Der e-Franken

Urs Birchler

Vollgeld hat an der Urne verloren. Scheinbar. Der Kern der Idee — unser Geld soll SNB-Geld sein — lebt nämlich weiter in der viel einfacheren Form des elektronischen Zentralbankgeldes, des e-Frankens. Weshalb sollen wir nicht alle ein Guthaben direkt bei der SNB eröffnen können? Sicher, bequem, elektronisch. Und wenn die SNB nicht selber ein paar Millionen Konti führen will, läge hier nicht vielleicht die wahre Aufgabe für die arme Postfinance.

Verschiedene Zentralbanken sind daran, die Idee des Central Bank Digital Cash (oder Currency), CBDC, intern zu prüfen. Letzte Woche wurde die Idee aus verschiedenen Blickwinkeln diskutiert an einer SUERF-Konferenz (Do we need central bank digital currency? Economics, Technology and Psychology) in Mailand. Hier kurz einige der diskutierten Fragen.

  • Will das Publikum noch Bargeld in Papierform? In einzelnen Ländern geht der Notenumlauf stark zurück (Schweden als Paradebeispiel taugt allerdings nicht, da die Notenbank den Banken das Bargeld selber vergrault hat). In anderen steigt er.
  • Wäre e-Geld eine Art Bitcoin? Kaum eine Notenbank möchte sich mit anonymen Konti dem Vorwurf der Geldwäscherei aussetzen. Aber digitales Geld ist nicht gleichbedeutend mit Krypto-Geld und muss auch nicht unbedingt auf einer Blockchain beruhen. Ein herkömmliche Buchhaltung tut’s auch (Stichwort: accounts, not tokens). Die Frage bleibt: Wer hat Einblick in Kundendaten und Transaktionen? Die Notenbank? Ein zwischengeschalteter Abwickler? Nur Strafverfolger mit richterlicher Ermächtigung?
  • Wäre e-Bargeld verzinslich? Im Prinzip ja. Die technische Beschränkung, die einen Zins auf Banknoten praktisch Ausschliesst, bestünde bei e-Geld nicht. Möglich wäre auch eine negative Verzinsung. Die Notenbank könnte also das Geldaussgeben direkt anheizen. Dies gefiele vor allem jenen Ökonomen, welche die faktische Untergrenze der Bargeldverzinsung bei null als Deflationsursache sehen.
  • Verträgt sich zentrales e-Geld mit elektronischem Geld auf Bankkonti? Eher schlecht; im Krisenfall würden die Bankkunden ihr Geld rasch auf die Notenbank übertragen wollen.
  • Würden die Bilanzen der Notenbanken länger? Wie der Vize-Gouverneur der Banca d’Italia warnte: Ja, sehr. Im Umfang, in dem das Publikum von Bankeinlagen auf elektronisches Notenbankgeld umstiege, wüchsen die Bilanzen der Notenbanken und mit ihnen auch die Höhe der von diesen verwalteten Vermögen.
  • Gibt es schon Versuche? Ja, zum Beispiel den vom Gouverneur der Zentralbank von Uruguay vorgestellten Pilotversuch mit einem e-Peso.
  • Besteht eine Garantie, dass e-Geld nicht in der Verwendung eingeschränkt würde, z.B. „ungültig zum Erwerb von Alkohol“ oder von fossilen Brennstoffen, etc.? Diese Frage wurde in der Diskussion aufgeworfen; niemand wagte ein klares Nein.

Alle Präsentationen sind hier zugänglich. Eine ausführlichere Analyse der Pros und Contras von CBDC folgt hier zu gegebener Zeit. Vorläufiges Fazit: Der Fall für oder wider „Vollgeld light“ in Form von Central Bank Digital Cash ist verzwickter, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

Vollgeld-Autoritäten

Urs Birchler

Jörg Baumberger, mein Kollege von der UniSG, hat sich die Mühe gemacht, einige der von den Vollgeld-Initianten immer wieder zitierten Belege und Autoritäten genau anzusehen. Sein Bericht (hier im Volltext) ist ernüchternd:

  1. Die von den Initianten dauernd zitierte Studie der Copenhagen Business School: krass fehlerhaft. Die Reaktion der Initianten auf Feststellung der Fehler: im Stillen zugeben und öffentlich verschweigen.
  2. Die Behauptung, Island befinde sich auf dem Weg zum Vollgeld: Längst überholt.
  3. „Zeuge“ Thomas Mayer (ehemaliger Chefökonom der Deutschen Bank und bekennender Staatsskeptiker): wirr. Er befürwortet Vollgeld nur als Übergang zur Privatisierung des Geldwesens [wie das???] und hält Devisenmarktinterventionen der Zentralbank unter Vollgeld für unmöglich; bei Wechselkurs-Turbulenzen hälfen dann gemäss Mayer nur Kapitalverkehrskontrollen.
  4. Der (Vollgeld-)Vorschlag der IMF-Ökonomen von Kumhof&Benes: vom IMF mit einem fetten Disclaimer versehen und von den VGI-Vertretern (aufrund der vielleicht nicht so erfreulichen Implikationen) mittlerweile als Hirngespinst der Gegner abgetan.
  5. Ein Mitglied des akademischen Beirats der Kampagne meint, die Vollgeld-Idee beruhe auf einer ‚conception erronée de la monnaie‘; er stimme aber trotzdem „ja“, so als Denkanstoss.

Danke Jörg!

Geldpolitik unter Vollgeld

Urs Birchler

Ein Knackpunkt der Vollgeld-Initiative ist die Geldpolitik. Die Initiative fordert, dass neu geschaffenes Geld von der SNB à fonds perdu, also ohne Gegenleistung, an Bund und Kantone oder Bürgerinnen und Bürger abgegeben werden muss. Im vorgeschlagenen Art. 99a Abs. 3 heisst es:

Sie bringt im Rahmen ihres gesetzlichen Auftrages neu geschaffenes Geld schuldfrei in Umlauf, und zwar über den Bund oder über die Kantone oder, indem sie es direkt den Bürgerinnen und Bürgern zuteilt.

Die SNB erwirbt also bei der Geldausgabe keine Vermögenswerte (Auslandsdevisen und Wertpapiere) mehr, mit denen sie ausgegebenes Geld auch wieder zurückkaufen kann. Aber: Wie es SNB-Präsident Thomas Jordan formulierte: „Wie fordert man Geld zurück, das man zuvor verschenkt hat?“ Eine restriktive Geldpolitik, und damit Inflationsbekämpfung, ist unter der VGI unmöglich.

Die Initianten haben erkannt, dass sie einen Bock geschossen haben. Zum Glück steht im besagten Abs. 3 auch noch ein zweiter Satz:

Sie kann den Banken befristete Darlehen gewähren.

Über Kredite an die Banken wäre eine auf beide Seiten flexible Geldpolitik noch möglich. Nur: Das würde die Stellung der Banken gegenüber heute noch stärken und die Nationalbank zur Grossgläubigerin der Banken — mit den entsprechenden Risiken — zwingen. Genau das Gegenteil von dem, was die Initiative eigentlich wollte.

Drum suchten die Initianten verzweifelt nach einem dritten Weg und fanden ihn — in einer faustdicken Lüge. Klammheimlich fügten Sie in Der Initiativtext erläutert auf Ihrer Website einen Satz ein:

Zusätzlich kann die SNB wie bisher neues Geld durch den Kauf von Auslandsdevisen und Wertpapieren in Umlauf bringen und kann auch über diese Wege die Geldmenge vergrössern und verkleinern.

Dieser Satz war ursprünglich nicht drin [Dank an Joerg Baumberger für ein PDF des ursprünglichen Textes!]. Verständlich, denn er widerspricht dem Initiativtext frontal. Ob die Initianten die eigene Initiative nicht gelesen haben oder ob sie bereits den Teilrückzug anstreben, sei dahingestellt. Den Nimbus der ehrlichen Idealisten haben sie bei mir jedenfalls verloren.

Vollgeld: eine Schlangenfangerei

Urs Birchler

Auf die bevorstehende Abstimmung vom 10. Juni hin, hier eine aktuelle Version des von Jean-Charles Rochet und mir verfassten Vollgeld-Leifaden. Der Leifaden ist neutral geschrieben und versucht, den Argumenten sowohl der Befürworter als auch der Gegner gerecht zu werden.

Die teilweise völlig verdrehten Argumente der Initianten in der öffentlichen Diskussion (kürzlich war ich mit Kathrin Bertschy (GLP) und Raffael Wüthrich (VGI) am Radio, nachzuhören im Kontext) erfordern hier aber auch einmal Gegensteuer.

Ich sag’s daher frei heraus: „Vollgeld“, so wie es die VGI vorschlägt, ist ein Etikettenschwindel. Und der geht so:

  1. Die VGI fordert, dass Einlagen des Publikums bei den Banken zu 100 Prozent, d.h. „voll“, durch Guthaben dieser Banken bei der Nationalbank gedeckt sind,
  2. Die VGI fordert gleichzeitig, dass die SNB neugeschaffenes Geld an Bund und Kantone oder Bürgerinnen und Bürger verschenkt. Den Banknoten und den Guthaben der Banken bei der SNB steht dann also in letzter Konsequenz kein Gegenwert mehr gegenüber, sie würden dann zu „Leergeld“ (meine Terminologie), dessen Wert nicht mehr durch ein SNB-Vermögen gestützt wird.

Die VGI würde also dazu führen, dass unser Geld „Vollgeld“ heisst, aber voll nur noch durch Leergeld gedeckt ist.

Der Finanzhimalaya

Urs Birchler

Der Beitrag zur SNB von Simon Schmid (2. Folge) in der Republik weckt nostalgische Gefühle. Seine sehr hilfreiche Grafik zur Entwicklung der SNB-Bilanz erinnert mich an eine analoge Grafik, mit der wir in den den achtziger und frühen neunziger Jahren in den Geschäftsberichten der SNB jeweils die Entwicklung der Bankbilanzen illustrierten. Aufgrund der „Berge“ in der Grafik „Mittelfluss“ erhielt diese von den Kollegen den Übernamen „Himalaya-Grafik“. Zunächst aber die ruhigere Abbildung der Bilanzstruktur:

Sie zeigt blau die von den Banken vergebenen Kredite, rot-braun deren Finanzierung und grün die Kreditbeziehungen zwischen den Banken, die logischerweise beidseitig (Aktiven und Passiven) auftauchen. Nun aber ab ins Hochgebirge, zum Geldabfluss (oben) und seinem Spiegelbild, dem Geldzufluss (unten).

Das blaue Massiv, der Mittelabfluss in Form der Kreditvergabe (netto) zeigt schön den Konjunkturboom der späteren achtziger Jahre. Die SNB musste die Party allerdings auftragsgemäss verderben und die Zinssätze angesichts drohender Inflation ansteigen lassen. Dies führte zu den typischen Verlagerungen der Kundengelder auf (mittelrosa) Termineinlagen (Festgelder), da deren Verzinsung rascher reagierte als die Zinssätze auf den Sparheften. Die Spargeldbestände (hellrosa) und die Sicht- und Kontokorrenteinlagen nahmen ab (das heisst, sie wechselten 1990 in die obere Hälfte (Mittelabfluss). Ferner nahmen die Banken seit 1988 netto Geld bei ausländischen Banken auf; das Interbankgeschäft (grün) wechselt vom Mittelabfluss zum Mittelzufluss. Nicht alle Banken konnten das (blaue) Kreditwachstum rechtzeitig verdauen. Die Spar+Leihkasse Thun, die tatsächlich Kredite zum Teil ins Blaue hinaus gegeben hatte, ging 1991 unter. Das Kreditgeschäft der Banken geriet denn auch 1984 in die Flaute.

Einige Leser verstanden den Himalaya jeweils nicht ohne Sauerstoff; eine veränderte Rechnungslegung riss zudem tiefe Verwerfungen auf. So wurde die Grafik schliesslich eingestellt. Mit wehmütigem Gruss an meine damaligen Kolleginnen und Kollegen im „Ressort Bankwirtschaft“, wie die Keimzelle der heutigen Finanzstabilität damals hiess. Und mit Dank an Simon Schmid.

Zinsanstieg: so schnell kann es gehen

Urs Birchler

Das grösste Risiko der Banken ist nach wie vor das Risiko eines brüsken Zinsanstiegs. Dies gilt besonders für die auf das inländische Hypothekargeschäft ausgerichteten Banken — und für ihre Schuldner, soweit sie sich nicht durch langfristige Hypotheken abgesichert haben. Verbreitet scheint aber die Meinung vorzuherrschen, so wild werde es ja nicht kommen; Zinsanstieg ja, aber dann doch eher langsam.

Schon möglich. Trotzdem hat’s mich gejuckt, einmal nachzusehen, wie das denn früher war. Und siehe da: Die Grafik von 1958 bis heute zeigt: Es kann brutal rasch gehen. Mindestens bei den kurzfristigen Sätzen (3 Monate). Ein Anstieg um mehr als fünf Prozentpunkte innerhalb von 1-2 Jahren ist keine Seltenheit, und 8 Prozentpunkte innnert zweier Jahre gab’s schon zweimal (1980-81 und 1989-90). Seit 1990 sind die Zinssätze allerdings nie mehr so stark gestiegen; die Generation der in den 1980er Jahren Geborenen haben also kaum bewusst schon einmal eine Zinshausse erlebt. Drum hier die Grafik.

Zinssatz CHF 3 Monate

FINMA, Fuss!

Urs Birchler

Trockener kann ein Staatsstreich nicht mehr daherkommen. Im Telegrammstil: Der Nationalrat unterstützt Vorschläge, wonach der Finanzwachhund FINMA enger an die Kette des Parlaments (oder gar des Finanzdepartements) zu nehmen sei. Hintergrund: Die FINMA übt selber fast gesetzgeberische Funktionen aus, indem sie die durch Verfassung und Gesetzgebung vorgegebene Linie mittels zahlreicher Rundschreiben präzisiert. Sie tut dies in Eigenregie, ohne obrigkeitliche Kontrolle (die Betroffenen können allerdings ein Rundschreiben anfechten). Dabei sind Rundschreiben zunehmend kompliziert, was Banken und andere Finanzmarktteilnehmer nervt.

Geschossen wird aus verschiedenen Rohren:

Die Parlamentarier wollen der FINMA offenbar den Schneid beim Erlass von Rundschreiben abkaufen, jedenfalls von solchen, „die weiter gehen als das, was das Parlament beschlossen hat“.

Zu den Fakten: Die FINMA veröffentlicht rund ein halbes Dutzend Rundschreiben pro Jahr. Wer noch nie eines gesehen hat, möge zum Beispiel das jüngste besichtigen: Risikoverteilung — Banken. Es geht tatsächlich ins Detail. Beispiel: Wann sind zwei Gegenparteien verbunden, d.h. bei der Risikobeurteilung als eine Partei zu betrachten? Nur — die Frage stellt sich halt. Und ist halt knifflig. [Selbsttest für Leser(innen): Wie würden Sie Abhängigkeit definieren? Erst dann einen Blick aufs Rundschreiben werfen. Ich garantiere: Sie werden verblüfft sein, woran man alles denken muss.]

Die FINMA sieht, anders als manchmal die Unterstellten, die Rundschreiben nicht als Folterinstrument, sondern als Form der Selbstbindung: Sie

bezwecken eine einheitliche und sachgerechte Praxis der Aufsichtsbehörde bei der Anwendung der Finanzmarktgesetzgebung. FINMA-Rundschreiben konkretisieren offene, unbestimmte Rechtsnormen und beinhalten Vorgaben für die Ermessensausübung.

Im übrigen ist die FINMA längst nicht die einzige Quelle detailversessener Rundschreiben. Ihre Schwesterbehörde im Verkehrswesen beispielsweise, das Bundesamt für Verkehr (BAV), erlässt ebenfalls Rundschreiben und Richtlinien. Darin geregelt sind neben zahllosen technischen Details wie das Profil von Zahnrädern auch die Schriftgrössen auf Stationsbeschilderungen, die (minimale) Lautstärke von Lautsprechern oder die Liste und Grenzwerte der den Lokomotivführer(inne)n verbotenen Substanzen (inkl. Normen für die Gläser zur Entnahme von Urinproben). Dass das BAV dem UVEK, also einem Departement, untersteht, während die FINMA vom EFD weitgehend (nicht aber finanziell!) unabhängig ist, macht offenbar beim Detaillierungsgrad keinen grossen Unterschied. Die Gemeinsamkeit ist: Die Welt ist kompliziert geworden und mit ihr die Spielregeln.

Das Parlament liebäugelt jedoch mit einer „Reprise en main“ auf Kosten der Unabhängigkeit der FINMA. Dabei haben der IWF in seinem letzten Länderexamen der Schweiz (2012) und das Financial Stability Board (2014) gerade punkto (ungenügender) Unabhängigkeit der FINMA einen Tolggen im Schweizer Reinheft gefunden und den Bundesrat (nicht die FINMA) für die schlechte Formulierung im Gesetz kritisiert.

Warum jetzt den Wachhund trotzdem an die kurz Leine nehmen? Nicht — was ich verstehen könnte — weil er bei den Grossen eher bellt, bei den Kleinen eher beisst. Mein Verdacht ist ein anderer: Im Hintergrund wirkt die fehlgeleitete Überzeugung einzelner Politiker, wonach die FINMA für die Konkurrenzfähigkeit des Finanzplatzes Schweiz zuständig sei. Erhellend ist die vom Tages-Anzeiger NR Martin Landolt zugeschriebene Aussage, „die Finma lobbyiere [z.B. im Basler Ausschuss] international hinter ihrem [der Grossbanken] Rücken für härtere Bankenregeln“. Hier ging bei mir der Aalarm los. Ich habe jahrelang miterlebt, wie die ausländischen Aufseher im Basler Ausschuss zwar vordergründig für strengere Auflagen, aber mit deutlich mehr Ehrgeiz (und mildem Lächeln für die prüden Schweizer) für eine Sonderbehandlung ihrer einheimischen Banken gekämpft haben. Herausgekommen ist der faule Kompromiss namens Basel 2, der die Finanzkrise mindestens nicht verhindert hat. „Hinter dem Rücken der Banken“ gefällt mir schon als Formulierung hervorragend: Einzelne Politiker verstehen offenbar die FINMA als rechenschaftspflichtig gegenüber den Banken, d.h. als Schosshund, nicht als Wachhund.

Anstatt die FINMA zurückzupfeifen, könnte das Parlament dem Lande (und den Banken) einen anderen Dienst erweisen: Anständig zu legiferieren (dann bräuchte es auch weniger Rundschreiben) und uns künftig mit gesetzgeberischen Bastelarbeiten wie dem (wievielten jetzt?) Entwurf zum FIDLEG zu verschonen.

Die Schuldenbremse vervollständigen

Marius Brülhart

„Budgetiert wird rot, abgeschlossen wird schwarz.“ So bringt der Tages-Anzeiger auf den Punkt, wie der Bundeshaushalt im 21. Jahrhundert bislang funktioniert. Seit der Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2003 wird Jahr für Jahr weniger Geld ausgegeben als im Budget vorgesehen. Sogar in der tiefsten Finanzkrise war das so. Auch das Rechnungsjahr 2017 bot keine Ausnahme: Von den im Voranschlag gesprochenen Geldern blieben 400 Millionen als Kreditreste übrig. Und das trotz schmerzhafter Sparmassnahmen bei der Erarbeitung des Voranschlags im Dezember 2016.

Nicht voll ausgeschöpfte Budgets sind an sich kein Problem, sondern eher Ausdruck einer funktionierenden Verwaltung. Die Departemente haben in der Budgetierungsphase einen Anreiz, eine Sicherheitsmarge mit einzurechnen, denn Budgetunterschreitungen sind aus ihrer Sicht weniger problematisch als Budgetüberschreitungen. Zudem ist die Ex-post-Kontrolle von Rechnungsabschlüssen einfacher als die Ex-ante-Prüfung von Voranschlägen. (Die in jüngsten Jahren ebenfalls wiederkehrende Unterschätzung des Einnahmenwachstums – der wichtigste Grund für den ausserordentlich hohen Überschuss der Rechnung 2017 – ist ein separates Thema, welches ich hier ausblende.)

Budgetunterschreitungen sind auch in der Zukunft wahrscheinlich. Die letztes Jahr mit dem Neuen Führungsmodell der Bundesverwaltungeingeführten Globalbudgets dürften die Unterschreitungen zwar etwas eindämmen, aber im Finanzdepartement wird weiterhin mit Restposten von jährlich 0,5 bis 1 Milliarde gerechnet.

Die Schuldenbremse in ihrer aktuellen Ausgestaltung ignoriert dieses Phänomen. Gemäss des zentralen Verfassungsartikels hält der Bund „seine Ausgaben und Einnahmen auf Dauer im Gleichgewicht“. Diese Vorgabe wird im Finanzhaushaltgesetz zur Zeit so ausgelegt, dass die Ausgaben bereits im Budget die erwarteten Einnahmen in der Summe über den Konjunkturzyklus nicht übertreffen dürfen.

Die so im Gesetz verankerte Praxis ist vergleichbar mit einer Fluggesellschaft, die ihre Maschinen zu füllen versucht, indem sie genauso viele Tickets verkauft wie sie Sitze zu belegen hat. Im Schnitt führt eine solcher Ansatz jedoch zu einer Unterauslastung der Flugzeuge, denn es gibt meistens einen Anteil der gebuchten Passagiere, die ihre Reise aus unvorhergesehenen Gründen nicht antreten.

Da die effektiven Ausgaben jeweils unter den budgetierten Ausgaben zu liegen kommen, impliziert die gegenwärtig angewandte Schuldenbremse nicht ein Gleichgewicht von Ausgaben und Einnahmen, sondern einen quasi eingebauten Einnahmenüberschuss. Der oberste Verfassungsgrundsatz zur Schuldenbremse und dessen Umsetzung stehen somit in einem gewissen Widerspruch.

Eine Lösung dieses Widerspruchs wäre ziemlich einfach. Genau wie die Fluggesellschaften ihre Maschinen proportional zu den erwarteten „no shows“ überbuchen, könnte man auch im Voranschlag des Bundes eine antizipative Überbudgetierung im Umfang der erwarteten Kreditreste einbauen.

Konkret könnte man den Konjunkturfaktor der Schuldenbremse , mit welchem die erwarteten Einnahmen zur Festlegung des Ausgabenplafonds multipliziert werden, anpassen. Der gegenwärtige Konjunkturfaktor besteht aus dem Verhältnis vom langfristigen Trend-BIP und dem erwarteten BIP im Budgetjahr. In schlechten Jahren ist dieser Faktor grösser als eins und erlaubt ein Defizit. In guten Jahren ist er kleiner als eins und gebietet einen Überschuss im Voranschlag. Im langfristigen Mittel jedoch ist der Konjunkturfaktor per Konstruktion gleich eins und impliziert somit ein ausgeglichenes Budget. Dies zieht aufgrund der Kreditrest-Problematik im Durchschnitt überschüssige Rechnungsabschlüsse nach sich.

Man könnte den Konjunkturfaktor um einen additiven „administrativen Korrekturfaktor“ (AK) ergänzen. Für den Konjukturfaktor gälte somit neu die Formel ((Trend-BIP / aktuelles BIP) + AK), wobei AK den Prozentanteil der erwarteten Kreditreste beziffert. Bei einem Bundeshaushalt von 70 Milliarden schiene ein Wert von 0.01 für AK durchaus realistisch. Das wären immerhin 700 Millionen pro Jahr.

Der administrative Korrekturfaktor könnte jährlich aufgrund eines gleitendenden Mittels der Budgetunterschreitungen in vergangenen Rechnungsabschlüssen ermittelt werden. Angesichts der regelmässig wiederkehrenden Natur der Kreditreste darf man von einem über die Zeit ziemlich stabilen Wert ausgehen. Je länger der Zeitraum über welchen das gleitende Mittel berechnet würde, desto höher die Stabilität des Korrekturfaktors, und desto geringer auch die Gefahr, dass Kreditreste manipuliert werden könnten zur Beeinflussung künftiger Ausgabenplafonds.

Eine solche Komplettierung des Regelwerks würde die Schuldenbremse in sich kohärent ausgestalten, indem sie nun auf ein Gleichgewicht der der tatsächlichen Ausgaben und Einnahmen ausgerichtet wäre.

Die Einführung eines administrativen Korrekturfaktors würde zudem dauerhaften neuen Budgetspielraum bieten. Dieser Spielraum ginge auf Kosten einer weiteren nominalen Entschuldung des Bundes. Ein Rückbau der Nominalschuld ist aber im einschlägigen Verfassungsartikel nicht vorgesehen und auch ökonomisch nicht mehr unbedingt sinnvoll. Relativ zum BIP – und das ist die wirklich relevante Masszahl – würde die Entschuldung zudem weiter fortschreiten.

Der Expertenbericht zur Schuldenbremse , an dem ich letztes Jahr mitgewirkt habe, kam zum Schluss, dass solcher Budgetspielraum gegebenenfalls besser für Steuererleichterungen als für Ausgabenerhöhungen genutzt würde, da Kreditreste in erster Linie Ausdruck von nicht ausgeschöpften Budgetpuffern sind. Die anstehende Unternehmenssteuerreform oder Anpassungen bei der Familienbesteuerung könnten mittels einer solchen Korrektur der Schuldenbremse zumindest teilweise „gegenfinanziert“ werden. Im Prinzip könnte der Spielraum allerdings auch auf der Aufgabenseite ausgenutzt werden, zum Beispiel für höhere Zuschüsse an die AHV.

Der Expertenbericht präsentierte die hier skizzierte Anpassung der Schuldenbremse als erwägenswert, plädierte jedoch vorerst für eine Beibehaltung des Status Quo. Der Rechnungsüberschuss 2017 mit den weiterhin umfangreichen Budgetresten auch nach Einführung des neuen Führungsmodells in der Bundesverwaltung hat die Argumente für eine Anpassung der Schuldenbremse seither allerdings weiter gestärkt.

Das Ende der Banken: Replik

Urs Birchler

Auf meinen gestrigen Beitrag zu Das Ende der Banken habe ich einen längeren Kommentar der Autoren bekommen, der es verdient, hier anstatt nur versteckt als Kommentar, publiziert zu werden. Ich möchte aber die Kontroverse nicht hier und jetzt weiterführen, in der Annahme, es gäbe dazu künftig noch Gelegenheit.

Sehr geehrter Herr Birchler,

Wir freuen uns sehr, dass Sie «Das Ende der Banken» gelesen und unsere Argumentation als geradlinig und überzeugend empfunden haben. Gerne nehmen wir den Ball auf und stellen uns Ihren Kritikpunkten.

Uns lag in der Tat viel daran, unseren Standpunkt so präzise und klar wie möglich darzulegen. Und wir sind froh, dass Sie unser Bestreben hier erkennen. Deshalb waren wir auch etwas irritiert, dass unsere Vorschläge mit «Kastration» oder gar Totschlag bezeichnet werden. Im Grunde ist unser Buch ja lediglich eine nüchterne ökonomische Analyse mit dem folgenden Kern:

Das Bankenwesen hat uns im Industriezeitalter gute Dienste geleistet. Es überbrückte die divergierenden Interessen von Schuldnern und Gläubigern und war damit unerlässlich für ein florierendes Kreditwesen. Aber das Bankenwesen war schon immer fragil (Stichwort: bank run). Nur dank einem ausgeklügelten System von Zentralbanken, Einlagesicherungen, Staatsgarantien und Bankenregulierungen konnten die systemischen Risiken im Griff gehalten werden.

Die digitale Revolution hat dieses System dann untergraben. Die Bankenregulierung erwies sich ab den 1970er Jahren zunehmend als zahnlos. Ausserhalb des Sichtfelds vom Regulator konnte in den vergangenen Jahrzehnten das digitalisierte Bankenwesen unkontrolliert Geld und Kredit schöpfen – mit verheerenden Folgen.

Wir sind überzeugt:
Die systemischen Risiken des Bankenwesens können im digitalen Zeitalter nicht mehr unter Kontrolle gehalten werden. Der Regulierungsansatz aus dem industriellen Zeitalter funktioniert nicht mehr.

Wir sind aber auch überzeugt:
Die digitale Revolution ermöglicht neue Wege, die divergierenden Interessen von Schuldnern und Gläubigern zu überbrücken. Diese neuen Möglichkeiten sind dezentral, transparent und funktionieren ohne das Bankenwesen.

Die Schlussfolgerung aus all dem ist klar:
Wir haben die Kontrolle über das Bankenwesen verloren, benötigen es jedoch auch nicht mehr. Es ist deshalb an der Zeit, den bisherigen Regulierungsansatz fundamental zu überdenken.

Hier geht es weder um «Kastration», noch wollen wir etwas «umbringen», wie Sie etwas pointiert in Ihrem Beitrag festhalten. Nein, als liberale Ökonomen glauben wir vielmehr, dass transparente und faire Märkte eine positive Kraft für unsere Gesellschaft sind. Jedem freiheitlich denkenden Menschen ist zum Heulen zumute, wenn er oder sie das aktuelle Finanzwesen mit den gewaltigen Risk- und Compliance-Abteilungen und gleichzeitig boomender «regulatory arbitrage» sieht.

Im Kern geht es in «Das Ende der Banken» also darum, dass freiheitliche und marktorientierte Regeln auch wieder für das Finanzsystem gelten können. All unsere Vorschläge sind an diesen liberalen Prinzipien ausgerichtet – und ja, das ist im Kontext der aktuellen Debatte um das Bankenwesen in der Tat «knüppeldick».

Nun sind wir natürlich sehr gespannt auf Gegenargumente, welche wir nicht berücksichtigt haben. Wir haben redlich versucht, alle wichtigen Einwände bereits im Buch vorwegzunehmen und zu diskutieren – an dieser Stelle sei auf den ganzen Abschnitt der Besprechung von Professor Tobias Straumann hingewiesen, aus dem Sie den letzten Nebensatz zitiert haben:

«Die Autoren verzichten auf eine Diskussion über die Realisierbarkeit ihres Vorschlags. Ihr einziger Anspruch ist es, zu zeigen, dass ein Finanzsystem ohne Banken «sowohl erstrebenswert als auch möglich» sei. Dies ist ihnen vorzüglich gelungen, auch wenn ihre Idee kaum auf ungeteilte Zustimmung stossen wird.»

Wir sehen ein, dass unsere Kritik an der derzeitigen Finanzarchitektur nicht auf ungeteilte Zustimmung stösst. Doch das Problem an der Wurzel zu packen scheint uns immer noch besser, als Tausende weitere Seiten an Bankenregulierungen zu erarbeiten, zu analysieren und zu implementieren. Denn – da sind wir uns sicher – diese Sisyphusarbeit wird uns nicht vor der nächsten Krise bewahren.

Mit freundlichen Grüssen,
Jonathan McMillan

P.S: Der «Staubsauger» ist die Liquiditätsprämie, und unsere Definition von Eigenmittel und Finanzanlagen sind in den elementaren Buchhaltungstechniken begründet. Falls diese Definitionen nicht halten würden, wären auch die Konzepte der beschränkten Haftung und der juristischen Personen nicht mehr haltbar.

Banken abschaffen?

Urs Birchler

Jetzt kommt’s knüppeldick. Heute ist das Buch Das Ende der Banken: Warum wir sie nicht brauchen (basierend auf einer englischen Version von 2014) erschienen. Der fiktive Autor Jonathan McMillan steht für ein Duo bestehend aus dem NZZ-Wirtschaftsredaktor Jürg Müller und einem anonymen Investmentbanker. Die NZZ hat bereits vor zwei Wochen als Primeur eine Besprechung durch Tobias Straumann abgedruckt.

Die Autoren gehen aufs Ganze. Sie wollen verbieten, dass finanzielle Anlagen durch Schulden finanziert werden. Beispiel: Wer einen Hypothekarkredit gewähren will, darf diesen nicht mit Spareinlagen oder Kassenobligationen finanzieren. Im Klartext: Die Banktätigkeit wird verboten. Finanzielle Investitionen dürfen nur noch durch Eigenmittel finanziert werden. Eine „Bank“ bräuchte also hundert Prozent Eigenmittel (ausser für irgendwelche nicht-finanziellen Anlagen wie z.B. ihr Gebäude), wodurch sie zu einem Anlagefonds würde. Als zweite — „systemische“ — Sicherung müsste eine Unternehmung stets solvent sein, d.h. ein bisschen mehr Vermögen haben als Schulden.

Während die Vollgeldinitiative verlangt, dass Banken Kredite nicht mit Einlagen finanzieren („kein Geld schöpfen“), gehen die Autoren einen Schritt weiter und verbieten die Kreditfinanzierung mit Schulden überhaupt, egal ob mit Lohnkonti oder zehnjährigen Obligationen. Grob gesprochen: Die Vollgeldinitiative will die Banken in ihrer Fähigkeit zur Geldschöpfung kastrieren; die beiden Autoren von Das Ende der Banken wollen die Banken umbringen.

Gemein ist beiden Vorschlägen die „zweite Säule“: Die Geldschöpfung — die nur noch durch die Nationalbank erfolgen kann — soll nicht in Form eines Ankaufs von Vermögen (der Währungsreserven) erfolgen. Die Autoren sind auch hier radikaler als die Vollgeldinitiative: Neu geschaffenes Geld soll die Nationalbank an die Bürgerinnen und Bürger überweisen (die Vollgeldinitiative erlaubt auch eine Auszahlung an Bund und Kantone). Der Vorschlag beinhaltet also ein bedingungsloses Einkommen (wie die Autoren betonen: nicht Grundeinkommen, da die jährliche Geldschöpfung der SNB zu einem solchen nicht ausreicht). Und damit niemand auf dem Geld sitzen bleibt, kommt eine Liquiditätsprämie (gemeint: -steuer) dazu; Bargeld, das man einer solchen Besteuerung zu leicht entziehen könnte, wird abgeschafft.

Die Autoren versprechen sich (und den Leserinen und Lesern) einiges: Ein Ende von Finanzkrisen; Wegfall der (unbestritten) komplizierten Bankenregulierung; der impliziten Staatsgarantie für Banken und daher Wegfall des moral hazard im Bankenbereich — kurz: „Stabilität, Produktivität und Verteilungsgerechtigkeit“. Ein (zu) schöne neue Welt?

Die Autoren sind zu loben für eine überaus lesbare, flüssig geschriebene Einführung in die ökonomische Rolle der Banken. Die Argumentation wirkt auch selten propagandistisch (ausser: „Unser Vorschlag ist einzigartig, weil er das Digitalzeitalter mit offenen Armen begrüsst“). Ich habe auch keine Behauptungen entdeckt, die mir geradewegs falsch vorkamen. Die Argumentation wirkt geradlinig und überzeugt — fast. Ihre Stärke ist nämlich gleichzeitig ihre grösste Schwäche: Gegenargumente werden gar nicht erwähnt, geschweige denn geprüft.

Beispiel 1: Eine Bankenverbot dürfte wohl mit Kosten verbunden sein. Banken sind nicht nur eine (gelegentliche) Quelle von Krisen, sie haben auch über Jahrhunderte die wirtschaftliche Entwicklung begleitet und unterstützt. Ob dies im Zeitalter der Digitalisierung nicht mehr der Fall sein soll oder aber noch effizienter stattfinden wird, scheint mir offen. Die Autoren beklagen denn auch, dass die Fintech-Pioniere zunehmend mit den Banken kooperieren oder verschmelzen.

Beispiel 2: Wenn die Nationalbank Geld direkt an die Bürgerinnen und Bürger verschenkt, mögen sich diese freuen. Wie aber kann die SNB den Geldumlauf wieder reduzieren, sollte dies notwendig sein? Sie hat zwar einen Helikopter, aus dem sie Geld abwerfen kann, aber keinen Staubsauger, mit dem sie es wieder zurückholen kann. Eine Geldpolitik, die Wechselkursschwankungen abfedern kann, würde als auch gleich abgeschafft. Da klingt das Lippenbekenntnis zugunsten einer „unabhängigen Geldpolitik“ etwas hohl.

Und wetten, dass wir mit der Notwendigkeit „Eigenmittel“ und „Finanzielle Anlagen“ zu definieren, rasch wieder in der bösen alten Welt der Detailregulierung landen würden?

Fazit: Das Ende der Banken propagiert eine Rosskur, die ohne klinische Tests und ohne Packungsbeilage zu den Nebenwirkungen daherkommt. Tobias Straumann dürfte richtig prognostiziert haben, dass „die Idee kaum auf ungeteilte Zustimmung stossen wird“.