Versuchter Hammerschlag gegen US Fed

Urs Birchler

Am Donnerstag schlug das amerikanische Repräsentantenhaus (vergleichbar unserem Nationalrat) zu. Er entschied gemäss Bericht der New York Times, einen Reservefonds des Fed, d.h. der Notenbank, heranzuziehen zur Strassenfinanzierung. Aufgrund abweichender Haltung des Senats (unser „Stöckli“) geht das Geschäft an diesen zurück.

Heute hat der ehemalige Gouverneur des Fed, Ben Bernanke, auf der Homepage der Brookings Institution dazu Stellung genommen. Bernanke wehrt sich gegen den Eingriff in die Unabhängigkeit der Notenbankpolitik, weist aber vor allem auch auf dessen fiskalische Dummheit hin: Der Griff in die Kasse des Fed bringt nämlich nichts. Er führt zu einer geringeren Gewinnausschüttung an den Bund; entweder sofort (wenn der Kapitalfonds auf bisheriger Höhe gehalten werden muss) oder über die Zeit hinweg (da das Fed zur Finanzierung des Strassenbaus Bundesanleihen verkaufen muss und dadurch weniger jährliche Zinserträge erzielt).

Die Diskussion ist auch für die Schweiz wichtig. Sie zeigt erstens, wie fragil die Unabhängigkeit einer Notenbank ist. Es gibt immer ein ganz dringendes Anliegen, das (scheinbar) nicht anders finanziert werden kann als über die Notenbank (AHV, Krankenkassenprämie, Pflegeversicherung, Energiewende, x-te Röhre, …). Zweitens erinnert Bernanke daran, dass Notenbankgeld, bzw. die damit gekaufte Leistung nicht gratis ist. Drittens kann man sich zum Missbrauch der Notenbankvermögens den Umweg über einen Staatsfonds, wie er in der Schweiz von einigen gefordert wird, sparen.

Bei aller Sympathie für den amerikanischen Strassenbau: Lieber ein Schlagloch im Strassenbelag als eines in der Unabhängigkeit der Notenbank.

Bargeld abschaffen?

Urs Birchler

In verschiedenen Ländern ist der Bargeldgebrauch eingeschränkt, und weitere Einschränkungen sind geplant.
Kritiker halten Bargeld für ein instrument des Verbrechens und der Geldwäscherei, Techno-Pioniere betrachten es als ineffizient, und den Notenbanken ist es im Weg, wenn sie Negativzinsen einführen wollen. Die liberalen Befürworter des Bargelds umgekehrt halten Bargeld und die mit ihm verbundene Diskretion für eine tragende Säule der individuellen Freiheit. Wer hat recht?

Wir wollen es wissen und lassen beide Seiten aufeinander los:

Donnerstag, 5. Nov. 2015: Dramatische Konferenz zum Thema Bargeld

Im Miller’s Theater (Mühle Tiefenbrunnen) findet von 9-17h eine Konferenz in Theaterform statt zum Thema „Cash on Trial“. Grosse Namen, von Jean-Charles Rochet bis Peter Sloterdijk, treten in einer fiktiven Gerichtsverhandlung über das Bargeld auf. Veranstalter: SUERF, das Liberale Institut und das Zentrum für Finanzregulierung (ZeFiR) der UZH. Der Ausgang ist offen, die Spannung garantiert.

Anmeldung unter: www.suerf.org/zurich2015

[Hinweis auf Interessenverflechtung: als Präsident von SUERF bin ich am Ereignis persönlich beteiligt.]

Geld bleibt hier – aber dafür ist weniger da

Reto Föllmi

(der Beitrag erschien unter dem Titel „Kampagne ‚Geld bleibt hier‘ bewirkt das Gegenteil“ in Die Volkswirtschaft, Nr 11/2015)

In der gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Debatte sind verschiedene Ideen im Umlauf, die eine irgendwie geartete Abhängigkeit vom Ausland verhindern möchten. So wird beispielsweise gefordert, den Selbstversorgungsgrad an Nahrungsmitteln zu erhöhen oder auf vermeintlich teure Energieimporte zu verzichten. In einer breiten „Geld bleibt hier“- Kampagne vermittelt ein Komitee den Eindruck, es sei doch besser, einheimische Energien zu fördern statt viel Geld für Öl-, Gas- und andere Energieimporte auszugeben.

Dieses Anliegen scheint auf den ersten Blick vernünftig. Wer kann schon gegen einheimische Energie und für Energieimporte sein, an denen sich womöglich noch Ölscheichs bereichern? So logisch sich die Argumente der Initianten auch anhören, sie erweisen sich bei genauer Betrachtung als Trugschluss. Denn bei einem Verzicht auf Importe müssen wir die Energie selber herstellen.

Wäre diese Importsubstitution lohnend, würden wir ohne Lenkung durch die Politik jetzt schon im Inland mehr Energie produzieren bzw. durch Sparmassnahmen auf Importe verzichten. Produktion im Inland ist nicht gratis, oder wie Ökonomen sagen, mit Opportunitätskosten verbunden. Die benötigten Arbeitskräfte und anderen Ressourcen für den Energiesektor müssen aus anderen Branchen oder durch Zuwanderung bzw. entsprechende Importe gewonnen werden. In anderen Wirtschaftsbereichen würden diese aber auch Einkommen erzielen, wahrscheinlich sogar ein höheres. Dass die Fachkräfte der Energiewirtschaft in anderen Sektoren nicht gebraucht würden und stattdessen arbeitslos wären, ist gegeben die Arbeitsmarktsituation schlicht Unsinn.

Wenn man der Logik des Komitees nachleben würde, sollte ein Zweiverdienerhaushalt auf Kinderkrippen, Putzfrau, Handwerker etc. verzichten, denn das sind alles Ausgaben für den Haushalt. Vergessen wird dabei, dass in der Zeit, in welcher solche Dienstleistungen erbracht werden, oft mehr Geld verdient wird, als diese kosten. Wer auf Importe verzichtet, muss alles selber produzieren, egal wie schlecht er das kann. Dies verhindert, dass sich die Volkswirtschaft auf ihre Stärken (komparativen Vorteile) konzentriert; also in Branchen wächst, wo sie relativ am meisten Wettbewerbsvorteile hat und mit geringstmöglichen Ressourceneinsatz am meisten Einkommen erzielen kann. So macht es mehr Sinn, günstigeren (auch beispielsweise ökologischen, vom deutschen Steuerzahler subventionierten) Strom aus Deutschland zu importieren und die Fachkräfte hier in der Schweiz in andern Sektoren, die ohne Unterstützung wettbewerbsfähig sind, einzusetzen.

Die Schweiz hat einen rekordhohen Exportüberschuss und belegt auf Innovations-Rankings regelmässig die vordersten Plätze. Dieser beispiellose Erfolg ist ein Beleg dafür, dass die Schweizer Volkswirtschaft im Ganzen ihre „Make or Buy“ Entscheidung gut trifft. Wir produzieren und exportieren dort, wo wir stark sind, und importieren, was wir nur teurer selber herstellen könnten.

Der berühmte Ökonom und Nobelpreisträger Paul Samuelson wurde von einem Mathematiker ironisch gefragt, ob es eine Erkenntnis der Sozialwissenschaften gebe, die sowohl wahr als auch nicht-trivial ist. Samuelson war nicht schlagfertig genug, eine passende Erwiderung zu geben. Erst viele Jahre später fiel ihm die treffende Antwort ein: die Theorie der komparativen Vorteile. In seinen Worten: “Einem Mathematiker muss man nicht erklären, dass sie logisch und korrekt ist. Dass sie nicht-trivial ist, beweisen abertausende wichtige und intelligente Leute, die niemals in der Lage waren, die Theorie selber zu begreifen oder wenigstens daran zu glauben, nachdem sie ihnen erklärt wurde.“

Eigenmittel der Banken: Staat gleichzeitig auf Gas- und Bremspedal

Urs Birchler

Ds Thema Too-Big-to-Fail (TBTF) rückt wieder auf der politischen Agenda. Der Bericht „Brunetti 2“ empfiehlt eine Verschärfung der Eigenmittelvorschriften und ortet Defizite bei den Notfallplänen der Banken. SVP, SP und Grüne präsentierten kürzlich Forderungen zur Aufspaltung der Grossbanken.

Die implizite (unfreiwillige) Staatshaftung (bzw. die Toleranz systemgefährdender Banken) stellt eine Subvention von Bankrisiken dar und verzerrt den Wettbewerb. Dass der Staat sich dieser Haftung entledigen möchte, scheint verständlich. Paradox mutet jedoch an, dass der Staat Bankrisiken gleichzeitig steuerlich fördert. Konkret: Die Finanzierung durch Eigenmittel wird im Vergleich zur Finanzierung durch Fremdmittel betraft. Die Zinsen auf Fremdmittel sind Kosten und als solche vom Gewinn abziehbar. Die Entschädigung der Eigenmittelgeber (Dividenden oder Kurssteierung) hingegen it nicht abzugsfähig. (Dies gilt für alle Unternehmen, nicht nur für Banken.)

Würde eine Reform des Steuersystem, die das Eigenmittel-Handicap beseitigt, etwas bringen? Belgien hat den Versuch gewagt. Seit 2006 können Banken fiktive Zinskosten auf ihren Eigenmitteln geltend machen (notional interest rate deduction, NID). Glenn Schepens von der Belgischen Nationalbank hat die Auswirkungen in einem Arbeitspapier untersucht. Und die Resultate (siehe Grafik unten) springen ins Auge: Die Banken haben ihr Verhältnis Eigenmittel/Bilanzsumme um fast einen Prozentpunkt erhöht, was eine Erhöhung des vorherigen Niveaus um 13 Prozent bedeutet. Bei der Kontrollgruppe europäischer Banken ist das Verhältnis gleichzeitig weiter gesunken. Schepens kommt auch zum Schluss, dass die fairere steuerliche Behandlung die Leverage und den Risikohunger besonders bei den schwach kapitalsierten Banken gedämpft hat. Genau das, was sich der Staat und seine Steuerzahler wünschen.

Eigenmittel/Bilanzsumme (Leverage Ratio)

Eigenmittel/Bilanzsumme: Belgische Banken versus Kontrollgruppe aus der EU

Bleibt noch anzufügen, dass wir die Beseitigung der Steuerstrafe für Eigenmittel der Banken schon in einem Gutachten von 2010 vorgeschlagen und zwei konkrete Vorschläge (einen rechten“ und einen „linken“) skizziert haben. (Gleichzeitig haben wir darauf hingewiesen, dass man wie Belgien einen fiktiven Satz abziehen muss, nicht etwa die effektive Dividende, da letzteres die Ausschüttung von Eigenmitteln prämieren würde).

Fazit für die Politik: Es lohnt sich nicht, mit den Banken ewig um höhere Eigenmittelanforderungen zu feilschen, dabei aber jene zu bestrafen, die dem Wunsch nach mehr Eigenmittel nachkommen. Auch für den Staat gilt die alte schweizerische Regel: Man soll nicht geizig jassen.

NZZ-Wirtschaftsredaktion im Elfenbeinturm?

Urs Birchler

Gratulation an meine Mit-Batzer Marius Brülhart, Gebhard Kirchgässner und Monika Bütler! Sie sind alle drei unter den einflussreichsten Schweizer Ökonomen.

Ob „einflussreichst“ auch bedeutet, dass jemand zuhört? Der Kommentar zum Ökonomenranking in der NZZ von Jürg Müller (5.9.2015, S. 15) weckt Zweifel. Jürg Müller beklagt zwar, „wie sehr die Ökonomen den Gang in die Öffentlichkeit scheuen“. Und ganz dick: „Bei zukunftsweisenden Fragen wie beispielsweise dem demographischen Wandel und der Migration … geht [die öffentliche Debatte] ohne materielle Mitwirkung der Wirtschaftsforscher über die Bühne.“ Gerade hier hätte er schon bei batz.ch (und das ist eine kleine Welt) einiges gefunden von Uwe Sunde (Demographie und Staatsverschuldung), Monika Bütler (Demographie und Umverteilung oder 2), Monika Engler (Demographie und Staatsfinanzen) und anderen.

Der Artikel beweist nur, dass die Ökonomen, wenn sie denn den Gang an die Öffentlichkeit wagen, offenbar nicht gelesen werden — jedenfalls nicht von Jürg Müller und einigen seiner Kollegen bei der NZZ.

Nicht, dass wir den Elfenbeinturm nicht kennten. Man lese dazu Monika Bütler in der Volkswirtschaft. Doch müssen Professoren in erster Linie unterrichten und Forschen. Im Vergleich zur 20-köpfigen Wirtschaftsredaktion der NZZ — die wirtschaftskundigen Redaktoren anderer Ressorts nicht mitgezählt — machen die rund hundert vollamtlichen Wirtschaftprofessoren an den Schweizer Universitäten der Deutschschweiz, deshalb eine gute Figur in den Medien. Vielleicht nicht immer in den schweizerischen.

Hier klemmt es nämlich. Ein Beispiel: Monika Bütler zeigte vor rund fünf Jahren in einem Aufsatz mit schweizerischen Daten, dass Ergänzungsleistungen die Anreize so verzerren, dass bei der Pensionierung eher Kapital als Rente gewählt wird. Eine Kurzfassung des Artikels wurde u.a. auch der NZZ angeboten. Seither hat diese Forschung der Autorin Einladungen an die Wharton School, nach Singapur, Australien und Holland eingebracht. In der Schweiz blieb das Interesse gering trotz explodierenden Kosten bei den Ergänzungsleistungen.

Jürg Müller spekuliert, die Schweizer Ökonomen seien sogar schuld, dass „in jüngster Zeit unsinnige Vorlagen auf Zustimmung der Bevölkerung gestossen sind [er meint die Stimmbürger]. Hat er die Beiträge zur Goldinitiative von Aleksander Berentsen (1) und mir (2, 3, 4, 5, 6) gelesen? Oder zur Erbschaftssteuer Marius Brülhart (1, 2, 3) und Monika Bütler (1, 2, 3)?

Jürg Müller beklagt, „dass nur allzu oft längst überholte Theorien die Richtung vorgeben.“ Stimmt — Beispiel NZZ. Es gibt in der empirischen Finance ein Ergebnis, das an Robustheit kaum mehr zu überbieten ist: Aus den vergangenen Bewegungen der Aktien- oder Devisenkurse, lassen sich keine gewinnbringenden Prognosen ableiten. Dies hindert die NZZ nicht daran, wöchentlich fast eine Seite der chartechnischen Kaffeesatzlektüre zu widmen und uns vor herannahenden Todespunkten und dergleichen Mumpitz zu warnen.

„Ökonomen sollten die Studierstube wieder einmal verlassen.“ Ein solcher Satz kann nur in einer zu gut geheizten Redaktionsstube entstanden sein.

Staatshilfe für Banken: FDP versus SNB

Urs Birchler

Kürzlich hat der Leiter des Finanzstabilität bei der SNB, Bertrand Rime, in der NZZ eine glasklaren Standortbestimmung zum Too-Big-To-Fail-Problem in der Schweiz vorgenommen. Noch einiges bleibe zu tun, auch bei der Eigenmittelausstattung der Banken. Obwohl die Vorschläge moderat schienen, konnte der Präsident der WAK-NR, Ruedi Noser, nicht umhin, ebenfalls in der NZZ, zu warnen.

Die Stellungnahme ist bemerkenswert. Mit der einen Gehirnhälfte denkt Noser liberal: Der Staat soll nicht für private Risiken haften. „Die Too-big-to-fail-Regulierung bezweckt, dass eine Bank bei individuellen Fehlern auf Kosten der Geldgeber abgewickelt werden kann und nicht vom Steuerzahler gerettet werden muss. Das unterstütze ich als Liberaler zu 100%.“ In der anderen Gehirnhälfte hat er jedoch Angst vor den logischen Folgen des liberalen Denkens, d.h. vor der Notwendigkeit von Massnahmen, welche die implizite Staatsgarantie zurückdämmen. Keines seiner Argumente sticht aber:

  1. Eigenmittel verteuern Kredite. Das ist auch nach der 1001-sten Wiederholung noch nicht wahr. (Hansruedi Schöchli von der NZZ hat’s begriffen, siehe NZZ von heute, S. 27 und v.a. 36.)
  2. Regulierung führt zu Bürokratie. Das habe ich selber oft angeprangert; aber auch TBTF ist eine (versteckte) Regulierung. Und kaum etwas würde mehr Bürokratie produzieren als Nosers (rechtsstaatlich wohl kaum haltbarer) Vorschlag: „weitaus sinnvoller wäre es aber, wenn die Vorschriften zur Eigenkapitalunterlegung für jede Bank auf Grundlage ihrer Strategie und ihrer geschäftlichen Ausrichtung vom Regulator individuell festgelegt würde.“
  3. Eine global einheitliche Regulierung zwingt letztlich allen Banken weltweit dasselbe Geschäftsmodell auf. Gegenfrage: Zwingen die international geltenden Vorschriften zur Sicherheit im Flugverkehr allen Fluggesellschaften dasselbe Geschäftsmodell auf?
  4. Selbstverständlich gehen [die Banken] … Verlustrisiken ein, welche in Extremsituationen dazu führen können, dass die Bilanz einer Bank saniert werden muss. Im Extremfall braucht es dazu vielleicht sogar staatliche Mittel. Wollten wir nicht gerade das abschaffen oder eindämmen?
  5. Die Restrukturierungen der staatlich kontrollierten Axpo, BKW und Alpiq werden dem Steuerzahler weit höhere Kosten verursachen als die Rettung der UBS. Das klingt aufrichtig, scheint mir aber eher ein schwacher Trost. Zudem darf man die Kosten der UBS-Rettung nicht im nachhinein messen, sondern im Zeitpunkt der Rettung, wie Monika Bütler hier schon dargelegt hat.

Kurz: Was uns der Präsident der auf diesem Gebiet zuständigen Nationalratskommission auftischt, ist weder konsistent noch liberal.

Zu viel direkte Demokratie? Die Unterschriftenhürde

Monika Bütler und Katharina Hofer

Im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen hier noch etwas aus unserer aktuellen Forschung am Institut. Die Frage ist, wie sich eine Erhöhung der Unterschriftenzahl bei Volksinitiativen auf die Anzahl und die Art der eingereichten Initiativen auswirken würde. Die Kurzfassung der Antwort:  Daten und Modell zeigen, dass wohl tatsächlich mit weniger Initiativen zu rechnen wäre. Ob dies allerdings wünschenswert ist, ist a priori nicht so klar (und können wir auch nicht beurteilen).

Wer noch etwas mehr wissen will lese unten weiter. Wer noch viel mehr wissen will konsultiere unser Arbeitspapier (Autoren: Katharina Hofer, Christian Marti und Monika Bütler).

Bis zu viermal jährlich werden die Schweizer Stimmbürger an die Urnen gerufen, um über eidgenössische Vorlagen zu entscheiden. Viele Stimmen äussern sich kritisch zur „Initiativenflut“, welche insbesondere in den letzten Jahren einen Aufwärtstrend aufweist (die Abbildung  zeigt die Anzahl zustande gekommener Initiativen pro Dekade, Quelle: Bundesamt für Statistik (2015)). Der Stimmberechtigte werde überfordert, wie auch die eidgenössischen Räte, welche sich über den parlamentarischen Prozess mit einem möglichen Gegenvorschlag sowie Parteiparolen auseinander setzen müssen.

Initiativen1891bis2015

Unbestritten ist, dass die Hürden für neue Initiativen seit der Einführung der Eidgenössischen Volksinitiative 1891 deutlich gesunken sind: Mussten damals noch 3,4% der stimmberechtigten Männer das Begehren unterschreiben, sind es heutzutage nur noch 1.9%. Als Antwort auf die Verdoppelung der Stimmberechtigten durch Einführung des Frauenstimmrechts wurde die Unterschriftenhürde für das Zustandekommen von Volksinitiativen 1978 das erste und letzte Mal auf 100’000 erhöht. Bemerkenswert: zwischen der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 und der Erhöhung der Unterschriftenzahl 1978 lag die Unterschriftenhürde noch tiefer als heute. (Vielleicht hat man damals den Frauen einfach noch nicht zugetraut, politisch aktiv zu sein). Auf jeden Fall stieg die Anzahl der zustande gekommenen Initiativen in dieser Zeit (71-80 versus 61-70) um mehr als das doppelte.

Um der direkten Demokratie eine Verschnaufpause zu gönnen und die Anzahl Initiativen zu reduzieren, wird heute wieder eine deutliche Erhöhung der Hürde propagiert. Avenir Suisse schlägt beispielsweise 211’200 Unterschriften vor, was einem Anteil von 4% der Stimmbevölkerung entsprechen würde.

Wie sich eine Erhöhung der Unterschriftenzahl auf die Zusammensetzung der Initiativen auswirken würde ist hingegen nicht so klar. Ist die Senkung der Anzahl der Volksbegehren das alleinige Ziel, wäre dies vermutlich ein effektives Instrument. Zwei weitere Effekte sollten jedoch nicht vergessen werden. Denn eine höhere Unterschriftenhürde bedeutet gleichzeitig höhere Sammelkosten zumal die Sammelzeit seit 1978 auf 18 Monate begrenzt ist.

Erstens bevorzugt eine höhere Unterschriftenzahl zahlungskräftige Initiativkomitees. Weniger einfach zu organisierende, aber vielleicht ebenso berechtigte Anliegen hätten eine geringere Chance, die Hürde zu nehmen. Zweitens beeinflusst die Erhöhung der Unterschriftenzahl die Zusammensetzung der zur Abstimmung kommenden Initiativen: Initiativkomitees mit grösserer Unsicherheit bezüglich ihrer Wahrscheinlichkeit, den Status Quo ändern zu können, werden möglicherweise durch die hohen Sammelkosten abgeschreckt. Initiativen mit höheren Erfolgschancen würden hingegen weiterhin lanciert und könnten folglich auch eher zu einem Gegenvorschlag oder gar zu einem direkten Erfolg an der Urne führen. Dabei können aber auch Initiativen mit ex ante geringer Erfolgswahrscheinlichkeit eine Bereicherung für die politische Diskussion darstellen.

In unserem Forschungspapier zeigen wir – auch anhand der Daten aller Volksinitiativen seit 1891 – auf, dass die Unterschriftenhürde nicht nur ein Filter für die Anzahl gestarteter Volksinitiativen ist, sondern gleichermassen auch die Charakteristika der zustande gekommenen Initiativen beeinflusst. Anliegen mit unsichereren Erfolgsaussichten, die aber potenziell ebenfalls einen Beitrag zur politischen Diskussion leisten, werden bei höheren Hürden womöglich nicht mehr lanciert. Dies sollte bei Reformvorschlägen der Initiative bedacht werden. Immerhin sind Initiativen in ihrer Natur ein Mittel der politischen Minderheiten.

 

Kleine Ergänzungen zum SVP Positionspapier zur Sozialhilfe

Monika Bütler

Wenn die SVP mich schon in ihrem Positionspapier zur Sozialhilfe zitiert, dann doch bitte mit vollständigen Quellenangaben:

Das 1. Zitat stammt aus einem Interview mit der Annabelle, das hat sich die SVP offenbar nicht getraut zu erwähnen.

Das 2. Zitat stammt aus der Schweizer Ausgabe der Zeit. Thema der Ausgabe „Wie kann man die SVP stoppen? Meine Antwort: Sozialhilfe renovieren. Der ganze Text ist unten angefügt.

Das 3. Zitat stammt – wie angegeben – aus einem Interview mit dem Tagesanzeiger. Die Aussage bezog sich lediglich auf die jungen Sozialhilfebezüger.

Das 4. Zitat stammt aus dem gleichen Text wie das 2. (siehe Text unten)

Vielen Dank an Marie Baumann für den Hinweis. Damit sich die Leser(innen) selber ein Bild meiner Position machen können, hier der ganze Text aus der Zeitausgabe des 9. Oktober 2014:

Sozialhilfe renovieren: Die falschen Anreize müssen weg.

Die SVP bläst zum Angriff auf die Sozialhilfe. Mit dem üblichen Slogan „x Franken sind genug“ und ihrem sicherem Gespür für den richtigen Zeitpunkt: Die Sozialhilfeausgaben steigen, viele Erwerbstätige leben mit weniger Geld als Sozialhilfebezüger, die Sozialindustrie nervt.

Die SVP ist nicht die erste Partei, die sich des Themas annimmt. Auch die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen will die Sozialhilfe ersetzen. Und liberale Kreise liebäugeln damit, die Existenzsicherung ins Steuersystem zu integrieren, was Schwelleneffekte beim Übergang ins Erwerbsleben vermeiden soll.

Bei so viel Skepsis von allen Seiten: Ist das Instrument überholt? Nein, Sozialhilfe ist gut, weil sie aus drei Gründen das verfassungsmäßige Recht auf Existenzsicherung kostengünstig und zielgerichtet erreicht. Im Prinzip.

Erstens ist nur für eine Minderheit der Sozialhilfebezüger das fehlende Einkommen das größte Problem. Viel eher leiden sie an Suchtverhalten, zerrütteten Familienverhältnissen und fehlender Integration. Nur eine eingehende Prüfung und entsprechende Maßnahmen führen hier zum Ziel.

Zweitens liefern die Sozialhilfebehörden das viel bessere Maß der Bedürftigkeit als das steuerbare Einkommen. Eine Ablösung der Sozialhilfe durch eine Integration ins Steuersystem würde zu viel höheren Kosten führen. Viele, die gemäß Steuererklärung arm scheinen, sind es gar nicht und können keine Sozialhilfe beantragen.

Drittens erhöht diese genaue Prüfung die Akzeptanz der Sozialhilfe. Nicht nur, wer die Leistung bezahlt, muss seine Einkünfte auf den letzten Rappen dokumentieren, sondern auch der Empfänger. Opfersymmetrie, sozusagen.

Die explodierenden Kosten sind damit noch nicht erklärt. Die Ausgesteuerten sind es kaum, sie sind zu wenige. Schwindende Hemmungen, Sozialhilfe zu beantragen? Eine aufgeblähte Sozialhilfeindustrie? Ohne Daten bleibt das Spekulation. Fest steht: Im Vergleich zu den stagnierenden Arbeitseinkommen von niedrig qualifizierten Menschen ist die Sozialhilfe eher attraktiver geworden. Denn die gestiegenen Wohn- und Gesundheitskosten werden separat entschädigt, während die durch den Grundbedarf abgedeckten Güter wie Lebensmittel billiger geworden sind.

Was tun? Der von der SVP vorgeschlagene Wettbewerb zwischen den Gemeinden differenziert am falschen Ort. Wir brauchen, erstens, eine stärkere Abstufung aller Leistungen nach Art der Bezüger: Was für den arbeitsscheuen 22-Jährigen passt, ist für die 60-jährige Ausgesteuerte mit gesundheitlichen Problemen zu wenig Geld und zu viel Druck. Zweitens müsste das Dickicht der Zusatzzahlungen ausgeholzt werden. Kinderreiche Familien kommen mit Sozialhilfebeiträgen teilweise auf ein höheres Einkommen als viele Ein- und Doppelverdiener-Haushalte; nicht gerade ein Ansporn für die Kinder, sich später selber helfen zu wollen. Heute könnte auch der Mutter eine Erwerbstätigkeit zugemutet werden. Es ist schließlich nicht Aufgabe der Sozialhilfe, familiäre Machtverhältnisse mit schweizerischem Komfort zu finanzieren. Und obwohl die Sozialhilfe bereits das soziale Existenzminimum deckt, werden zusätzlich Integrationszulagen bis zu 300 Franken im Monat bezahlt, wenn jemand etwa aktiv nach einer Stelle sucht.

Man kann sich also fragen: Stünden Integrationszulagen nicht eher Geringverdienern und älteren Ausgesteuerten zu, die nach 40 Jahren Arbeit durch die Maschen fallen? Und was nützt ein Einkommensfreibetrag von 600 Franken, der den Anreiz erhöht, ein wenig zu arbeiten, aber wirksam den Ausstieg aus der Sozialhilfe verhindert, weil dieser mit einem erheblichen Einkommensverlust einhergehen würde? Und: Handelt der Staat klug, wenn er gleichzeitig niedrig qualifizierte Arbeiten wie auch die Integration der Niedrigqualifizierten auslagert? „Insourcing“ würde vielleicht keine Kosten senken, aber den Behörden eine enge Betreuung der Sozialhilfeempfänger ermöglichen.

Wird der SVP-Angriff auf die Sozialhilfe also gelingen? Nein. Wieso? Weil nationalkonservative Haltungen mittlerweile in weiten Kreisen salonfähig sind. Und welcher aufrechte Eidgenosse würde einen älteren ausgesteuerten Schweizer darben lassen, wenn er vorher noch ein paar Millionen bei den faulen Flüchtlingen sparen kann?

BVG Vermögen und Vermögensverteilung

Monika Bütler

Die sehr ungleiche Vermögensverteilung der Schweiz beschäftigt das Land. Insbesondere erhoffen sich die Befürworter der Erbschaftssteuerinitiative eine Milderung der Ungleichheit. Die Gegner der Vorlage argumentieren hingegen, dass die Vermögensverteilung wenig Aussagekraft hat, aus verschiedenen Gründen. Einer davon ist, dass die gemessene Vermögensverteilung die Guthaben der beruflichen Vorsorge nicht erfasst.

Es gibt leider kaum Daten, die sowohl die regulären Vermögen (inklusive Immobilien!) wie auch die BVG Vermögen ausweisen. Ganz ohne empirische Evidenz müssen wir allerdings nicht auskommen: SHARE, der Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe enthält Informationen zu Pensionskassenvermögen, Renten, sonstigen Haushaltvermögen (und vielem mehr). Es handelt sich dabei um ein EU finanziertes Grossprojekt in verschiedenen europäischen Staaten, welches die Lebenssituation der über 50 jährigen erfasst. In der Schweiz wurden die Daten (in vier Umfragewellen) vom Bundesamt für Statistik erhoben. Wir haben die Daten für wissenschaftliche Untersuchungen verwendet.

Ich habe mir die rund 3000 Datenpunkte von Personen über 65 Jahre nochmals angeschaut. Für rund 60% dieser Personen sind Informationen zu Renten- oder Kapitalbezug vorhanden. Diese Informationen erlauben die Berechnung des BVG Vermögens. Weshalb die anderen kein BVG Kapital ausweisen, ist nicht bekannt: Einige davon dürften nie einer Pensionskasse angehört haben, weil sie selbstständig oder nicht erwerbstätig waren, andere haben eventuell den Barbezug des BVG Kapitals in der Umfrage nicht angegeben. Ärmer sind diese 40% allerdings nicht, die Vermögen sind in beiden Gruppen sehr ähnlich verteilt.

Überraschenderweise gibt es keine statistische Korrelation zwischen regulärem Vermögen und Pensionskassenvermögen: Es gibt viele Personen mit grossem Vermögen ohne BVG Vermögen, und viele mit viel Geld in der Pensionskasse aber ohne reguläres Vermögen. Die untenstehende Graphik mit dem regulären Vermögen auf der horizontalen Achse und dem Pensionsvermögen auf der vertikalen Achse zeigt dies schön: Eine Wolke von Datenpunkten ohne eigentliche Struktur. Die rote Linie zeigt dabei die statistische Trendlinie: Eine Linie ohne Trend, die durchschnittlichen BVG Vermögen sind in allen regulären Vermögensklassen ungefähr gleich hoch.

BVGKapital

Die Beschränkung auf Personen über 65 hat natürlich ihre Tücken. Allerdings wissen wir aus den Steuerdaten, dass die älteren im Durchschnitt auch vermögender sind und gleichzeitig aus logischen Gründen auch höhere BVG Vermögen ausweisen. Ein grosser Teil der (ungleichen) Vermögensverteilung wird daher auch von den Vermögen der Älteren erklärt.

Fazit: Bei aller Vorsicht bei der Interpretation der Graphik: Der einigermassen repräsentative SHARE Datensatz liefert keine Hinweise dafür, dass vermögende Personen auch viel mehr Pensionskassenvermögen ausweisen. Der Einschluss der Pensionskassenvermögen dürfte die Vermögensverteilung daher deutlich „gleicher“ machen.

 

Vermögensdaten ohne Aussagekraft

Monika Bütler

Der Datenblog des Tagesanzeigers präsentiert heute eine Übersicht über die Vermögensituation im Kanton Bern (richtig geraten: es geht um die Erbschaftssteuervorlage vom 14. Juni). Die beruhigende Aussage: Auch im Kanton Bern gehörten wir zu den 20-40% (Vermögens-)Armen. Unser steuerbares Vermögen ist nämlich kleiner als 0.

Vermögensarm? Das kann nicht sein, meinte kürzlich sogar unser jüngster Sohn, ein 5. Klässler. Er hat recht. Während Einkommensverteilungen (vor und vor allem nach Steuern) wichtige Informationen über die Ungleichheit eines Landes aussagen können, ist die Vermögensverteilung in den meisten Fällen wenig bis überhaupt nicht geeignet, belastbare Aussagen über die Verteilung des Reichtums zu treffen.

Spätestens bei der Aussage im Artikel, dass die ärmsten 20% der Bevölkerung riesige Liegenschaftsschulden hätten, müssten einem alle Alarmglocken läuten. Gerade in einem Land mit hohen Immobilienpreisen ist es wenig plausibel, dass ausgerechnet die Ärmsten Häuser kaufen könnten. In Tat und Wahrheit dürfte es sich bei vielen dieser äusserst bedauernswerten Verschuldeten um gut bis sehr gut verdienende Personen und Familien handeln. Arm sind sie, weil der Steuerwert ihrer Liegenschaft kleiner ist als die effektive Verschuldung. So wie bei uns.

Es gibt allerdings noch viele andere Gründe, weshalb die gemessene Vermögensverteilung ein schlechtes Mass für den effektiven Wohlstand der Bevölkerung ist:

a) Pensionskassenvermögen ist nicht in der Vermögensstatistik drin. Bei vielen Haushalten stellen diese allerdings den Löwenanteil am Vermögen dar. So wie bei uns. Interessanterweise hat dies zur Folge, dass jemand, der sich bei der Pensionierung das Kapital auszahlen lässt, fortan in der Vermögensverteilung als reich gilt. Eine andere Person in ähnlichen finanziellen Verhältnissen, die sich eine Rente auszahlen lässt, hingegen als arm. Bei der Einkommensverteilung ist es dann genau umgekehrt.

b) Ausgerechnet das egalitäre Schweden hat eine der weltweit höchsten Ungleichheit im Vermögen – viel ungleicher als die Schweiz. Das ebenfalls nicht ausgeprägt neoliberale Dänemark hat etwas die gleiche Vermögensverteilung wie die Schweiz. Gleicher ist die Vermögensverteilung ausgerechnet in Ländern, in denen der Staat die Bevölkerung relativ knapp sozialversichert (Japan und Irland beispielsweise), Je mehr der Staat für die Bürger sorgt, desto weniger ist es für die einzelnen notwendig, für den Ernstfall selber zu sparen (und desto weniger bleibt ihnen auch nach Bezahlung der hohen Steuern und Sozialversicherungsbeiträge).

c), d), e) und vieles mehr haben wir an anderer Stelle in diesem Forum bereits dargelegt:

Warum Deutsche weniger vermögend sind als Griechen

Einkommensverteilung und Lebenszyklus

Quiz zur Vermögensverteilung inklusive Auflösung und zugehörige Kolumne in der NZZaS.

Man kann über eine Erbschaftssteuer unterschiedlich denken (siehe meinen früheren Beitrag dazu). Die Vermögensverteilung als Grundlage für eine informierte Entscheidung eignet sich nicht. Das versteht auch ein 5. Klässler.