Die Mär vom armen Süden

Monika Bütler

Viele Ökonomen wussten es schon lange, erste Daten sickerten vor einigen Wochen auch an die Öffentlichkeit durch (batz war dabei): Die von der EZB (resp. dem Eurosystem Household Finance and Consumption Network) in langjähriger und wissenschaftlich höchst seriös durchgeführter Arbeit zusammengetragenen Haushaltdaten der EU Länder bieten einiges an Sprengstoff. So sind deutsche Haushalte sowohl im Durchschnitt als auch im Median weniger vermögend als die Haushalte südlicher Länder, insbesondere Italien und Spanien.

Vorgestern nur veröffentlichte die EZB endlich die ausführlichen Statistiken sowie wichtige Hintergrundinformationen (insbesondere Methodik). Doch viele Schweizer Zeitungen scheinen die Informationen irgendwie verstecken zu wollen (im Tagi verschwand der Beitrag in kürzester Zeit von der Frontpage). Die Zahlen wollen so gar nicht passen zum Bild der armen Südstaaten, die von den knausrigen Deutschen kurz gehalten werden. So werden denn auch zig Gründe angeführt, weshalb man den Statistiken nicht trauen darf. Die Haushalte seien unterschiedlich gross (wobei wohl ein Zyprischer Haushalt im Schnitt nicht 5 mal grösser ist als ein Deutscher), der Hausbesitz verzerre die Statistiken und so weiter.

Wer allerdings die mehr als 100 Seiten des Berichts durchblättert sieht, dass trotz aller Bedenken über die Güte der Daten und die Bewertung der Vermögen klar ist: Man kann es drehen und wenden wie man will, die südlichen Haushalte sind nicht ärmer als die nördlichen. Zwei Beispiele zur Illustration: Weiterlesen

Wieder einmal Arbeitsproduktivität

Eine slowenische Journalistin will wissen, weshalb die Arbeitsproduktivität in der Schweiz im europäischen Vergleich nur mittelmässig ist (was auch die OECD immer wieder anprangert) und fragt mich, was ich dazu meine. Immerhin hat sie meine NZZaS Kolumne zum Thema schon gelesen.

Es schadet ohnehin nicht, das Thema Arbeitsproduktivität (= der pro Arbeitsstunde produzierte Wert von Gütern und Dienstleistungen) wieder einmal aufzunehmen. Zur Illustration vergleiche ich zwei hypothetische Länder, welche sich in der Ausbildung und Produktivität der Menschen sowie dem Technologieniveau weder im Durchschnitt noch in der Verteilung unterscheiden.   

Es gibt mindenstens 3 Gründe weshalb sich die „Arbeitsproduktivität“ zweier sonst gleicher Länder unterscheiden kann:

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Mietzinsakrobatik

Der Mieterverband ist empört. In 10 Jahren sind die Durchschnittmieten um mehr als 20% gestiegen (es sind genau 21.2%). Flugs – wie könnte es anders sein – folgt der Ruf nach staatlichen Massnahmen; eine stärkere Regulierung der Wohnungspreise, Mindestlöhne.

Doch wie hoch sind die Preissteigerungen wirklich? Immerhin sind in der Vergleichsperiode auch Preise und Löhne gestiegen. Hier also die Zahlen: Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf der Bevölkering stieg zwischen 2000 und 2010 um 21.5% also ziemlich genau gleich viel wie die Durchschnittsmieten. Der Anteil des Einkommens, welches für die Miete aufgewendet werden muss, blieb somit genau gleich hoch. Die Löhne stiegen tatsächlich etwas weniger stark, um 16.4%. Entscheidend für die Belastung ist allerdings das Haushalteinkommen, welches wegen der höheren Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen etwas stärker gestiegen sein dürfte als das Durchschnittseinkommen (daher auch der Vergleich mit dem BIP/Kopf).

Weitere Faktoren bleiben beim empörten Vergleich auf der Strecke: Die Grösse der Wohnungen dürfte gestiegen sein, ebenso die Qualität und Ausstattung (wer wäscht heute noch von Hand ab?).

In der Tendenz geben wir vielleicht tatsächlich einen etwas grösseren Teil unseres Einkommens fürs Wohnen aus. Doch gleichzeitig sinken die Kosten anderer Güter (Freizeit, Mobilität, Unterhaltungselektronik). Ich kann mich nicht erinnern, dass es bei sinkenden relativen Kosten einen Zeitungsartikel gab.

Falls überhaupt, hätte die Klage über steigende Mietpreise 10 Jahre früher kommen sollen. Zwischen 1990 und 2000 stiegen die Durchschnittsmieten um 29%, die Löhne aber nur um 23% und das Bruttoinlandprodukt pro Kopf der Bevölkerung sogar nur um 20%.

Steuern in der Schweiz: The Sequel

Marius Brülhart

Nach einem etwas abgehobenen filmemacherischen Debüt kann Batz nun mit einem Streifen für Otto Normalsteuerzahler aufwarten. Während unser Erstlingswerk noch Haushalten im Top1%-Segment galt, zeichnen wir diesmal für einen Medianhaushalt nach, wie sich die Steuerbelastung in den Kantonen und Gemeinden entwickelt hat. Zudem sind wir nun auch im Tonfilmzeitalter angelangt (mit Dank an Stefanie Brilon und George Harrison).

Steuern in der Schweiz: The Sequel.

Wiederum verfolgen wir die Einkommenssteuerbelastung in den 2‘596 Gemeinden über die Zeitspanne 1984-2011. Diesmal nehmen wir den Steuersatz für ein kinderloses Ehepaar, dessen Einkommen im jeweiligen Jahr genau in der Mitte aller Haushalte lag, die direkte Bundessteuern zahlten (statt wie in unserem Debütwerk beim obersten Perzentil). Das so definierte Median-Reineinkommen entsprach 37’800 Franken im Jahr 1984 und 61’000 Franken im Jahr 2011.

Unsere Animation macht wiederum klar, wie sich die helvetische Steuerlandschaft ziemlich kunterbunt entwickelt hat und zeugt damit von der Lebendigkeit des schweizerischen Fiskalföderalismus.

Beim Verglich mit dem Film für die Top-1%-Einkommen fallen uns folgende Aspekte besonders auf: Weiterlesen

Deutsch reich?

Monika Bütler und Urs Birchler

Der Deutschen Bundesbank ist der Geduldsfaden offenbar gerissen. Seit geraumer Zeit werkelt die EZB an der Auswertung einer neuen Erhebung (alles dazu auf einer speziellen Internetseite). Gegenstand: die Haushaltsvermögen in Europa. Ländervergleichend. Normalerweise werden die Ergebnisse solcher Grossuntersuchungen mit gebührendem Pomp vorgestellt. Diesmal ganz anders: Die EZB traut sich anscheinend nicht. Deshalb erfahren wir die Ergebnisse (zum Teil) aus einer eher verschämten Pressemeldung der Deutschen Bundesbank (die auch ein Arbeitspapier zur Methodologie hat.).

Und die Resultate zu den Haushaltsvermögen sind — gelinde gesagt — interessant: „Durchschnitt in Deutschland nicht weit unter den anderen großen Ländern“, steht unter der nachstehenden Tabelle aus der Pressenotiz zur „vorauseilenden Beschwichtigung“ der Leser.

Haushaltsvermoegen2

Deutschland ärmer als Spanien? Das wird zu reden geben, und als erstes wird man die Zahlen relativieren. Aber der Europahymne „Deutschland soll zahlen!“ geben die Zahlen bestimmt keinen Auftrieb!

Die Tücken der Jugendarbeitslosigkeit

Monika Bütler

Wer kennt sie nicht, die alarmierenden Zahlen – vor allem aus den südlichen Ländern: Über 50% Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Griechenland, 30-40% in den anderen PIIGS Ländern Portugal, Italien und Irland. Doch was heisst das genau? Sechs namhafte Wissenschaftler sind der Frage nachgegangen (Giuseppe Bertola, John Driffill, Harold James, Hans-Werner Sinn, Jan-Egbert Sturm und Akos Valentinyi). Ihre spannenden Resultate finden sich im EEAG Report on the European Economy (chapter 3: auch online erhältlich).

50% Jugendarbeitslosigkeit heisst eben gerade nicht, dass jeder zweite Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos ist. Die Arbeitslosigkeit wird nämlich gemessen als Anteil der Erwerbslosen an der Erwerbsbevölkerung in einer Altersklasse. Zwischen 15 und 24 Jahren befinden sich die meisten jungen Menschen noch in der Schule, im Studium oder sonst in einer Ausbildung, sie gehören somit nicht zur Erwerbsbevölkerung. Die klassisch gemessene Arbeitslosenquote überschätzt das Problem, da nur eine Minderheit der Jugendlichen (und meist erst noch diejenigen mit schlechter Ausbildung) überhaupt zur Erwerbsbevölkerung gehört.  

Ein einfaches Zahlenbeispiel illustriert dies schön: Nehmen wir an, dass sich zwei Drittel der 15-24 jährigen in Ausbildung befinden (dies entspricht ungefähr den realen Verhältnissen). Somit gehört höchstens ein Drittel der Jungen überhaupt zur Erwerbsbevölkerung. Ist nun die Hälfte von ihnen ohne Arbeit, so beträgt die statistisch gemessene Arbeitslosigkeit 50%. Dies obwohl „nur“ ein Sechstel der Jugendlichen insgesamt betroffen ist.

Setzt man die Anzahl der jungen Arbeitslosen in Relation zur Gesamtbevölkerung im gleichen Alter (es dürften ja fast alle prinzipiell erwerbsfähig sein), so erhält man für alle Länder deutlich tiefere Zahlen. Zwar ist immer noch jeder fünfte junge Spanier und jeder sechste Grieche arbeitslos, aber der Unterschied zu „mehr als die Hälfte“ ist offensichtlich gross. Bei den Italienern ist jeder 10 Jugendliche ohne Arbeit oder Ausbildung, bei den Deutschen nur einer in 25.

Etwas anderes fällt bei der Lektüre des Reports auf. Die europäischen Länder haben die (vermeintlichen) Boom-Jahre vor der Finanzkrise nicht genutzt, um das Problem der Jugendarbeitslosigkeit anzugehen. Auch in „guten“ Zeiten lag die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland und Italien bei rund 25%, in Spanien und Portugal bei rund 20%.

Fazit: Die traditionell gemessenen Arbeitslosenquoten lassen das Problem Jugendarbeitslosigkeit viel schlimmer aussehen als es wirklich ist. Das heisst nicht, dass die betroffenen Länder nicht etwas unternehmen sollten – im Gegenteil. Auch 20% Jugendliche ohne Arbeit sind viel zu viele. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit schon vor der Krise zeigt, dass das Probleme wahrscheinlich in den völlig verkrusteten Arbeitsmärkten liegt. Am Elend der Jungen der in den südeuropäischen Staaten sind nicht primär die Finanzkrise und schon gar nicht die geizigen Nordeuropäer „schuld“

Steuern in der Schweiz: The Movie

Marius Brülhart

Der Wettbewerb um lukrative Steuerzahler hält die Schweizer Steuerlandschaft in pausenloser Bewegung. Das weiss doch jeder. Oder etwa doch nicht? Denn mit eigenen Augen gesehen hat es noch niemand…

Steuern in der Schweiz: The Movie.

Hier somit in exklusiver Vorpremiere der längst überfällige Dokumentarfilm. Über knapp drei Jahrzehnte zeichnen wir bunt nach, wie sich die Steuerbelastung auf einen Top-1%-Haushalt in den Gemeinden und Kantonen landesweit entwickelt hat (Idee und Technik: Marcel Probst). Die Daten dazu trugen wir im Rahmen eines Nationalfonds-Projektes zusammen (Regie: Raphaël Parchet und Kurt Schmidheiny).

Konkret haben wir ab 1984 für fast alle 2’596 Gemeinden den Steuersatz berechnen können, welchem ein Ehepaar unterstellt ist, dessen Einkommen an der unteren Grenze des gesamtschweizerisch obersten Einkommensprozents liegt. In der Steuerbelastung berücksichtigt sind Einkommenssteuern für Gemeinden, Kirchen und Kantone. Bundessteuern wurden ausgelassen, denn sie sind übers ganze Land gleich.

Das Top-1%-Einkommen ist für jedes Jahr über alle Haushalte definiert, die direkte Bundessteuern abliefern. Dieser Einkommens-Referenzwert belief sich 1984 auf 194‘900 Franken und im Jahr 2011 auf 354‘400 Franken. Wir bereinigen die Einkommensentwicklung also nicht nur um die Teuerung sondern auch um den realen Anstieg der Durchschnittseinkommen und liefern somit eine Ergänzung zu den Steuerberechnungen, welche Monika Bütler bereits präsentiert hat.

Jeder Betrachter möge sich seine eigenen Highlights aus dem Film herauspicken. Falls Ihnen etwas auffallen oder sonderbar vorkommen sollte: bitte melden! Wir erheben keinen Anspruch auf absolute Fehlerfreiheit unseres Datensatzes und wären dankbar für Reaktionen.

Auf den ersten Blick stechen uns insbesondere drei Phänomene ins Auge:

  • Die Schweiz wird im betrachteten Zeitraum heller. Das heisst, dass die Steuerbelastung auf hohen Einkommen tendenziell rückläufig war. Tatsächlich fiel die ungewichtete Durchschnittsbelastung über alle Gemeinden gerechnet von 22.4% im Jahr 1984 auf 19.3% im Jahr 2011. Bloss in 156 Gemeinden lag die Steuerbelastung 2011 höher als 1984.
  • Die hellen Flecken konzentrierten sich über die Zeit immer mehr in der Innerschweiz. Ein Blick in die Daten bestätigt den Trend. Lagen im 1984 die beiden steuergünstigsten Gemeinden noch im Kanton Graubünden, so lagen 2011 die 41 steuergünstigsten Gemeinden allesamt in der Innerschweiz. 1984 belegten die Gemeinden Appenzell Ausserrhodens im Durchschnitt immerhin den dritten Rang (hinter denjenigen Zugs und Nidwaldens), und Schwyz lag bloss auf Rang acht. Im 2011 sah die Tabellenspitze nach Kantonen folgendermassen aus: Zug, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Uri.
  • Unsere Steuerlandschaft bewegt sich auch kleinräumig und nicht immer stetig. Gemeinden und Kantone verfolgen vielfältige Strategien, und oft wechseln sich widerläufige Entwicklungen ab. Viele Gemeinden senkten ihre Steuersätze eine Weile, hoben sie dann jedoch wieder an. Augenfällig sind solche Übergänge von Dunkel zu Hell und zurück zu Dunkel beispielsweise bei folgenden Gemeinden (testen Sie Ihre Schweizer Geographie!): Altstätten (Trendumkehr 1991), Lausanne (Trendumkehr 2003) und Köniz (Trendumkehr 2004).

Es gibt noch vieles mehr zu entdecken in diesem Streifen. Aber am meisten wird erst richtig ersichtlich, wenn man die Daten durch die ökonometrische Brille anschaut. Daran arbeiten wir. Batz wird berichten.

Übrigens: Unser Film könnte noch einen anständigen Soundtrack gebrauchen. Auch hierzu ist kundiger Rat herzlich willkommen.

LEGOnomics

Urs Birchler und Inke Nyborg

Wer Kinder hat, weiss: Lego-Bausteine sind teuer. Aber sind sie eigentlich teurer oder billiger als damals? Oder ersteht der Eindruck bloss, weil die meisten Lego-Sets so komplex geworden sind? Die Antwort liegt jetzt, wissenschaftlich abgesichert, vor: Real gesehen sind die Klötzchen billiger als 1960 und viel billiger als auf dem Höhepunkt von 1985 (siehe Abbildung). Diese und andere interessante Berechnungen hat der Blog Reality Prose veröffentlicht.

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Wir haben Lego schon unser Silvesterquiz gewidmet. Den Mut, die Euro-Krise in Lego darzustellen, hatten wir allerdings nicht — im Gegensatz zu JP Morgan.

[Nachtrag: Lego und Network Complexity]

Ziellos wandern

Monika Bütler

(publiziert in der Handelszeitung vom 20.12.2012, unter dem etwas krassen Titel „Migration: Gefährliches Spiel im Bunkerstaat“)

Mein älterer Sohn begleitete mich letztes Jahr nach Sydney. Er besuchte dort die gleiche Schule, an der er vier Jahre zuvor eingeschult wurde. Seither erhält er regelmässig elektronische Post aus Australien: „Dear Peter, Australia needs your skills…“ In den Newsletters wird er über die neuesten Entwicklungen an der Einwanderungsfront informiert und eingeladen, sich eine Emigration ernsthaft zu überlegen. Peter ist zwar erst in der fünften Klasse, er erfüllt aber – jung und in Ausbildung – offensichtlich die wichtigsten Kriterien für ein Arbeitsvisum – im Gegensatz zu seiner Mutter, die bereits an der Altersgrenze scheitert.

Mit Peters erstem Newsletter erreichte mich eine Anfrage meiner Uni: „Bitte teilen Sie uns mit, ob Sie neben der schweizerischen auch noch eine ausländische Staatsbürgerschaft besassen oder aktuell besitzen.“ Hintergrund des Schreibens: Die Internationalität der Faculty ist eine wichtige Einflussgrösse für die Platzierung einer Universität in den Rankings. Zerknirscht musste ich eingestehen, dass ich das Ranking belaste. Ich lebte zwar fünf Jahre im Ausland, aus meiner Familie stammen zahlreiche Auswanderer in die ganze Welt – sogar eine Kolumbien (Wunder) wirkende und später heiliggesprochene Nonne. Dennoch finden sich nicht einmal Spuren ausserhelvetischer Gene; sogar die Katze ist einheimisch. Meine Kinder beklagen sich schon, weil sie keinen spannenden Background haben, nun tut dies auch meine eigene Universität.

Das aktive Werben um hochqualifizierte Einwanderer wie in Australien wäre in der Schweiz unvorstellbar. Einwanderer verursachen zuerst einmal Probleme. In Australien unvorstellbar wäre hingegen, dass sich Australier für ihren Pass rechtfertigen oder sich die Kinder dafür schämen müssen. Man ist stolz, Australier(in) zu sein.

Die Situation ist paradox: Wie Australien hat die Schweiz ihren Wohlstand nicht zuletzt den unternehmerischen Einwanderern zu verdanken. Es gelingt unserem Land vorbildlich, selbst die Kinder wenig gebildeter Einwanderer zu integrieren. Nur noch Kanada hat eine höhere Erfolgsquote, dies mit Einwanderungsregeln, die Qualifizierte bevorzugen. Die Schweiz ist zudem ein äussert erfolgreiches Auswandererland; viele Spitzenköche, Hoteldirektoren, Spitzenmanager und Professoren stammen aus der Schweiz. Eigentlich müssten die Eidgenossen stolz auf diese Erfolgsgeschichte sein. Doch weit gefehlt: Die Ausländer stören, die Schweizer ebenfalls. Ein ausländischer Pass ist ein attraktives Accessoire; fürs Ranking bei den Universitäten, für die Diversity bei den Firmen, um auf dem Pausenplatz nicht als bünzlige Schweizerin zu gelten.

Passend dazu geht die öffentliche Diskussion oft völlig an der Realität vorbei. Erstes Beispiel: Wir hätten momentan eine aussergewöhnliche Masseneinwanderung, bildlich dargestellt durch eine jährlich einwandernde Stadt St. Gallen. (Warum wohl ausgerechnet St. Gallen für diesen Vergleich herhalten muss?) Dabei wanderten in den 60-er und 70-er Jahren jährlich sogar zwei St. Gallen ein. Und brachten der Schweiz nicht nur Wohlstand, sondern auch etwas Italianità und – wer wollte es heute bestreiten – besseres Essen.

Zweites Beispiel: Die Personenfreizügigkeit (PFZ) mit der EU sei die Quelle allen Übels, schuld an der Kriminalität, der Belastung der Sozialwerke, den Integrationsproblemen in den Schulen, der räumlichen Enge. Doch die widerlichen Drogenhändler im Zürcher Kreis 4, wegen der wir unsere Kinder noch immer in die Musikschule begleiten müssen, stammen offensichtlich nicht auf den PFZ Ländern. Die herumlungernden Halbwüchsigen im St. Galler Bahnhof ebenfalls nicht. Kaum einer der in der Presse präsentierten Sozialhilfebetrüger ist aus einer PFZ Region. Und die PFZ Kinder integrieren sich genau so gut wie die Schweizer Auswanderkinder im Ausland. Bei genauerem Hinsehen sind die EU Ausländer nicht einmal schuld an den hohen Mietpreisen und den überfüllten Zügen. Die Hauptreiber sind die Schweizer selber, die sich – unter tatkräftiger Mithilfe der Tiefzinspolitik – mehr Wohnraum (und wenn man böse sein wollte: mehr Scheidungen) leisten können.

Drittes Beispiel: Der Glaube, dass es uns ohne Ausländer genauso gut ginge – einfach ohne Ausländer. Es ginge uns eben kaum so gut. Und dies nicht nur wegen den Ärztinnen, Ingenieuren und Putzfrauen, die an allen Ecken und Enden fehlen. Wie bei Güterexporten bringt der Austausch von Fähigkeiten und der Wettbewerb der Talente mehr Produktivität. Wettbewerb stört zwar die Gemütlichkeit. Doch ohne Ausländer gäbe es viele der Arbeitsplätze, die uns die Ausländer angeblich streitig machen, gar nicht. Mit der Gemütlichkeit ist es schnell vorbei, wenn die Mittel dafür fehlen.

Einige Ausländer stören tatsächlich. Die schweizerische Migrations- und Asylpolitik ist nämlich genauso schräg wie die öffentliche Diskussion. Doppelt so viele Nicht-Europäer kommen zu einer Aufenthaltsbewilligung via Asyl als via reguläres Arbeitsvisum. Eines der bedeutendsten Ein- und Auswandererländer der Welt empfängt ausgerechnet die Hochqualifizierten mit der Migrationspolitik eines unattraktiven und verschlossenen Bunkerstaates. Und bestätigt dabei genau das Bild, welches den Schweizern im Ausland oft präsentiert wird und das unser Selbstbild prägt.

Höchste Zeit, selbstbewusster und optimistischer aufzutreten. Eine vernünftige Migrationspolitik sorgt dafür, dass wir nicht so werden wie es in der Anfrage der Handelszeitung für diesen Artikel so schön hiess: verwöhnt, verunsichert und international verlassen.

Sind Steuerzahler bessere Menschen?

Monika Bütler

Tribüne im Tagblatt (St. Gallen), 22. September 2012

Mitt Romney hätte Freude an unserem Land: In der Schweiz bezahlen nur 20% der Haushalte keine Einkommenssteuern. Anders als in den USA, wo dies 47% nicht tun und sich stattdessen – immer gemäss Romney – lieber an den staatlichen Tropf hängen. Offenbar übernehmen 80% der Schweizer Haushalte persönliche Verantwortung und halten ihr Leben in Ordnung. Doch sind wir Schweizer wirklich bessere Menschen, wie uns der republikanische Präsidentschaftskandidat suggeriert?

Viele (bürgerliche) Politiker sind der Meinung, dass die Besteuerung aller Einwohner wichtig sei. Oder wie es das Bundesgericht ausdrückt: “Aus dem aus [der Bundesverfassung] hergeleiteten Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung kann auch gefolgert werden, dass alle Einwohner entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit einen – wenn auch unter Umständen bloss symbolischen – Beitrag an die staatlichen Lasten zu leisten haben.” Damit würde auch allen bewusst, dass die Leistungen des Staates nicht gratis zu haben seien.

Wer daraus schliesst, dass nur Einkommenssteuern dieses Bewusstsein auslösen, verkennt drei wichtige Punkte. Erstens sind Einkommenssteuern nicht die einzigen Steuern. Zweitens zahlen viele heute Steuerbefreite in der Zukunft Einkommenssteuern oder haben sie in der Vergangenheit geleistet. Drittens sagt die Steuerlast eines Haushalts nichts aus über seinen effektiven Beitrag an die staatlichen Leistungen.

Zum ersten Punkt: Auch die Ärmeren beteiligen sich an den staatlichen Lasten, nämlich über Sozialversicherungsbeiträge, Konsumsteuern (wie die Mehrwertsteuer) und Gebühren. Diese Steuern sind in der Regel sogar leicht regressiv, sie belasten einkommensschwache Haushalte proportional stärker als gutverdienende. Ironischerweise sind es gerade bürgerliche Exponenten, die eine Reduktion der Einkommenssteuern zugunsten der Konsumsteuern fordern – was letztlich den Anteil der Einkommenssteuer-Befreiten erhöht.

Zum zweiten Punkt. Romneys Sichtweise blendet den Lebenszyklus aus. Unsere Student(inn)en an der HSG bezahlen ihre Einkommenssteuern nicht jetzt, sondern später im Leben. In der Momentaufnahme gehören die meisten von Ihnen zum „Romney-Proletariat“, den ominösen 47 Prozent in den USA bzw. zu den steuerbefreiten 20% in der Schweiz. Auf ein Leben am Busen des Staates spekuliert kaum eine(r) von ihnen. Im umgekehrten zeitlichen Verlauf gilt dasselbe für Pensionierte, deren Rente unter dem Grenzwert für die Einkommenssteuer liegt. Oder ist ein Rentner, der von seinen Ersparnissen lebt, ein linker Schmarotzer?

Der dritte Punkt geht in die andere Richtung. Wer in der Schweiz Einkommenssteuern bezahlt, ist nicht unbedingt ein Nettozahler. So erhalten Freunde von uns ihre Einkommensteuern fast auf den Franken genau als Prämiensubvention der Krankenkasse wieder zurück. Sie sind keine Ausnahme. Die Einnahmen aus der Einkommenssteuer werden dem Mittelstand in verschiedener Form als einkommensabhängige Subventionen teilweise wieder zurückerstattet. Diese Umlagerung von der rechten in die linke Hosentasche scheint, abgesehen vom administrativen Leerlauf, harmlos. Genau das ist sie aber nicht.

Was faktisch aussieht wie eine Einkommenssteuerbefreiung für kleinere und mittlere Löhne ist genau das Gegenteil – nämlich eine doppelte Besteuerung des Einkommens. Verdienten unsere Freunde einen Franken mehr, würden sie doppelt gestraft: Zum einen zahlten sie mehr Einkommenssteuern; zum andern erhielten sie weniger einkommensabhängige Prämiensubvention. Das Bewusstsein, dass die staatlichen Leistungen etwas kosten, wächst so kaum. Eher leidet dadurch das Ansehen des Staates.

Die USA versuchen seit Jahren, eben diese negativen Spar- und Arbeitsanreize für die einkommensschwächeren Haushalte zu mindern, sei es durch Steuergutschriften für Geringverdiener (sogenannte Earned Income Tax Credits) oder die Steuerbefreiung des Existenzminimums. Diese Politik wurde in der Vergangenheit sowohl von republikanischen wie auch demokratischen Präsidenten unterstützt. Der Anteil der Haushalte, die keine Einkommenssteuer bezahlen, ist in den USA genau aus diesem Grund höher als bei uns. Unsere Freunde gehören in der Schweiz zu den „Verantwortungsvollen“ 80%, in den USA hingegen zu den geschmähten 47%. 

Vielleicht sollten wir Romneys unbedarfte Bemerkungen als Anlass nehmen, über die Besteuerung des Existenzminimums nachzudenken. Zwar meinte das Bundesgericht vor einiger Zeit: Aus der verfassungsmässigen Existenzsicherung könne nicht abgeleitet werden, dass “ein bestimmter Betrag in der Höhe eines irgendwie definierten Existenzminimums von vornherein steuerfrei belassen werden könnte.” Ob es allerdings gescheiter ist, Einkommensteuern auch auf geringen Einkommen zu erheben und diese dann in Form von Subventionen wieder zurückzuerstatten, bezweifle ich. Das Dickicht von Steuern und einkommensabhängigen Subventionen bestraft in der Schweiz am härtesten diejenigen, die sich aus eigener Kraft aus der Armut befreien wollen.

Sei es in den USA oder bei uns: Man kann über das Steuersystem unterschiedlicher Meinung sein. Aber Steuern in irgendeiner Form zahlen wir letztlich alle. Und fast alle zahlen über das Leben gesehen auch Einkommenssteuern. Wir sind alle bessere Menschen.