Die Reform der Altersvorsorge als Schuldenbremse

Monika Bütler

(publiziert in der NZZ vom 21. Januar 2015)

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund SGB warnte kürzlich vor einer Schuldenbremse in der AHV. Genauer gesagt: vor dem in der Reform Altersvorsorge 2020 als Ventil vorgesehenen zweistufigen Interventionsmechanismus. Dieser klinkt ein, falls der Stand des AHV-Ausgleichsfonds unter 70 Prozent der jährlichen AHV-Ausgaben sinkt. Schafft es der Bundesrat in einer ersten Stufe nicht, geeignete Anpassungen zu treffen, treten in einer zweiten Stufe vordefinierte Massnahmen automatisch in Kraft: eine Erhöhung der AHV-Lohnbeiträge und eine Einschränkung der an Löhnen und Preisen indexierten Rentenerhöhung.

Die Angst des SGB ist verständlich. Immerhin führte die Abkoppelung der Renten von der Entwicklung der Preise und Löhne in Grossbritannien zu einer erheblichen Altersarmut. Überraschender ist die Popularität des Interventionsmechanismus bei den bürgerlichen Parteien. Denn ausreichend wirksam in der relativ kurzen Frist weniger Jahre, in der eine Schuldenbremse greifen muss, sind nur Steuer- oder Beitragserhöhungen. Einsparungen aufgrund eines höheren Rentenalters kämen viel zu langsam; sofortige Rentenkürzungen wiederum sind nicht nur politisch unrealistisch, sondern verstossen gegen Treu und Glauben der Rentner.

Die Schuldenbremse in der AHV ist wohl wegen des Erfolgs der Schuldenbremse bei der Staatsverschuldung so populär. Doch der Interventionsmechanismus einer klassischen Schuldenbremse lässt sich nicht übertragen auf die Altersvorsorge. In der AHV ist es kaum möglich, Kosten zu reduzieren oder Investitionen auf bessere Zeiten zu verschieben. Im Gegensatz zur normalen Schuldenbremse geht es heute bei der Alterssicherung nicht in erster Linie um den mittelfristigen Ausgleich über einen Konjunkturzyklus, sondern um die Korrektur eines langfristigen demographischen Trends, der die Verschuldung nur in eine Richtung zieht: nach oben.

Interessant: In der Reform Altersvorsorge 2020 selber sind weder eine Aussetzung der Indexierung der Renten an Löhne und Preise, noch höhere Lohnbeiträge zentrale Bestandteile. Mit guten Gründen. In einer Rezession, in der eine automatische Schuldenbremse aus offensichtlichen Gründen wahrscheinlicher greift als während einer Hochkonjunktur, schaden die Massnahmen mehr, als sie nützen. Das Lohnwachstum ist ohnehin gering, und eine höhere direkte Belastung der Löhne verstärkt eine Wirtschaftskrise noch.

Das Grundproblem einer Schuldenbremse in der Altersvorsorge liegt allerdings noch tiefer. Der Interventionsmechanismus ist eine verteilungspolitisch fragwürdige und volkswirtschaftlich teure Antwort auf das Fehlen von Automatismen. Bei aller Uneinigkeit über deren Gewichtung und Ausmass: Die in der Reform 2020 vorgesehenen Massnahmen sind volkswirtschaftlich vertretbar: Eine (allerdings homöopathische) Erhöhung des Rentenalters, die Anpassung des Umwandlungssatzes und eine Finanzierung über die Mehrwertsteuer. Nicht sinnvoll ist hingegen die Fixierung auf feste Zahlen und Zeitpunkte. Denn die Dauer des Rentenbezugs und die finanzierbare Höhe der Rente aus der kapitalgedeckten Vorsorge werden letztlich nicht durch die Politik bestimmt, sondern durch demographische Variablen, wie Lebenserwartung und Bevölkerungsentwicklung einerseits, und wirtschaftliche Grössen, wie Zinsniveau und technischer Fortschritt andererseits. Fixe Anpassungen können in beide Richtungen falsch sein; so ist ein Umwandlungssatz von 6% heute zu hoch, aber zu tief, wenn Inflation und Zinsen wieder einmal auf vergangene Niveaus ansteigen.

Wie alle Fahrzeuglenker wissen: Der richtige Bremszeitpunkt ist, wenn das Hindernis auf der Strasse bemerkt wird. Bei der Alterssicherung der Schweiz ist der richtige Zeitpunkt heute, 2015. Die künftigen Rentner bis 2080 sind nämlich alle bereits geboren. Die oft angeprangerten falschen AHV-Prognosen in der Vergangenheit waren im wesentlichen Fehler im Timing und nicht im Eintreffen der Probleme. Bundesrat Berset hat dies richtig erkannt. Versäumt hat er in der ersten Version seiner Reform, Automatismen einzubauen, welche die nicht politisch bestimmbaren Parameter an deren Bestimmungsfaktoren knüpfen: Eine Anpassung der flexiblen Spanne des Rentenalters an die Lebenserwartung, des Umwandlungssatzes an Zinsumfeld und demographische Parameter.

Es ist durchaus verständlich, dass solche reinen Automatismen Bürgern und Politikern nicht geheuer sind. So sind beim Umwandlungssatz Schwankungen (während einer Finanzkrise beispielsweise) nicht auszuschliessen, die einzelne Rentnergenerationen benachteiligen. Eine vernünftige Alternative zum blinden Autopiloten wäre deshalb ein gesteuerter Automatismus: eine Delegation an eine Kommission, die anhand des Kompass beobachtbarer Variablen eine notwendige Anpassung über die Zeit glätten kann (wie es beispielsweise bei der Mindestverzinsung faktisch bereits der Fall ist).

Wünschenswert wäre zudem, wenn die Eckpfeiler der Rentenreform periodisch, aber zeitlich zwingend vorbestimmt, überprüft werden müssten. So könnten das Feilschen um den richtigen Zeitpunkt und das Aufschieben des politischen Dialogs, wie wir dies in der AHV in den letzten 20 Jahren beobachten mussten, vermieden werden.

Vernünftige Automatismen verstetigen die notwendigen Reformen und verbessern so die Planbarkeit für künftige Rentner. Dauernde Bremsbereitschaft erlaubt eine sanfte Anpassung; diese ist gerechter und effizienter als eine von einer akuten Finanzierungskrise diktierte Vollbremsung im dümmsten Zeitpunkt. Die Reform der Altersvorsorge braucht keine Schuldenbremse. Sie muss selber eine Schuldenbremse sein.

Endspiel Griechenland: Achtung Profis am Tisch!

Urs Birchler

In der neuen griechische Regierung sitzen mehrere Minister, die als Beruf „Ökonom“ und/oder „Mathematiker“ angeben könnten. Allen voran der neue Finanzminister Yanis Varoufakis. Varoufakis Spezialgebiet ist Spieltheorie (die Theorie strategischen Verhaltens); er hat u.a. zwei Lehrbücher dazu mitverfasst (siehe unten).

Dies verheisst den Gegenparteien wie EU, EZB oder IMF im Verhandlungspoker kein leichtes Spiel. Aber es erlaubt eine Vermutung, wie es kommen könnte, wenn alle Seiten rational spielen. Varoufakis hat seine Sicht bereits in einem Aufsatz vom Februar 2012 offengelegt: „Greek default does NOT equal Greek exit“. Er skizziert darin einen „dritten Weg“ zwischen Austerität Austritt aus der Euro-Zone. Im Klartext: „Greece must default within the eurozone!“

Strategisch geht das dann so: Griechenland ist nahe an einem Primärüberschuss. Die alten Schulden sind aber zu hoch. Diese sind zu kürzen (was in der Zwischenzeit auch bereits geschah). Das einzige Problem, das dann verbleibt, sind die griechischen Banken; sie sind weiterhin auf Unterstützung durch die EZB angewiesen. Es liegt aber gar nicht im Interesse der EU und der EZB, die griechischen Banken fallen zu lassen: „the ECB will not knowingly take steps which will destroy the eurozone“. Im Gegenteil: „Europe’s optimal strategy is to let Greece default, to allow the Greek government to find ways to live within its tax take for the next year or so and, at the same time, work out the Overall Solution to the euro crisis that was promised last year and never delivered.“

Der GREFAULT ist also das Resultat, wenn sowohl Griechenland als auch die EU je ihrer optimalen Strategie folgen. Das nennt man ein Nash-Gleichgewicht, und es liegt nahe, dieses als Prognose des Kommmenden zu verwenden.

Die EZB hat sich bereits selbst zu fesseln versucht mit dem Hinweis darauf, dass ihr ein Schuldenerlass gesetzlich untersagt sei. Der IMF seinerseits wird auf dem Vorrang seiner Guthaben bestehen. Verschiedene Politiker aus der EU haben einen Austritt Griechenlands als verkraftbar bezeichnet. Was aber, wenn Varoufakis‘ Poker aufgeht, und die EU (wie schon 2012) einen GREXIT letztlich eben doch nicht will, bzw. ihn sich nicht leisten kann?

Dann bleibt — spieltheoretisch — wohl nur ein dritter Weg innerhalb des dritten Wegs: Ein versteckter GREFAULT, bei dem die griechischen Schulden so umgemischelt werden, dass Griechenland lange nichts zahlen muss, aber die Gläubiger im Moment keine Abschreiber verbuchen müssen.

Studenten und Studentinnen sind herzlich eingeladen, den genauen Spielbaum zu zeichnen und Fehler in meiner Argumentation zu melden!

Yanis Varoufakis zur Spieltheorie:

  1. Rational Conflict, Oxford: Blackwell, 1991.
  2. Game Theory: A Critical Introduction (mit Shaun P. Hargreaves Heap), London, Routledge, 1995.
  3. Game Theory: A Critical Text (with Shaun Hargreaves-Heap), London and New York: Routledge, 2004.

Vollgeld

Urs Birchler und Monika Bütler

Die Vollgeldinitiative ist lanciert. Volles Geld bringt volle email Boxen mit Anfragen von interessierten Journalist(inn)en und Student(inn)en. Glücklicherweise hat unser emeritierter (HSG) Kollege Jörg Baumberger sich schon die Mühe genommen, die Argumente gegen eine Vollgeldreform aufzuschreiben. Fazit: Nicht die Geldschöpfung der Geschäftsbanken ist verantwortlich für die Instabilitäten des Finanzsektors. Banken müssen mit anderen Mitteln sicherer gemacht werden – durch höhere Eigenmittelvorschriften, zum Beispiel.

Alle Anfragen zur Vollgeldinitiative erhalten daher von uns den Link auf Jörg Baumbergers NZZ Artikel.

PS: Jörg Baumberger ist zwar emeritiert aber keineswegs eremitiert. Er ist nach wie vor sehr aktiv und bringt ökonomische Zusammenhänge wie eh und je luzide auf den Punkt.

Warum der Euro scheitert

Ein Ende der Euro-Krise ist leider ebenso wenig in Sicht wie ein einfacher Ausweg, schreibt Prof. Gebhard Kirchgässner in Replik auf einen Vortrag von Prof. Heiner Flassbeck an der HSG.

Von Gebhard Kirchgässner

Heiner Flassbeck weiss es ganz genau, und er hat es in einem öffentlichen Vortrag, der an der Universität St. Gallen stattfand, allen erklärt: Die Eurozone steckt in einer Währungskrise, und diese wird dazu führen, dass sie spätestens in fünf Jahren auseinanderbrechen wird. Er sieht nur zwei Möglichkeiten. Entweder steigen die südlichen Länder aus und führen wieder eine eigene Währung ein, die dann stark abgewertet werden müsste, oder die gesamte Eurozone gerät in eine massive Krise.

Flassbeck weiss auch, warum dies so sein wird: Der Euro scheitert, weil die Inflation in Deutschland seit Einführung des Euro zu gering war. Deutschland hat sich nach seiner Auffassung nicht an die Abmachung gehalten, die mit der Einführung der gemeinsamen Währung verbunden war: die Preise jährlich um 2 Prozent steigen zu lassen. Deshalb sind die Lohnstückkosten in Deutschland sehr viel weniger stark angestiegen als insbesondere in den südlichen Ländern der Eurozone, aber auch als in Frankreich.

Dies hat die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder beeinträchtigt. Da ihnen das traditionelle Mittel einer Abwertung nicht mehr zur Verfügung stand, musste diese Währungskrise eintreten. Die Finanz- und Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre war zwar der Auslöser, aber nicht die Ursache für die heutige Währungskrise in der Eurozone.
Weiterlesen

Warum Deutsche weniger vermögend sind als Griechen

Monika Bütler

(Kolumne NZZ am Sonntag, 21. April 2013)

Wohlgenährte deutsche Häuslebauer, bedürftige Griechen – an die Bilder haben wir uns gewöhnt. Nun werden sie gestört: Die vor kurzem veröffentlichten Statistiken der Europäische Zentralbank wollen so gar nicht passen zu den armen Südeuropäern, die von den knausrigen Deutschen kurz gehalten werden. Deutsche Haushalte sind im Mittel weniger vermögend als die Haushalte in Italien, Spanien, Griechenland und Zypern.

Eine Sensation, würde man meinen. Anders als viele Studien, die es in die Schlagzeilen schaffen, stammen die Zahlen aus einer langjährigen und wissenschaftlich seriös durchgeführten Datenerhebung. Also: europaweit grosse Zeitungsartikel? Weit gefehlt: Die Resultate werden nur verschämt präsentiert. Selbst in Deutschland üben sich Medien und Politik nur ein einem: dem verzweifelten Versuch, Deutschland reich zu rechnen.

Viele Gründe werden angeführt, weshalb den Statistiken nicht zu trauen sei. Die Haushalte seien unterschiedlich gross. Die Hauseigentümer-Quoten und die Entwicklung der Immobilienpreise seien von Land zu Land sehr verschieden. Das stimmt alles. Nur: Die Lektüre des Berichts samt Methodenteil haben sich die Kommentatoren offenbar erspart: Da steht nämlich alles schon drin. Also auch, dass Haushaltgrösse und Immobilienpreise nicht reichen, um das Bild umzukehren. Wie man es auch immer dreht und wendet: Südliche Haushalte haben nicht weniger Vermögen als die nördlichen. Dabei behauptet niemand, Deutschland sei arm. Die Suche nach dem richtigen Trick, Deutschland doch noch reich aussehen zu lassen, ist ohnehin müssig. Viel gescheiter wäre es, zu fragen, weshalb die deutschen Haushalte im Vergleich zu den südlichen so arm an Vermögen sind. Oder mindestens so aussehen.

Mein Versuch einer Erklärung: Die Deutschen können, müssen und wollen weniger sparen.

Weiterlesen

Zypern

Urs Birchler

Einer unserer Leser schreibt: „Da kochen doch gröbere Geschichten hoch in EU-Land … und Batz schweigt?“ Recht hat er, nur: Erstens wollen Vorlesungen vorbereitet sein. Und zweitens: Nachdem sich schon Paul Krugman und Vladimir Putin einig sind, was können wir noch beitragen?

Daher ultra-kurz meine Einschätzung:

  1. Eine Bankensanierung mittels Gläubigerschnitt wäre grundsätzlich die bessere Alternative zur Rettung auf Staatskosten. Ein solcher Schnitt muss aber im voraus gesetzlich oder vertraglich festgelegt, nicht nachträglich verordnet werden.
  2. Die EU-Richtlinie zum Einlegerschutz verlangt von den Mitgliedländern eine Sicherung von Fr. 100’000 pro Einleger. Guthaben unter 100’000 anzutasten, widerspricht Treu und Glauben.
  3. Ein Abschlag auf gesicherte Einlagen zerstört das Vertrauen in die Einlagensicherung auch in anderen EU Ländern.
  4. Die EU-Einlagensicherung ist weitgehend Fassade. Die versicherten Einlagen sind lediglich zu rund 1,5 Prozent gedeckt, und die Sicherungsträger haben (anders als in USA, Schweiz u.a.) kein Konkursprivileg, das ihnen vorrangigen Zugriff auf das Bankvermögen garantiert.
  5. Die EU hat es versäumt, nach der Finanzkrise ein brauchbares Insolvenzrecht für Banken zu erlassen, daher kann sie erneut nur improvisieren.

Sehr durchdacht kommt mir das Rettungspaket insgesamt nicht vor.

Ähnliche Einschätzungen in Der Spiegel, bei FT-Alphaville oder bei Charles Wyplosz.

„Staatsgeheimnis Bankenrettung“

Urs Birchler

Fast hätte ich’s verpasst: Sieben Tage Arte-Doku über die Rettung der Banken. Und wo ist das Geld gelandet? Viel Vergnügen.

Dank an Stefan Zacher für seinen Hinweis auf Twitter.

Höhere Steuern? Höhere Steuern!

Monika Bütler

Aus aktuellem Anlass (gravierende Budgetprobleme in denjenigen Kantonen, welche ihre Steuern massiv gesenkt hatten) hier eine alte Kolumne in der NZZ am Sonntag (11. September 2011).

Die Lage der öffentlichen Finanzen in der Schweiz ist schlechter, als es scheint

Verkehrte Welt! In verschiedenen Ländern fordern reiche Bürger höhere Steuern. Die Regierungen? Wollen nicht. Dabei täten sie gut daran, die Argumente für etwas mehr Steuern auf sehr hohen Einkommen und Vermögen zu prüfen. Auch in der Schweiz.

Noch vor wenigen Jahren galten Steuersenkungen als Gratisaktion: Dank mehr Investitionen und höherer Produktivität würden sich die Steuersenkungen selbst finanzieren. Diese Hoffnungen wurden enttäuscht. Neben Gewinnen für die Bessergestellten blieben Defizite der öffentlichen Hand. Eigentlich müssten heute mindestens ein Teil der Steuersenkungen rückgängig gemacht werden. Doch fast alle (Politiker) scheuen nur schon die Diskussion darüber. Dabei steht es um die öffentlichen Finanzen schlechter, als es scheint. In den offiziellen Zahlen sind die impliziten Schulden aufgrund der alternden Bevölkerung noch gar nicht eingerechnet.

Einem wohl länger anhaltenden Rückgang der Steuereinnahmen zum Trotz: Lieber werden der Polizei und den Spitälern die dringend notwendigen Stellen vorenthalten und die Infrastruktur vernachlässigt als Steuern angehoben. Doch solche Sparübungen bringen gesamtwirtschaftlich wenig. Aber sie treffen die weniger Verdienenden und gefährden den Zusammenhalt der Bevölkerung, letztlich die Grundlage einer erfolgreichen Wirtschaft. Es erstaunt nicht, dass die Halbierung der Vermögenssteuern im Kanton Zürich wuchtig verworfen wurde.

Auch viele Reichen haben erkannt, worin der Erfolg westlicher Volkswirtschaften besteht. Ungleichheiten werden akzeptiert, solange die Glücklicheren ihren Teil am Gemeinwohl leisten. Eigentum verpflichtet, heisst es sogar explizit im deutschen Grundgesetz. Ganz besonders stark ist der stillschweigende Gesellschaftsvertrag in den USA. Das erklärt einen Teil der Ungeduld, mit der die USA von der Schweiz einfordern, was Steuerflüchtige der amerikanischen Gesellschaft finanziell und ideell entzogen haben.

Die Angst der Politiker und vieler Bürger selbst vor einer geringfügig stärkeren Besteuerung sehr hoher Einkommen und Vermögen ist dennoch verständlich. Denn die Linke fordert Steuererhöhungen, nicht um Schulden und Defizite abzubauen, sondern um Mehrausgaben zu finanzieren, von frühzeitiger Pensionierung bis zu Subventionen für alles und (fast) jeden. Wer gegen solche Ausgaben ist, kämpft logischerweise gegen Steuererhöhungen.

Dass sich die Kantone scheuen, Steuern für sehr hohe Einkommen anzuheben, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Mit dem neuen Finanzausgleich (NFA) wurde einem gut funktionierenden Steuerwettbewerb zwar eine solide Grundlage verpasst. Dennoch ist es für die Kantone noch immer „günstiger“, sehr Reiche anzuziehen als den wirtschaftlich oft viel stärker engagierten Mittelstand und das Unternehmertum. Selbst wenn die Diskussion in erster Linie auf Bundesebene stattfinden muss: Auch die Kantone werden nicht darum herum kommen, ihre Einnahmen den geänderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen, wenn sie nicht mit einem Schuldenberg enden wollen.

Mindestens eines hat die Schweiz anderen Ländern voraus. Die Diskussion über eine Ausgestaltung des Steuersystems ist noch nicht polarisiert. Wir haben keine Tea- oder Kafi-Lutz-Party. Dafür einen funktionierenden und effizienten Staat, in welchem sich der Grossteil der Bevölkerung — arm und reich — noch dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt. Für die sehr Reichen könnten sich etwas höhere Steuern – solange das Geld nicht gleich wieder ausgegeben wird – sogar lohnen. Auf die Dauer sind gesunde Staatsfinanzen der beste Schutz vor Vermögens- und Einkommensverlusten.

Gelingen müsste deshalb ein „historischer Kompromiss“: etwas höhere Steuern für die obersten Einkommen und Vermögen, aber ohne zusätzliche Ausgaben. Steuerwillige Reiche und haushälterische Linke vereinigt Euch!