Obama vs. Romney: 70:30

Urs Birchler

In Meinungsumfragen hält Präsident Obama einen Vorsprung von je nach Umfrage 1-5 Prozentpunkten. Umfragen sind aber nicht immer zuverlässig. Eine eher bessere Treffsicherheit haben Prognosemärkte. Der IOWA Electronic Market bietet zwei Wetten auf die Präsidentschaft, nämlich auf:

  • die Stimmanteile
  • den Sieger

Die Wette auf die Anteile gibt Obama gegenwärtig einen Vorsprung von rund 6 Prozent, ist also etwas deutlicher als die Umfragen. Die Wette auf den Sieger steht allerdings 70:30 (Verhältnis der Gewinnwahrscheinlichkeiten) für Obama (siehe Grafik). Weniger als zwei Monate vor der Wahl darf man vermuten: Dieses Rennen ist — wenn nicht noch etwas ganz Wildes passiert — wohl gelaufen.

Das unsägliche Drehen an der Geschlechterschraube

Monika Bütler

Publiziert in der NZZ am Sonntag, 9. September 2012 (unter dem Titel: „Mädchen und Knaben sind mit der gleichen Elle zu messen“)

„Warum muss Blake gleich weit rennen wie Bolt; er ist doch kleiner?“, fragte unser Jüngster nach dem Olympia-Sprint. Als Erfinder der individualisierten Leistungsmessung darf er sich dennoch nicht fühlen. Der Kanton Waadt war ihm schon zuvorgekommen: Lange Zeit galten im Kanton von Liberté et Patrie (statt Egalité) für Mädchen strengere Eintrittsbedingungen in die Sekundarschule als für Knaben. Sonst hätten zu viele Mädchen bestanden. Erst 1982 stoppte das Bundesgericht auf Klagen der Eltern (und beflügelt durch den neu eingeführten Gleichstellungsartikel) diesen Unsinn.

Nun greift die Universität Wien in die Mottenkiste und wendet das umgekehrte Verfahren an. Weil in den letzten Jahren ein höherer Prozentsatz der Männer die Hürde des Eignungstests für das Medizinstudium meisterte, genügte den weiblichen Bewerbern heuer eine tiefere Punktezahl. Die Frauen seien offensichtlich durch den Test benachteiligt, gaben angewandte Psychometriker zu bedenken.

„Gleichberechtigung auf österreichisch“ spottete die Financial Times Deutschland. Doch Häme allein ist fehl am Platz. Auch in andern Fächern und Universitäten zerbrechen sich die Verantwortlichen die Köpfe, weshalb junge Frauen in den Zulassungsprüfungen und den Prüfungen im ersten Studienjahr häufiger scheitern. Es scheint, dass die Prüfungen ungewollt diskriminieren.

Tun sie dies wirklich? Könnte es nicht auch sein, dass die „Diskriminierung“ der Frauen in den Prüfungen beim Übergang in eine Universitätsausbildung andere Gründe hat? Bei der Maturandenquote liegen die Mädchen (rund 60%) noch vor den Buben. Obwohl Frauen also quasi die Vorläufe gewinnen, erreicht ein kleinerer Prozentsatz von ihnen den Final.

Die Lösung des Rätsels liegt in der Statistik: Im Durchschnitt sind Männer und Frauen bekanntlich gleich intelligent (wenn auch in anderen Dimensionen verschieden). Auch in den vielgescholtenen standardisierten IQ Tests unterscheiden sich, wie neue Studien belegen, die Intelligenz von Frauen und Männern nicht. Dies gilt, falls die Testpersonen repräsentativ, d.h. zufällig ausgewählt und nicht irgendwie gefiltert sind.

Die Gruppe „mit Matura“ ist aber eben gerade nicht repräsentativ. Weil es bei der Matura mehr Frauen hat, ist anzunehmen dass es unter ihnen einen höheren Prozentsatz hat, der die Anforderungen nur knapp übertrifft. Eine höhere Durchfallquote ist dann die logische Konsequenz – selbst wenn die Prüfung an sich ist perfekt geschlechterblind wäre. In den unterschiedlichen Erfolgszahlen widerspiegeln sich frühere Selektionsprozesse und freiwillige Entscheidungen.

Ironie der Geschichte: Gäbe es die alte Waadtländer Bevorzugung der Knaben beim Übertritt in die Sekundarschule noch, wären wohl die Unterschiede in den Durchfallquoten bei der Medizinerprüfung zwischen den Geschlechtern deutlich geringer. Trotzdem ist sie nicht die Lösung. Die Prüfungen sollen wenn schon, dahin verbessert werden, dass sie den Erfolg in der nächsten Stufe geschlechterblind prognostizieren.

Das Drehen an der Genderschraube bei jedem Schulstufenübergang macht hingegen wenig Sinn. Es versperrt nur den kritischen Blick auf die ganze Ausbildungszeit. Erstens hängt Prüfungserfolg nicht nur von der Intelligenz ab, sondern auch von früheren Entscheidungen. Sind diese unerwünscht, müssen sie direkt angegangen werden: Den Buben muss die Schule schmackhafter gemacht werden, den jungen Frauen die Mathematik.

Zweitens sind die Unterschiede innerhalb der Geschlechter sehr viel grösser als zwischen den Geschlechtern. Wenn die psychometrische Sicht zu Ende gedacht wird, müsste auch nach anderen Kriterien (soziale Herkunft, Körpergrösse, usw) differenziert werden. Im Endeffekt hätte jeder und jede einen individualisierte Punktezahl, die er/sie erreichen müsste. Und an der Olympiade gingen wir alle gleichzeitig durchs Ziel – samt Blake und Bolt.

Die Tücken der Arbeitsproduktivität

von Monika Bütler

Aus aktuellem Anlass: Daniel Binswanger beklagt heute im Magazin, dass die Schweizer bloss fleissig, aber nicht produktiv seien. Doch das Konzept der Arbeitsproduktivität ist ein schlechtes Mass um den Erfolg einer Volkswirtschaft zu messen. Der untenstehende Text wurde unter dem Titel „Weshalb Französinnen effizienter Brote backen als wir“, in der NZZ am Sonntag, 28. Februar 2010, publiziert.

Alle Jahre wieder legt die OECD den Finger auf die Produktivität der Schweiz. Trotz einem Pro-Kopf-Einkommen, das kaum von einem anderen OECD-Mitglied erreicht werde, liege die Schweiz bei der Arbeitsproduktivität nur im Mittelfeld und habe in den letzten zehn Jahren weiter Terrain eingebüsst. Laut OECD liegt dies vor allem an der geringen Leistungsfähigkeit der abgeschirmten Sektoren im Binnenmarkt.

Letzteres wird wohl stimmen. Der eigenen Wahrnehmung entspricht es nicht in jedem Fall: Immerhin wurde unsere kaputte Heizung in Zürich jedes mal schnell repariert. Nicht so in den USA, wo wir als verzweifelte Kunden in endlose „your call is important to us“-Schlaufen abgeschoben wurden. Die Heizung funktionierte auch zwei Tage später noch nicht. Und als die schliesslich „geflickte“ Heizung nach weiteren zwei Tagen explodierte, erschien zwar nach einigen Stunden die Feuerwehr – der Brand war unter Opferung zweier Bettdecken längst gelöscht -, von der zuständigen Firma fehlte jede Spur.

Aber zurück zur Arbeitsproduktivität. Genau so wichtig wie die Leistungsfähigkeit der Binnenwirtschaft ist, dass hohe Einkommen und tiefere Produktivität oft Hand in Hand gehen. Nicht alle der 1415 jährlichen Arbeitsstunden pro Schweizer im Erwerbsalter (15-64) können gleich produktiv sein wie die 985 Stunden pro Franzosen.

Zur Illustration ein einfachen Beispiel. Nehmen wir an, alle Länder stellten nur ein Gut her, sagen wir Brot. Alle Länder hätten gleich leistungsfähige Arbeiternehmer. Aber auch die fleissigste Arbeiterin schafft nicht in jeder der 168 Stunden pro Woche gleich viel. Nehmen wir also an, sie backe in den ersten 30 Stunden 10 Brote pro Stunde. Ab der 31. Wochenstunde sinke ihre Arbeitsleistung auf 6 Brote pro Stunde.

Nun ist die wöchentliche Arbeitszeit in der Schweiz rund 42 Stunden, in Frankreich nur 35 Stunden. Eine Schweizerin bäckt somit im Durchschnitt 372 Brote pro Woche (wer es nachprüfen will: 30*10 Brote + 12*6 Brote), eine Französin 330 Brote pro Woche. In der Arbeitsproduktivität übertreffen uns daher die Franzosen mit 9.42 Broten pro Stunde (=330 Brote geteilt durch 35 Stunden) um volle 6.5 Prozent. Die französische Gesamtproduktion (und somit das Einkommen) bleibt dennoch 13% tiefer als die schweizerische.

Doch es gibt einen noch wichtigeren Grund, weshalb die Schweiz eine relativ geringe Arbeitsproduktivität bei gleichzeitig hohem Einkommen hat: Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern werden bei uns auch Menschen in den Arbeitsmarkt integriert, die aus verschiedenen Gründen eine tiefere Produktivität haben. Dies lässt sich an den vergleichsweise geringen Arbeitslosenzahlen und den hohen Erwerbsquoten in allen Bevölkerungsgruppen zeigen.  So arbeiten in der Schweiz rund 55% der 60-64 jährigen, in Frankreich sind es lediglich 15%.

Je mehr nicht ganz so produktive Menschen am Erwerbsleben teilnehmen, desto tiefer liegt die durchschnittliche Arbeitsproduktivität des Landes. Umso höher ist dafür das Einkommen. Liessen wir nur Roger Federer arbeiten, hätten wir eine viel höhere Arbeitsproduktivität. Zum Wohlstand der Schweiz trägt er dennoch weniger bei als die gescholtene Binnenwirtschaft.

Gerade die Diskussion um die Armutsbekämpfung zeigt, dass neben der materiellen Absicherung auch das Gefühl des „Gebrauchtwerdens“ für die in der globalisierten Welt nicht ganz so produktiven Menschen wichtig ist. Eine tiefere Arbeitsproduktivität ist somit ein Preis, den wir für eine bessere soziale Integration zahlen.

Vielleicht sogar für eine höhere Lebensqualität: Auf jeden Fall geniesse ich meine sorgfältig (= wenig produktiv)  in der Briefkasten gelegte NZZ am Sonntag mehr als die bei grosser Geschwindigkeit hoch produktiv aus dem Auto geworfene Zeitung in den USA. Dort musste ich oft zuerst die Salatsauce aus dem vom Aufprall geplatzten Warenmuster von der Kolumne abkratzen.

Ein Königreich für einen Basispunkt (NZZ im Offside)

Monika Bütler und Urs Birchler

Die NZZ wirbt mit einem blauen Bleistift als Symbol für nüchternes Denken und Rechnen. Beat Gygi scheint beim Verfassen seines heutigen Beitrags (S. 25) den blauen Stift verlegt zu haben — zusammen mit dem moralischen Kompass. Die Libor-Manipulation, meint er, sei „relativ harmlos“ im Vergleich zu den „Manipulationen“ der Behörden bei der Bewertung von Obligationen durch die Banken und die „kartellähnliche“ Versorgung mit billigem Geld durch die Notenbanken. Es gehe ja „vielleicht um wenige Basispunkte“.

Zunächst die Arithmetik. Ein Basispunkt ist ein Hundertstelprozent (0,0001). Auf dem Libor beruhen (NZZ, ebenfalls S. 25) Kontrakte von 250-400 Bio Euro. Nehmen wir die Untergenze: 250’000’000’000’000 Euro. Mit dem spitzen blauen Stift die Nullen gestrichen ergibt pro Basispunkt einen Betrag von 25’000’000’000 Euro, in Worten: 25 Milliarden (englisch: billion). So viel gewinnt oder verliert ein Vertragspartner, der einen Libor-bezogenen Kontrakt mit Laufzeit ein Jahr abgeschlossen hat, wenn der Libor einen einzigen Basispunkt manipuliert wird.

Dies ist so ziemlich der längste Hebel, der auf den Finanzmärkten zu finden ist. Dies liegt daran, dass der Libor im Welt-Finanzsystem der Vater aller Zinssätze ist. Wer ihn manipuliert, trübt also gewissermassen die heilige Quelle des Zinsflusses. Das ist, lieber Beat Gygi, kein Kavaliersdelikt.

Damit zur Moral: „Der Andere auch“ (hier die Behörden und Notenbanken) ist zwar eine menschliche Reaktion auf das Erwischtwerden, aber moralphilosophisch nicht hoch im Kurs. Im vorliegenden Fall stinkt das Argument zum Himmel, weil es auf den Vergleich zu Notenbanken abzieht. Verschwiegen wird dabei, dass die Notenbanken doch immerhin die Zinssätze zur Rettung der Weltwirtschaft tief gehalten haben und immer noch halten, nicht zum Zweck der persönlichen Bereicherung.

Es geht uns hier nicht darum eine einzelne Zeitung anzugreifen, geschweige denn einen ihrer bewährtesten Journalisten. Der Artikel zeigt vielmehr, dass die moralischen Massstäbe sich nicht nur bis ins Zentrum der Banken, sondern bis ins Herz der Presse hinein verbogen haben. „Eine freie Ordnung“, so wissen wir von Gerhard Schwarz, „funktioniert zwar nicht ohne Mindestmass an Moral, aber wie diese Moral definiert sein soll, kann der Liberalismus nicht sagen.“ Er „kann … selbst kaum einen moralischen Kompass bieten, ausser dem Schutz der Freiheit, des Eigentums und von Verträgen.“ Verträge — darum ging es doch. Aber Liboralismus ist eben nicht Liberalismus.

Zählen wir das, was zählt?

Erschienen in der NZZ am Sonntag vom 25. März unter dem Titel „Zählen und erzählen wir das, was wirklich zählt?“ ( Untertitel: Einschaltquoten und «Impact»-Statistiken führen zunehmend in die Irre)

„Wi taari säge?“ soll früher die höfliche St. Galler Metzgerin gefragt haben, wenn ein Kunde den Laden betrat, den sie als Doktor oder Professor verdächtigte. Auch der Wiener Musikverein will beim Online-Verkauf für Konzertkarten niemanden falsch anreden. Die Käuferin hat die Wahl zwischen nicht weniger als 76 Anreden – vom „Amtsrat“ über die „Kammersängerin“ bis zum „Univ.-Prof. Dr.“

Die Titelliste des Musikvereins amüsant, aber eigentlich völlig unwichtig. Dennoch stürmte sie die Hitparade: unter den 400 Einträgen in unserem Blog zu aktuellen Themen der Wirtschaftspolitik landete sie gleich auf Platz Drei – gemessen an der Anzahl Kommentare, den ausgelösten Tweets und den Erwähnungen in anderen (Online‑) Medien. Übertroffen wurde die Titelliste nur noch von zwei nebensächlichen Einträgen zu Urheberrechtsverletzungen. Erst auf dem vierten Platz folgt der erste Beitrag, der im weiteren Sinne etwas mit der Zielsetzung des Blogs zu tun hat: Ein Quiz zur Vermögensverteilung in verschiedenen Ländern. Noch weiter hinten dann die teilweise unter beträchtlichem Forschungsaufwand verfassten „seriösen“ Texte. 

Es soll uns zwar nicht besser gehen als anderen Informationsanbietern. Die früher unter „Unglücksfälle und Verbrechen“ zusammengefassten Meldungen sind nun einmal attraktiver als fundiert recherchierte Hintergrundartikel. Die Erfahrungen aus dem eigenen Blog bereiten mir dennoch Bauchweh. Aus einer Innensicht, weil das Ranglisten-Fieber letztlich auch die Art der Öffentlichkeitsarbeit von Forschern beeinflusst. Aus einer Aussensicht, weil die wirtschaftspolitische Debatte nicht nur im Blog, sondern auch in der „richtigen“  Politik mehr und mehr durch den Reiz medialer Strohfeuer (ab)gelenkt wird.

Zum ersten. Ich wäre die Letzte, die sich innerhalb der Hochschulen gegen eine Berücksichtigung der Öffentlichkeitsarbeit bei der Evaluation von Forschern wehrt. Es ist nicht nur jammerschade, wenn gute Forschung im Elfenbeinturm verdorrt. Es wäre auch ein Witz, wenn staatlich besoldete Wissenschaftler ausgerechnet wegen eines Diensts am Steuerzahler – der Aufbereitung von Forschungsresultaten für eine breitere Öffentlichkeit –  büssen müssten. Denn Medienarbeit kostet; Forschungszeit nämlich. Verständlich auch, dass die öffentliche Wirkung an messbaren Grössen abgelesen werden soll. Doch die leicht verfügbaren Indikatoren messen die Wirkung der Arbeit noch schlechter als bei der Forschung. Wer eine parlamentarische Kommission von einer ineffizienten Massnahme abhalten kann, spart dem Land vielleicht Millionen von Franken. Eine grosse Anzahl Zitationen, Kommentare, Tweets erhält er dadurch nicht. Wer messbaren Impact haben will, sorgt besser für moderaten Klamauk als für Aufklärung.

Zum zweiten. Unsere Erfahrungen im Blog finden sich in der politischen Debatte wieder. Gerade in den letzten Monaten dominierten die medial begleiteten und deshalb attraktiven Diskussionen aus der chronique scandaleuse. Die wirklichen Herausforderungen der Zukunft blieben hingegen liegen. Ein aktuelles Beispiel: Der kurz vor Weihnachten publizierte Bericht des Bundesrates zur Zukunft der zweiten Säule schien bis vor kurzem kaum jemanden zu interessieren. Dabei steckt in den 160 Seiten nicht nur viel Brisantes, die zweite Säule betrifft auch alle Bewohner der Schweiz direkt oder indirekt über Steuern und Immobilienpreise. Zudem zeigen uns die südeuropäischen Länder zur Genüge, was passiert, wenn man sich bei der Alterssicherung Illusionen hingibt. Dennoch: Wir debattieren in Presse und Politik lieber über die erzwungene Frühpensionierung der drei Schweizer Delphine als über die fehlenden Mittel zur Pensionierung der vie Millionen Arbeitenden im Lande. Als könnte die St. Galler Metzgerin dann schon jedem „eidg. dipl. Säule-2-Geschädigten“ täglich einen Zipfel Bratwurst zustecken.