen Vorschlag zur Restrukturierung und Abwicklung von Banken vorgeschlagen.
Verschiedene Vorschläge stammen aus dem bekannten Placebo-Vorrat der Behörden: Prävention (hat bisher schon nicht funktioniert), „living wills“ der Banken (unzuverlässig!), Aufteilung einer Bank (ist gut und recht, aber mit neu Mischen bringt man den Schwarzen Peter nicht aus dem Spiel).

Zwei Vorschläge aber gehen zur Substanz:

Erstens soll ein Krisenfonds (zuerst auf nationaler Ebene?) geäufnet werden, damit Banken nicht durch Steuerzahler gerettet werden müssen. Das heisst, die guten Banken müssen für die schlechten einstehen. So zementiert ein vorhandener Krisenfonds das TBTF-Problem, anstatt es zu lösen. Da in der EU alles nur angedacht ist, soll der Fonds ein Prozent der Bankverbindlichkeiten abdecken, was dann im Ernstfall nirgendwo hinreicht. Der Staat kommt also wieder zum Zug.

Zweitens soll der „bail-in“ (Kürzung von Schulden, bzw. Umwandlung in Eigenkapital) möglich werden. Das ist das einzige Mittel, das wirklich wirkt. Man muss es aber richtig konzipieren. Erste Zweifel kamen mir, als ich las, das deutsche Bundesfinanzministerium heisse die Vorschläge gut, da sie grossenteils mit dem deutschen Gesetz zur Reorganisation von Kreditinstituten übereinstimmten. Also habe ich nachgesehen. Tatsächlich hat jenes Gesetz einen Paragraphen (§ 9) „Umwandlung von Forderungen in Eigenkapital“ — aber mit einer unglaublichen Pointe: „Eine Umwandlung gegen den Willen der betroffenen Gläubiger ist ausgeschlossen.“ Das ist, wie wenn man im Fussball gegen den Willen des betroffenen Torhüters kein Tor erzielen dürfte. Nun — vielleicht überlegt sich das die EU noch genauer; der bail-in soll ohnehin erst 2018 in Kraft treten (als verspätetes Requiem für die spanischen Banken wahrscheinlich).

Wenn nicht alles täuscht: Die EU hangelt sich weiter von Scheinlösung zu Scheinlösung in die Katastrophe.

Soll man weniger sparen, um mehr zu wachsen?

Reto Föllmi

Wer die laufenden politischen Diskussionen in Europa verfolgt, könnte zur Ansicht gelangen, wir müssten uns zwischen Sparen oder Wachstum entscheiden. Nach dem Wahlsieg von Hollande in Frankreich werden die Stimmen in Europa immer stärker, die eine Abkehr vom Sparkurs und stattdessen mehr Wachstum fordern. Deren Befürworter werfen den anderen vor, die Wirtschaft kaputtzusparen oder gar abzuwürgen, um nur ein paar Schlagworte zu nennen.

Als Ökonom reibe ich mir die Augen und frage mich, wie es denn zu diesem Gegensatz kommen kann. Schliesslich kann der Einzelne ja in seinem Haushalt oder Betrieb nicht mehr ausgeben als einnehmen. Warum um alles in der Welt sollen, Staatsausgaben mit der Giesskanne oder gar direkte Verschwendung wachstumsfördernd sein?

Der erste Teil der Antwort liegt in einem etwas eigenartigen Gebrauch der Begriffe. Das erwähnte Sparen bedeutet derzeit im europäischen Kontext nur die Reduktion eines bereits bestehenden Defizits und nicht wie im Privathaushalt ein Anlegen von Überschüssen zur Vorsorge. Kommt hinzu, dass die Defizitreduktion nicht über Ausgabenkürzungen zu erreichen versucht wird, sondern mittels Steuererhöhungen.

Was hier als Sparen verkauft wird, mag zwar ärgerlich sein, die Täuschung im Wachstumsbegriff ist aber weit gravierender. Wachstum meint eigentlich die langfristige Hebung des Wohlstandes. Die ausgabefreudigen Staaten stattdessen bezeichnen eine kurzfristige Ankurbelung der Wirtschaft als Wachstum.

Der Kern der ganzen Streitfrage, und darin liegt der wichtigere zweite Teil der Antwort, ist eine grundlegende Verwechslung von kurzer und langer Frist. Kurzfristig, wenn plötzlich die Nachfrage einbricht und den Firmen die Aufträge wegbleiben, kann es durchaus Sinn machen, als Bundesstaat antizyklisch zu handeln, sinnvolle Projekte vorzuziehen oder Arbeitslose durch die ALV automatisch zu unterstützen und dadurch die Nachfrage zu erhalten.

Mittel- und langfristig kann aber eine solche Politik nicht funktionieren. Wie ein Haushalt kann auch eine Volkswirtschaft langfristig nur soviel ausgeben wie sie einnimmt, also durch Produktion erwirtschaftet. Ein konstant höheres Ausgabenniveau ist nur mit höherer Produktivität möglich. Es ist ein Irrglaube, man könne – einem Perpetuum Mobile gleich – mit Geldausgeben laufend die Wirtschaft ankurbeln.

Wie ist dann eine Erhöhung des Wohlstandes möglich? Nur durch bessere Technologien oder Investitionen z.B. in Ausbildung oder bessere Infrastruktur, ausserdem auch durch Abbau von Marktschranken für innovative neue Firmen. All diese Elemente erhöhen die Produktivität, die der Schlüssel zu nachhaltig höheren Einkommen und Wohlstand ist. Die Steigerung von Konsumausgaben führt zwar zu einem kurzfristigen Strohfeuer, erhöht aber nicht die Produktivität! Gerade im Gegenteil können die Investitionen nur aus der Ersparnis finanziert werden. Das Einzige, was durch andauernde staatliche Konjunkturprogramme dann wächst, ist der Schuldenberg.

Ein solcher Schuldenberg ist aber für das Wachstum selber ein Hemmschuh, da dieser mittelfristig wiederum irgendwie abgebaut werden muss. Wenn die Bürger die Schuldenkonsequenzen neuer Ausgabenprogramme durchschauen, werden sie mit weniger Staatsausgaben in Zukunft oder wahrscheinlicher mit höheren Steuern rechnen müssen. Das macht Investitionen noch schwieriger und lässt die Nachfrage erst recht einbrechen. Noch schlimmer kommt es, wenn aufgrund des gestiegenen Schuldenberges die Steuererhöhungen so gross sein müssten, dass die Gläubiger zu zweifeln beginnen, ob diese überhaupt durchgesetzt werden können. Die darauf steigenden Risikoprämien und Zinsen erschweren die Bedienung der Schulden aber erst recht und engen den Spielraum der öffentlichen Hand noch mehr ein. Im schlimmsten Fall wie in den Südstaaten Europas mündet das Ganze in einen Teufelskreis, an dessen Ende Hilfe von aussen oder Bankrott stehen.

Genauer betrachtet besteht damit gar kein Gegensatz zwischen haushälterischem Umgang mit öffentlichen Mitteln und Wachstum. Was für Haushalte und Kleinfirmen gilt, muss auch für eine ganze Volkswirtschaft gelten: Kurzfristig kann man Engpässe durch Kredite überbrücken, wer aber langfristig über seine Verhältnisse gelebt hat, muss zunächst in einem schmerzvollen Entzugsprogramm Defizit abbauen, bevor überhaupt wachstumsfördernde Investitionen möglich werden.

Warum wird darüber die Diskussion dennoch so intensiv geführt? Den Bürgern wurde lange Sand in die Augen gestreut, mit ständigen Anstossfinanzierungen könne auch langfristig der Lebensstandard gehoben werden. Wenn diese Subventionen länger anhalten und immer mehr Bereiche umfassen, ist für den Einzelnen der Zusammenhang zwischen erwirtschaften Einkommen durch Arbeit und Ausgaben immer weniger ersichtlich.

In der Krise wurde dieses Problem noch verstärkt. In Schieflage geratene Banken mussten mit Unsummen gerettet werden. Offensichtlich hat hier die Politik auf Kosten derjenigen gespart, die am wenigsten für sich reklamieren konnten, systemrelevant oder eben too big to fail zu sein. Hier, also bei den Konsumenten und kleineren Unternehmen, musste der Eindruck entstehen, der Zusammenhang zwischen Einkommen und Leistung sei bei den anderen ausser Kraft gesetzt. Wir gewännen viel, wenn wir die Krise dazu nutzten, unser Haus in Ordnung zu halten und diese Verschleierungen etwas zu beseitigen. Dann können Sparen und Wachstum wieder gleichermassen zu nachhaltigem Fortschritt beitragen.

Prof. Dr. Reto Föllmi, Universität St. Gallen. Artikel publiziert im „Bote der Urschweiz“ am 4. Juni 2012.

Ergänzungen zu Ergänzungsleistungen

Viele Medien nahmen in den letzten Tagen (endlich) das Problem mit den Ergänzungsleistungen auf. An unserem Institut beschäftigt uns die Frage allerdings schon lange (siehe hier und hier und hier). Dass die Individuen auf Anreize reagieren ist wohl eines der robustesten Ergebnisse empirischer Forschungen.

Die Anreize sind gerade bei den Ergänzungsleistungen enorm: Wer im Alter 90% der vollen Rente aus der AHV erhält (circa 25‘000 Franken), nur ein kleines Vermögen besitzt (wenige 10‘000 Franken) und bei der Pensionierung weniger als circa 180‘000 Franken Alterskapital hat, fährt mit einem Kapitalbezug besser. Weshalb? Wenn die Person ihr Altersguthaben verrentet erhält sie zur AHV Rente eine jährliche BVG Rente von rund 12‘000 Franken. Zusammen also gerade etwa so viel wie wenn sie keine BVG Rente erhielte und den Rest ihres Lebensbedarfs mit Ergänzungsleistungen decken würde, rund 37‘000 Franken pro Jahr. Lieber also das Kapital beziehen und wenn es aufgebraucht ist, EL beantragen.

In der Realität sind die Anreize noch grösser: EL müssen im Gegensatz zu den BVG Renten nicht versteuert werden, viele Rentner haben Lücken in der AHV (sie bräuchten somit noch mehr BVG Kapital) und der Kapitalbezug wird gegenüber der Rente steuerlich begünstigt. Deshalb ist es auch für viele Mittelständer „günstiger“, das Kapital zu beziehen. Das ist ihnen nicht zu verargen. Von den zusätzlichen Anreizen, die von den EL als faktische Pflegeversicherung ausgeht, noch gar nicht zu reden.

Die Frage ist nur was tun. Hier sind einmal vier Möglichkeiten:

1)   Obligatorische Verrentung: Keine Kapitaloption mehr.

2)   Mindestverrentung: Obligatorische Verrentung bis zum Niveau, welches für durch die EL gesichert ist. Wer grössere Lücken in der AHV ist, muss entsprechend mehr verrenten.
Variante 2a) obligatorische Verrentung nur des obligatorischen Teils des BVG.

3)   Verschärfung der Bedürftigkeitsprüfung auf das Niveau der heutigen Sozialhilfe: Bevor EL beantragt werden können, müsste somit das ganze Vermögen verzehrt werden.

 Gemäss unseren Simulationen senken alle Möglichkeiten die zu erwartenden Kosten für die EL (siehe Tabelle unten). Alle haben Vor- und Nachteile. Die obligatorische Verrentung schränkt Menschen mit einer kürzeren Lebenserwartung massiv ein (und begünstigt daher eher die besser gestellten). Bei der Variante 2a) besteht die Gefahr, dass Anreize geschaffen werden – sowohl für Versicherte wie auch für Pensionskassen – Alterskapital als überobligatorisch auszuweisen. Option 3), welche keine Einschränkung des Kapitalbezugs vorsieht führt ebenfalls zu einer starken Reduktion der erwarteten EL Kosten. Dies aus zwei Gründen: Erstens direkt durch den vollständigen Vermögensverzehr. Zweitens indirekt: Für den Mittelstand wird der Kapitalbezug unattraktiver und ein grösserer Teil der Leute entscheidet sich für eine Rente.

Was würden die Individuen selber wählen, müssten sie sich für eine der 3 obigen Möglichkeiten entscheiden? Wir haben nachgerechnet: Wenig überraschend ist die obligatorische Verrentung des gesamten Alterskapitals für alle am wenigsten attraktiv (wir hätten uns verrechnet, wenn dies anders rausgekommen wäre). Die beiden anderen Optionen unterscheiden sich nur wenig. Insbesondere für die Versicherten mit kleinerem BVG Kapital schwingt die Variante 3) etwas oben aus: Lieber etwas strengere Bedürftigkeitsprüfungen als eine Einschränkung des Kapitalbezugs. Für den Staat wären die Kosten vergleichbar. (Legende: Meanstested benefits = Status quo; Mandatory annuitization = Option 1), obligatorische Verrentung; Minimum income requirement = Option 2); Consumption Floor = Option 3))

 

Tabelle: Kosten für verschiedene Formen der Grundsicherung im Alter in 1000 Franken für eine alleinstehende Person über die gesamte Rentenphase. Bei allen vier Massnahmen wird derselbe Mindestkonsum garantiert (3000/Monat für Alleinstehende). Konsumgarantie = Option 3), Verschäfung der Bedürftigkeitsprüfung.

Keine Antidepressiva für Griechen mehr

Urs Birchler

Bei griechischen Apotheken gibt es für Kassenpatienten keine Medikamente mehr (NZZ von heute, S. 21). Die Kassen sind staatlich, und dem Staat fehlt es an Geld. In solchen Fällen erreicht die Krise eine neue Qualität: Menschliche Grundbedürfnisse (elementare medizinische Versorgung) können nicht mehr garantiert werden. Der griechische Staat verletzt damit die Menschenrechte.

Die menschenrechtliche Dimension der Krise haben Helen Keller und mich veranlasst einen (bereits vergangene Woche erschienenen) Artikel in Die Zeit zu schreiben. Was mir wichtig war (und dem „Sparprogramm“ der Redaktion teilweise zum Opfer fiel): Im Konkurs einer Privatperson oder einer Unternehmung gibt es eine Rangfolge des Verzichts: zuerst werden die vorrangigen Guthaben (z.B. Alimenten; Publikumseinlagen bei Banken) ausbezahlt, erst nachher werden die weiteren Ansprüche soweit möglich befriedigt. Im Staatskonkurs fehlt ein Konkursrecht und damit eine Prioritätenliste. Der Stärkste kommt zuerst — auf der Strecke bleiben die theoretisch privilegierten Ansprüche, im Staat: Die Menschenrechte. Ein bisher kaum diskutiertes Problem der von EU und IMF geforderten Sparprogramme sind deshalb die fehlenden menschenrechtlichen Auflagen. Der Europäische Menschnrechtsgerichtshof wird hingegen noch ein Wort mitreden — wenn nicht vorher alles in Flammen aufgeht.

Braucht der Euro Sarrazin?

Urs Birchler

Wie sagt man doch: Es gibt niemand überzeugteren als einen Konvertiten. Beispiel: Thilo Sarrazin mit seinem neuen Buch Europa braucht den Euro nicht. Wer glaubt, das Buch lesen zu müssen, möge parallel auch Sarrazins früheres Werk Der Euro — Chance oder Abenteuer? zur Hand nehmen (siehe diese Rezension). Der Leser trifft dort einen glühenden Befürworter des Euro mit wenig Sorge um Stabilitätskriterien.

Sollen Versicherungen Gentests verwenden dürfen?

Publiziert in der NZZ am Sonntag vom 20. Mai 2012 (unter dem Titel: Wenn Versicherungen Gentests verlangen dürften)

Die Wirklichkeit war wieder einmal schneller. Vor zwei Jahren schlug ich in der NZZ am Sonntag höhere Renten für Dicke und Raucher vor. Damit wollte ich nur zeigen, was die Forderung nach risikogerechten Prämien für Renten und Krankenkassen bedeutet. Zu dieser Zeit wurden in England allerdings bereits Verträge über sogenannte „enhanced annuities“ (aufgebesserte Renten) angeboten. Regelmässige Raucher, Übergewichtige oder ehemalige Minenarbeiter – also Menschen mit einer kürzeren Lebenserwartung – erhalten damit eine substantielle Rentenaufbesserung.

Von Risikoselektion profitieren manchmal auch Benachteiligte. Dennoch beschäftigen uns eher die Fälle, in denen sie darunter leiden. Wen Gentests zum Hochrisiko stempeln, kann sich nur noch unter höheren Kosten versichern oder – meistens – gar nicht. Richtig Angst macht, wenn genetische Informationen sogar über Leben entscheiden können. Weil die Eltern behinderter Kinder nicht nur die Betreuung bewältigen müssen, sondern auch noch finanzielle Folgen befürchten.

Wie würden Menschen entscheiden, bevor sie wüssten ob sie reich oder arm, gesund oder krank, als Mann oder Frau geboren werden? Klar: sie würden sich für Versicherungen entscheiden, die nicht nach angeborenen Risiken unterscheiden. Der „Schleier der Ungewissheit“ taugt allerdings wenig in einer Welt, die vor Informationen nur so strotzt. Schon vor mehr als 40 Jahren bemerkte der Ökonom Jack Hirshleifer, dass mehr Informationen nicht immer zu mehr Wohlstand führen. Eben weil sie die Möglichkeit nehmen, sich gegen gewisse Schäden zu versichern.

Doch was tun wir mit immer mehr Informationen, immer billigeren und zuverlässigeren Tests? Verbieten? Gar nichts?

Gar nichts ist oft besser als regulatorischer Übereifer. Wir vergessen, dass dieselbe Information für eine Versicherung ein Vorteil, für eine andere ein Nachteil ist. Beispiel Geschlecht – etwas, was man den meisten ohne Gentests ansieht: Frauen sind für die lebenslange Rente ein schlechtes Risiko (weil sie länger leben), für die Lebensversicherung hingegen ein gutes (weil sie länger leben). Viele Diskriminierungen heben sich daher gegenseitig ungefähr auf. Leider nicht alle: Wenn sich Menschen nicht mehr gegen wichtige Lebensrisiken versichern können, taugt Laisser faire definitiv nichts.

Heikle Informationen lassen sich auch nicht verbieten. Wer über vorteilhafte Informationen verfügt, wird diese auch kommunizieren wollen, wenn bessere Bedingungen locken. Wer dies nicht kann oder nicht will, hat das Nachsehen. Zudem: Wir geben scheinbar harmlose Informationen preis, ohne zu merken, dass diese versicherungstechnisch heikel sind. Der Schulabschluss verrät die Lebenserwartung, die Schuhgrösse das Geschlecht. Versicherungen wissen daher oft mehr über uns als wir selber – und zwar nicht wegen der nun kritisierten Gentests.

Kann denn den Versicherungen wenigstens untersagt werden, genetische Informationen in ihren Verträgen zu berücksichtigen? Rechtlich schon, in der Praxis wird es teuer – für alle. Denn Versicherungen und Versicherte passen sich an. Gewisse Verträge werden nicht mehr angeboten, andere nur noch als Paket. Die guten Risiken versichern sich nicht mehr, was eine Versicherung der schlechten Risiken noch schwieriger macht. Auch Wahlmöglichkeiten für die Versicherten sind heikel – sogar in obligatorischen Versicherungen: Sie erlauben nämlich eine Selbstselektion der guten Risiken.

Das heisst nicht, dass wir Menschen mit versicherungstechnisch ungünstigen Genen und Eltern behinderter Kinder keine Sicherheiten bieten können. Wir müssen sorgen, dass wenigstens die Sozialversicherung die Schwächsten angemessen gegen die finanziellen Folgen von Krankheit, Erwerbslosigkeit und Alter schützen. Sozialversicherung müssen die Individuen auch versichern gegen das Risiko ein schlechtes Risiko zu sein. Ohne Wenn und Aber.

Ghettos mit Seesicht

Marius Brülhart

Wie unlängst im Batz aufgezeigt, hat sich der Anteil des reichsten Prozents am gesamten Schweizer Einkommenskuchen seit den siebziger Jahren kaum verändert. Und dennoch legt die Intensivierung der Verteilungs- oder Neid-Diskussion (je nach Standpunkt) auch hierzulande den Schluss nahe, dass die wahrgenommenen Interessen verschiedener Einkommensgruppen allmählich auseinanderdriften.

Eine mögliche Erklärung für dieses scheinbare Paradox könnte bei der geographischen Verteilung der Bevölkerungsschichten liegen. Je stärker sich einzelne Einkommensklassen in ihren jeweiligen „Ghettos“ zusammenfinden, desto weniger Berührungspunkte ergeben sich zwischen ihnen – sei es über Schulen, Vereine, lokalpolitische Zusammenarbeit oder ganz einfach beim Samstagseinkauf.

Aus diesem Anlass haben wir die räumliche Verteilung des jeweils obersten Einkommensprozents aller Steuerzahler von 2008 mit derjenigen der Steuerperiode 1973-74 verglichen. (Die anonymisierten Individualdaten der direkten Bundessteuer machen’s möglich – mein Dank gilt wiederum der ESTV wie auch meinen Mitarbeitern Stefanie Brilon und Raphaël Parchet.)

Die grün gefärbten Bezirke auf unserer Schweizerkarte beherbergten im Jahr 2008 einen überdurchschnittlichen Anteil an „Top-1%“-Steuerzahlern, während die rosa und roten Bezirke unterdurchschnittlich mit derartigen Einwohnern bestückt waren. Das Resultat dürfte niemanden überraschen: 38% der „Top-1%“-Steuerzahler wohnen im Raum Zürich-Innerschweiz und 23% um den Genfersee. Ziemlich abgeschlagen folgen der Raum Basel (6%) und das Tessin (5%), plus ein paar Nobelorte in den Bergen und steuergünstige Ortschaften in der Ostschweiz.

Interessanter jedoch ist die Unterscheidung hell-dunkel: Die hellgrünen Bezirke sind seit den siebziger Jahren neu zu den überdurchschnittlich mit „Top-1%“-Steuerzahlern besiedelten Regionen gestossen, während die rosaroten Bezirke aus dieser Kategorie ausgeschieden sind.

Man sieht auf der Landkarte mehr Rosa als Hellgrün. Das deutet auf eine räumliche Ballung der „Top-1%“-Steuerzahler hin. Wenn man die Rechnung auf Gemeindestufe anstellt (was wir aus Datenschutzgründen nicht grafisch darstellen dürfen) findet man 416 „rosarote“ aber bloss 260 „hellgrüne“ Gemeinden. Die reichsten Haushalte konzentrieren sich also allmählich auf eine kleiner werdende Anzahl Wohnorte.

Zudem ist auf der Karte auch ein Trend weg vom Mittelland hin zu den Grossregionen Zürich-Innerschweiz und Genfersee zu erkennen. Der Anteil des Raums Zürich-Innerschweiz stieg von 30% in der Periode 1973-74 auf 38% im Jahr 2008, und derjenige des Genferseebogens wuchs im gleichen Zeitraum von 16% auf 23%. Den grössten Anstieg verzeichneten die Kantone Schwyz (von 1% auf 6%) und Waadt (von 8% auf 12%), während die stärksten Rückgänge in den Kantonen Bern (von 11 auf 5%) und Basel-Stadt (von 7 auf 3%) zu beobachten waren.

Das oberste Einkommensprozent orientiert sich offensichtlich immer mehr an den drei „S“: Stadtnähe (mit Flughafen), Seenähe und Steuerattraktivität. Letzterer Aspekt ist aus polit-ökonomischer Sicht besonders interessant, denn Steuerunterschiede sind nicht nur Anlass sondern auch Folge der Wohnsitzwahl.

Der Zusammenhang zwischen Steuerwettbewerb und der räumlichen Verteilung verschiedener Einkommensschichten ist daher eine der zentralen Forschungsfragen des Nationalfonds-Projektes, in dessen Rahmen wir diese Daten analysieren. Resultate dereinst auf diesem Blog…

 

Wahlanalyse: Das Schulden-Einmaleins

Die Wahlresultate in Frankreich und Griechenland, so meldet beispielsweise der Tagesanzeiger seien ein Votum „gegen den rigiden Sparkurs Europas, wie ihn Deutschland seinen Partnern aufgezwungen hat“. Wofür aber stimmt man, wenn man gegen das Sparen stimmt?

Ein Staat kann mit seinen Schulden auf vier [korr.] Arten umgehen:

  1. sie mit eigenem (gespartem) Geld zurückzahlen,
  2. sie mit neu geborgtem Geld zurückzahlen (refinanzieren),
  3. sie mit neu gedrucktem Geld (d.h. real nur teilweise) „zurückzahlen“,
  4. sie nicht zurückzahlen (Bankrott erklären).

Nun ist also Variante 1 politisch „out“. Variante 2 geht aber nur, wenn jemand neues Geld zur Verfügung stellt. Wer soll aber Geld geben, wenn der Schuldner das Sparen ausdrücklich ablehnt. Also ist Variante 2 auch out. Variante 3 ist im europäischen Verbund auch out, da die einzelnen Staaten kein Geld mehr drucken können (für die EZB lassen wir für einmal die Unschuldsvermutung gelten). Damit bleibt als einzige die Variante 4, der offene Staatsbankrott.

Man wird ja wohl noch für den Staatsbankrott stimmen dürfen!? Gewiss, nur hätte ich dann wohl nicht noch den culot, die Finanzmärkte und die Deutschen anzuschwärzen, wenn sie die Botschaft verstehen und nichts mehr geben.

P.S.: Die Baron-von-Münchhausen-Variante, wonach der bankrotte Staat mit noch mehr Ausgaben jenes Wirtschaftswachstum erzeugt, das dank zusätzlicher Steuern die Ausgaben finanziert, lasse ich dort, wo sie hingehört — im Märchenbuch.