Wir, die AHV

Monika Bütler

(Zu Weihnachten eine kleine Liebeserklärung an die AHV, publiziert im Bulletin der Credit Suisse, 18. Dezember 2013)

Als meine Grossmutter, im Krieg mit drei kleinen Kindern verwitwet, 1948 das erste Mal eine bescheidene AHV Rente erhielt, weinte sie vor Erleichterung und Dankbarkeit. Dabei waren die rund 35 Franken pro Monat selbst für damalige Verhältnisse wenig, gerade einmal 7% des Medianeinkommens. Trotz Unterstützung ihrer Kinder lebte sie auch später in ärmlichen Verhältnissen, in einer kleinen dunklen Wohnung ohne richtige Heizung. Dennoch blieb sie zeit ihres Lebens sehr dankbar über ihre AHV Rente.

65 Jahre später: Die Schweizer Illustrierte portraitiert den „coolsten Rentner der Schweiz“, das frühere Ski-Idol Bernhard Russi, mit Jahrgang 1948 gleich alt wie die AHV. Zwischen meiner Grossmutter (die mit 66 Jahren als gebrechliche Frau starb) und dem topfitten Neurentner Russi liegen Welten. Auch zwischen der AHV von 1948 und der AHV von 2013 liegen Welten. Die Leistungen sind gemessen am Durchschnittslohn mehr als zweieinhalb mal höher als früher, sie wurden ergänzt durch eine obligatorische berufliche Vorsorge und Ergänzungsleistungen. Seit der Einführung der AHV ist die verbleibende Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren um rund acht Jahre gestiegen – meist beschwerdefreie Jahre notabene. Den heutigen «Alten» geht es heute im Durchschnitt nicht nur finanziell viel besser als früher; sie sind auch gesünder und fühlen sich jünger. Nur zwei Sachen blieben unverändert: das AHV-Rentenalter liegt unverrückbar bei 65 Jahren – wie 1948. Und die AHV ist noch immer Teil der schweizerischen Identität.

Allerdings sind da auch noch die negativen Prognosen über die künftige Entwicklung der AHV. Selbst politische Kreise, die noch vor wenigen Jahren jede Finanzierungslücke der AHV bestritten haben, müssen inzwischen eingestehen, dass sich ohne Gegenmassnahmen bald ein grosses Loch in der Versicherungskasse auftut.

Die drohende Finanzierungskrise hat der Popularität der AHV noch keinen Abbruch getan. Kaum eine schweizerische Institution ist so beliebt und in allen Bevölkerungskreisen so stark verankert wie die AHV. Die AHV ist eine Erfolgsgeschichte: In relativ kurzer Zeit konnte damit die Armut im Alter praktisch ausgemerzt werden. Dies gilt insbesondere für die Witwenarmut, die selbst in Ländern wie den USA noch immer beobachtet werden kann. Die Versicherung verursachte seit ihrer Einführung keine Skandale. Sie arbeitet schnell, transparent und mit ausgesprochen tiefen Verwaltungskosten.

Die AHV, das sind wir. Das Geheimnis dieser Liebesbeziehung? Fast alle Einwohner der Schweiz tragen zur Finanzierung der AHV bei, fast alle profitieren einmal davon. Man muss – im Gegensatz zur IV – nicht streiten, ob jemand eine Rente beziehen darf. Das Alter kann zweifelsfrei und mit geringen Kosten festgestellt werden kann. «Scheinalte» gibt es nicht.

Die Stellung der AHV ist im internationalen Vergleich einzigartig.  Ihr Kürzel steht längst nicht nur für die Versicherung im Alter und beim Tod des Ernährers; es ist mittlerweile Synonym für Menschen ab 65. Während in anderen Ländern Senioren, „best agers“ oder „silver agers“ Rabatte gewährt werden, heisst es in der Schweiz beim Eingang ins Schwimmbad oder ins Museum schlicht und einfach: „Eintritt Erwachsene, Kinder & AHV…“. Sind die Züge an schönen Tagen voll, stöhnen die Pendler „die AHV ist unterwegs“, die wohl weltweit einzige reisende Sozialversicherung. Und unter den Ärger über fröhlich jassende Senioren mischt sich wohl auch etwas Neid.

Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ausgerechnet eine Sozialversicherung so sehr zum Selbstbild der Schweiz gehört. Eine erste Vorlage zu einem AHV-Gesetz scheiterte nämlich 1931 in der Referendumsabstimmung: an der prekären Wirtschaftslage, konservativen Wirtschaftskreisen, den Jungen für die die Beiträge zu hoch waren, den Pensionskassen, die fürchteten vom Gesetz übergangen zu werden und den Kommunisten, denen die Leistungen zu bescheiden waren. Besonders interessant dabei: Bereits damals tat sich ein Röstigraben – ebenfalls schon fast ein Teil unserer Identität – auf, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Vorlage von 1931 traf nicht nur auf den Widerstand konservativer Landkantone sondern auch auf die Ablehnung welscher Kantone. In der Waadt erhielt der Vorschlag mit 24% Ja etwa gleich wenig Zustimmung wie in der Innerschweiz. (In Klammern bemerkt: Ausgerechnet der fosse du rösti, welcher heute für grosse Differenzen in Fragen zur Sozialpolitik steht, zeigt, dass die vermeintlichen Gräben vielleicht eher identitätsstiftende Folklore sind als Scheidungsgründe).

Dass die Identifikation mit der AHV so gross ist hat vielleicht mit einem weiteren Teil der schweizerischen Identität zu tun, der direkten Demokratie. Institutionen wie die Alterssicherung werden eben gerade nicht auf dem Reissbrett entworfen, sondern im politischen Prozess. Das Volk verfügt durch die direkte Demokratie sozusagen über ein Einzelpostenvetorecht, ein so genanntes «line item veto». Es ist gar nicht möglich, dem schweizerischen Souverän eine Reform der Alterssicherung als Teil eines Gesamtpaketes unterzujubeln. Jeder Bürger, jede Bürgerin ist gezwungen sich mit der Materie auseinanderzusetzen. Herausgekommen ist im Falle der AHV eine einfache und übersichtliche Lösung gegen Alters- und Witwenarmut. Es gibt im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern keine Sonderlösungen für Beamte und andere Bevölkerungsgruppen. So bleibt die Versicherung auch anpassungsfähig und schlank.

Von Partikularinteressen blieb die AHV dennoch nicht verschont. Beispiel: Die Änderungen im Rentenalter der Frauen durch die damals ausschliesslich männlichen, mehrheitlich mittelalterlichen und verheirateten Bundesparlamentier. Die Senkung des anfänglich ebenfalls auf 65 Jahre festgelegten Frauenrentenalters auf 62 Jahre wurde nicht nur mit der Existenzsicherung (Frauen haben tiefere Löhne) begründet, sondern auch damit, dass die Männer und ihre im Durchschnitt drei Jahre jüngeren Ehefrauen gemeinsam in Pension sollten gehen können.

Die hohe Verankerung in der Bevölkerung hat auch Nachteile: Sie hemmt notwendige Reformen, wenn aus lauter Liebe ungünstige demographische und wirtschaftliche Entwicklungen ausgeblendet werden. An Warnungen über drohende finanzielle Ungleichgewichte aufgrund der demographischen Entwicklung fehlte es nämlich nie; die SNB schrieb bereits 1957 von einer «zunehmenden Überalterung».  Nur wenn es gelingt, die an sich erfreuliche Zunahme der Lebenserwartung in der AHV zu berücksichtigen, bleibt die Versicherung auch in der Zukunft in weiten Kreisen der Bevölkerung verankert und beliebt.

Die AHV als Teil der schweizerischen Identität wackelt nämlich. Im Sorgenbarometer liegen die Probleme der Alterssicherung an dritter Stelle mit 29% Nennungen. Auf die Probe gestellt wird die Beziehung allerdings nicht nur durch das finanzielle Ungleichgewicht, sondern auch durch einen immer engeren Blick auf die eigenen Vorteile. So zeigt das Sorgenbarometer, dass in der Beurteilung der staatlichen Leistungen zwischen Innen- und Aussensicht eine beträchtliche Lücke klafft. 65% der Befragten geben zwar an, selber zu wenig vom Staat zu erhalten, doch sind nur 39% dieser Meinung, wenn es um die anderen geht; für 51% tut der Staat im Allgemeinen zu viel. Die Diskussion um die vermeintliche Heiratsstrafe in der AHV geht in dieselbe Richtung. Die bevorzugte Behandlung der Ehepaare wären der Beitragsphase wird dabei geflissentlich ausgeblendet.

Die Solidarität zwischen den Einkommensgruppen in den AHV ist riesig. Viele Erwerbstätige zahlen ein Vielfaches dessen ein, was sie später an Rente beziehen. Bei einem Einkommen von 500‘000 Franken werden der AHV, inklusive Arbeitgeberbeiträge, circa 42‘000 Franken pro Jahr geschuldet. Drei Viertel davon – also eine ganze maximale AHV Jahresrente – reine Steuern, die keinerlei Einfluss auf die Rentenhöhe haben.  Dass die Grossverdiener bis heute der AHV die Stange halten, ist nicht selbstverständlich. Dies könnte sich ändern, wenn von denen, die ohnehin schon sehr viel beitragen, noch mehr einfordert wird. Schon heute haben internationale Konzerne Mühe, ihren ausländischen Spitzenkräften zu erklären, weshalb sie auch auf dem nicht rentenbildenden Einkommen AHV Beiträge zu entrichten haben. Immerhin: Die Umverteilungsvorlagen 2013 brachten diese auch international aussergewöhnlich starke Solidarität wieder stärker ins Bewusstsein: Die Angst vor wegbrechenden AHV Einnahmen beunruhigt die Stimmbürger mehr – und ist demzufolge eher zu vermitteln – als negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Wie sagte doch der verstorbene Bundesrat Tschudi: „Die Reichen brauchen die AHV nicht, aber die AHV braucht die Reichen.“

Trotz aller – auch selbstgeäusserter – Kritik bleibt die AHV auch für die schreibende Wissenschaftlerin ein integraler Teil des schweizerischen Erfolgsmodells. Nicht nur weil mir die Dankbarkeit meiner Grossmutter für immer im Gedächtnis eingraviert ist.

Labor Schweiz: fiscalfederalism.ch

Marius Brülhart, Monika Bütler, Mario Jametti und Kurt Schmidheiny

Kein anderes Land ist institutionell und politisch so vielfältig wie die Schweiz. Ganz besonders ausgeprägt ist diese Vielfalt bei den öffentlichen Finanzen. Unsere 26 Kantone und gegen 2‘500 Gemeinden geniessen weltweit einmalige Freiheiten bei der Festlegung ihrer Steuern und der Verwendung ihrer Steuereinnahmen. Dieses dezentrale Staatsgebilde – wenn auch kein Allerheilmittel – ist fester Bestandteil des schweizerischen Selbstverständnisses und hat zweifelslos Anteil an der Stabilität und am wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes.

Für eine Untergattung der Spezies Mensch ist der helvetische Fiskalföderalismus zudem eine ganz besonders willkommene Bescherung: den empirischen Wirtschaftswissenschaftler (männlichen wie  weiblichen Geschlechts und – wie es sich für die Schweiz gehört – in allen Landesteilen vertreten). Nichts ist für den angewandten Forscher nämlich so wertvoll wie die Kombination von vielen und langen Datenreihen. Da die Schweiz schon seit geraumer Zeit in ziemlich unveränderter Form existiert, bietet sie im Prinzip lange Beobachtungshorizonte; und dank ihrer dezentralen Organisation offeriert sie potentiell eine grosse Zahl an Beobachtungseinheiten – ein ideales statistisches Labor also.

Der Haken an der dezentralen Organisation ist allerdings, dass wirtschaftspolitische Daten oft nur auf lokaler Ebene erhoben und aufgehoben werden. Um das „Labor Schweiz“ so richtig wissenschaftlich nutzen zu können, muss daher vieles an statistischem Rohmaterial erst in den Kantonen und Gemeinden eingesammelt werden. Eben diese Datensammlerei ist zentraler Bestandteil eines Nationalfondsprojektes, welches wir seit 2010 gemeinsam leiten.

Um die Früchte unserer Arbeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen (und zur Feier der kürzlich vom Nationalfonds gewährten Projektverlängerung um weitere drei Jahre!), haben wir eine neue Internetseite eingerichtet: fiscalfederalism.ch. Dort werden wir unsere Forschungsergebnisse laufend publizieren und auch neues Datenmaterial ablegen.

Als Zückerli sei dem geneigten Batz-Leser schon einmal unsere gestaltbare Datenanimation empfohlen, mittels welcher die Entwicklung der kantonalen Steuerlandschaft seit 1996 nach Belieben dargestellt werden kann.

Verfolgen Sie zum Beispiel die Entwicklung des Kantons Schwyz hin zum Steuerparadies für Gutverdienende – hier ein Screenshot, auf fiscalfederalism.ch jedoch in dynamischer Ausführung zu geniessen.

 SZParadies

Banken sind teure Polizisten

Urs Birchler

Liechtenstein will den Automatischen Informationsaustausch anbieten. Das scheint uns keine Überraschung. Eine „manuelle“ Weissgeldstrategie, innerhalb der die Banken selber die Steuerehrlichkeit ihrer Kunden prüfen, ist schlicht zu teuer. In unserer kürzlich erschienenen International Private Banking Study haben wir berichtet, dass Liechtenstein seit 2009 von allen Ländern die stärkste Verschlechterung der „cost/income-ratio“ (Grafik) im Private Banking erlebt hat (ausgehend von einem sehr komfortablen Niveau). Nachdem Liechtenstein in die „Spitzengruppe“ (im negativen Sinn) vorgestossen ist, lag ein Strategiewechsel in der Luft.

Liechtenstein

Die shoppende Zahnarztgattin, Teil 2

Monika Bütler

Damit ich ja nicht verdächtig werde, mich mit fremden Federn zu schmücken: Das Bild der shoppenden, ihre Kinder fremd-betreuenden Zahnarztgattin stammt gar nicht von mir. Ich habe es in einer Diskussion um die Familieninitiative von SVP-Vertretern aufgeschnappt. Und es sofort adoptiert. Die SVP hat nämlich tatsächlich einen guten Punkt: Das heutige System bevorzugt Familien mit Müttern, die wenig bis gar nichts arbeiten, ihre Kinder aber fremdbetreuen lassen und den entsprechenden Abzug in der Steuerrechnung machen. Leider folgt auf die mindestens teilweise richtige Diagnose die falsche Therapie.

Mein Beitrag in der NZZ am Sonntag hat nicht nur bei der Weltwoche (wo mir unterstellt wird, ich würde „aufgeboten“, mich gegen die Familieninitiative zu äussern), sondern auch bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung Protest ausgelöst. Weil die shoppende Zahnarztgattin gar keinen Abzug vornehmen könne unter dem heutigen System. Hier die drei Gründe:

  1. Die Steuergesetze sehen vor, dass die Kosten für die Direktbetreuung in einem direkten kausalen Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit, Ausbildung oder Erwerbsunfähigkeit der steuerpflichtigen Person stehen müssen, damit diese Kosten steuerlich abzugsfähig sind (vgl. Art. 212 Abs. 2bis des Gesetzes über die direkte Bundessteuer).
  2. Ehepaare können die Kinderbetreuungskosten somit geltend machen, wenn beide gleichzeitig einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Die Eltern können nur jene Kosten abziehen, die ihnen während der tatsächlichen Dauer der Erwerbstätigkeit entstehen. Bei teilzeitlich erwerbstätigen Steuerpflichtigen können nur die während der Arbeitszeit entstandenen Kosten berücksichtigt werden.
  3. Betreuungskosten, die ausserhalb der Arbeits- oder Ausbildungszeit der Eltern angefallen sind – etwa durch Babysitting am Abend oder über das Wochenende –, können nicht abgezogen werden. Betreuungskosten, die den Eltern beispielsweise infolge Freizeitgestaltung entstehen, sind als Lebenshaltungskosten zu qualifizieren und können nicht geltend gemacht werden.

Das ist alles selbstverständlich richtig, nur verkennt die Regelung, wie schwierig es ist, dies in der Praxis umzusetzen. Die wahren Hürden liegen nämlich in der Umsetzung: „Meiner“ Zahnarztgattin genügt ein Minipensum, um den ganzen Betreuungsabzug machen zu können, wenn er tatsächlich ausgewiesen ist. Erstens wird der Beschäftigungsgrad auf der Steuererklärung und in der Regel auch auf dem Lohnausweis nirgends erwähnt. (Die im Minipensum arbeitende Zahnarztgattin kommt sogar noch in den Genuss des Zweitverdienerabzugs!) Zweitens haben die Steuerbehörden weder die Möglichkeit noch die Zeit, den Nachweis der Gleichzeitigkeit der Berufsausübung wirklich einzufordern. Das elektronische Formular zur Steuererklärung — welches ja die Umsetzung der Regeln abbilden soll — erlaubt mindestens im Kanton Zürich den Abzug auch bei einem minimalen Einkommen der Zweitverdienerin.

Und selbst wenn die Bedingungen wirklich überprüft würden: Für einen Abzug von 6000 Franken genügt der Zahnärztgattin ein 20% Pensum, damit sie sogar alle Bedingungen der Steuerverwaltung für den Abzug erfüllt. Bei 10’000 Franken wären es dann circa 35%.

Das Problem liegt anderswo: Ehepaare mit zwei Teilzeitpensen, die eigentlich nicht angewiesen sind auf eine externe Betreuung, können den gleichen Abzug machen wie zwei in Vollzeit tätige Eltern. Abzugsfähigkeit und Zweitverdienerabzug sind zudem nicht proportional (oder nur schwach proportional) zu den zur Berufsausübung erforderlichen Betreuungskosten. Das heutige System ist tatsächlich ungerecht – allerdings nicht gegenüber den Selbstbetreuuern. Es bevorzugt in kleiner Teilzeit tätige Mütter gegenüber Müttern, die Vollzeit oder in grösserer Teilzeit arbeiten und somit für die Wirtschaft (und die Steuereinnahmen) wichtig sind.(Väter natürlich auch.) Zahnarztgattinen mit Minipensum werden gegenüber 80% arbeitenden Ärztinnen krass bevorzugt.

Alles in allem stärken die Kritikpunkte der Steuerverwaltung aber meine Schlussfolgerung: Die Familieninitiative verstärkt die Bevorzugung meiner shoppenden Zahnarztgattin noch mehr. Für eine typische Mittelstandsfamilie, bei der die Mutter zu Hause bleibt,  bringt die Familieninitiative hingegen fast nichts.

PS: Herzlichen Dank an die Eidgenössische Steuerverwaltung für die Stellungnahme und die Klarstellung meines holzschnittartigen Beispiels. Es spricht für die Institutionen in diesem Land, dass die Diskussion in dieser Art möglich ist.

Etwas Steuerlehre zur SVP Familieninitiative oder der Steuerwert der freien Zeit

Monika Bütler

Erschienen in der NZZ am Sonntag vom 3. November 2013 unter dem Titel „Den Familienabzug gibt es längst“.

Sie ist die personifizierte Ungerechtigkeit in den Augen der Initiatoren der SVP Familieninitiative: Die Luxus-shoppende Zahnarztgattin, die zur Ausübung ihres Hobbys ihren Porsche Cayenne auf dem Zürcher Münsterhof und ihre traurigen Kinder in der Krippe parkiert. Und dafür erst noch die Betreuungskosten in der Steuerrechnung abziehen darf. Der bescheidenen Schreinergattin, die ihre Kinder immer selber betreut, ist dieser Abzug hingegen verwehrt. Das ist selbstverständlich ungerecht und widerspricht allen Grundsätzen eines effizienten Steuersystems.

Die Lösung wäre simpel: Weiterlesen

Das Einmaleins der SVP Familieninitiative

Michel Habib und Monika Bütler

Stimmt es wirklich, dass die jetzige steuerliche Behandlung der mit der Kinderbetreuung verbundenen Kosten unfair ist gegenüber Familien, in denen ein Elternteil die Kinder selbst betreut?

Auf den ersten Blick scheint dies so zu sein. Diejenigen Familien, in denen beide Eltern arbeiten und wo die Kinder fremdbetreut werden, können einen Steuerabzug für die entstandenen Kosten geltend machen, während Familien, welche ihre Kinder selbst betreuen, kein solcher Abzug zur Verfügung steht.

Bei diesem Argument geht allerdings vergessen, dass bei Familien mit zwei Erwerbstätigen das Einkommen und damit auch das steuerbare Einkommen und die bezahlten Steuern ansteigen, während Familien, welche ihre Kinder selbst betreuen, ein tieferes Einkommen versteuern und damit auch weniger Steuern bezahlen. Da die höheren Steuern auf der einen Seite und der Steuerabzug auf der anderen sich gegenseitig aufheben, ist es nicht das jetzige System, welches unfair ist, sondern die vorgeschlagene Alternative.

Anders ausgedrückt: Ein Steuerabzug für selbstbetreuende Familien würde diesen eine Steuerersparnis bringen gegenüber den Familien, welche Fremdbetreuung in Anspruch nehmen, da letztere neben dem Abzug der Betreuungskosten auch noch ein erhöhtes Einkommen versteuern müssen.

Dieser Umstand lässt sich an einem Beispiel von zwei ähnlichen Familien verdeutlichen. Beide Väter verdienen 100‘000 CHF im Jahr, während eine der beiden Mütter Teilzeit arbeitet. Die Kosten für die Kinderbetreuung betragen 20‘000 CHF. Wenn man keine Wertung vornimmt über die Wünschbarkeit, Hausarbeit oder Erwerbsarbeit zu verrichten, scheint es intuitiv anzunehmen, dass die Mutter nur dann arbeitet, wenn sie mindestens 20‘000 CHF (plus die anderen Berufsauslagen) verdienen kann, und nicht arbeitet, wenn der Verdienst geringer ist. Doch diese Rechnung geht nur mit der heutigen Regelung auf, nicht aber mit dem vorgeschlagenen System.

Dies lässt sich einfach zeigen an der Steuerbelastung der beiden Familien im Fall. bei dem der zusätzliche Verdienst der Mutter netto genau 20‘000 CHF beträgt. In der heutigen Regelung ist das Einkommen nach Steuern der beiden Familien heute gleich, weil der Zusatzverdienst der Mutter mit den Betreuungskosten verrechnet wird. Im vorgeschlagenen System der Initiative dagegen wäre das Einkommen nach Steuern unterschiedlich.

Nehmen wir  der Einfachheit halber einen proportionalen Steuersatz von 20% an. Ginge man zusätzlich von einem progressiven Steuersatz aus, würde der geschilderte Effekt sogar noch grösser. Das Einkommen der selbstbetreuenden Familie vor Steuern beträgt im heutigen System 100‘000 CHF, nach Steuern 80‘000 CHF.  Die Familie mit Fremdbetreuung hat ein steuerbares Einkommen von 120‘000 CHF – 20‘000 CHF = 100‘000 CHF, weil die Betreuungskosten abgezogen werden können. Das Einkommen nach Steuern beträgt ebenfalls 80‘000 CHF, genau der gleiche Betrag wie bei der ersten Familie.

Betrachten wir nun die Änderungen gemäss dem Vorschlag der Initiative. Für die fremdbetreuende Familie ändert sich nichts, das Einkommen nach Steuern beträgt weiterhin 80‘000 CHF. Weil es neu einen Abzug für Selbstbetreuung gibt (gehen wir einmal von 10‘000 CHF pro Kind aus), beträgt das steuerbare Einkommen bei zwei Kindern neu 100‘000 CHF – 20‘000 CHF = 80‘000 CHF, so dass die geschuldeten Steuern sich nur noch auf 16‘000 CHF belaufen und damit neu ein Einkommen nach Steuern von 84‘000 CHF zur Verfügung steht. Das verfügbare Einkommen der selbstbetreuenden Familie ist damit um 4000 CHF höher als das Einkommen der Familie mit Fremdbetreuung.

Es ist also nicht so, dass das gegenwärtige System den Familien mit Fremdbetreuung unter dem Strich einen Vorteil gewährt, weil diese Familien auf dem zusätzlichen Einkommen Steuern bezahlen. Ganz im Gegenteil ist es so, dass das vorgeschlagene System den selbstbetreuenden Familien einen Vorteil gewährt, weil sie Steuerabzüge geltend machen könnten, denen keine Steuerzahlung gegenübersteht.

Ausgeblendet haben wir bei unserem vereinfachten Beispiel die Steuerprogression und die Abzüge, die bei einigen Kantonen und dem Bund für den Zweitverdienst gemacht werden können. Letztere sind in erster Linie gedacht, die starke Progression in der Steuerbelastung des Zweitverdiensts etwas abzumildern. Die beiden Effekte – Progression und Zweitverdienerabzug – gleichen sich etwa aus. Doch selbst in unserem Beispiel mit proportionalen Steuern (also ohne Steuerprogression), würden die Steuerersparnisse für den Zweitverdienst von circa 1000 CHF nie reichen, um den durch den SVP Vorschlag gewährten Steuervorteil für die selbstbetreuende Familie auszugleichen. (In Klammern bemerkt: Der Pauschabzug für den Zweitverdienst bei der Bundessteuer ist natürlich ein Unding. Er bestraft faktisch die Mehrarbeit des Zweitverdieners, die Steuerprogression wird nur für ein sehr geringes Arbeitspensum ausgeglichen).

Übersetzung einer ersten Version des Beitrags aus dem Englischen: Christian Marti (herzlichen Dank!)

Die ewige Angst vor dem Abstieg – etwas Hintergrund

Monika Bütler

Das NZZ Folio hat meinen Beitrag zum Zustand des schweizerischen Mittelstands freundlicherweise bereits verlinkt. Was ich noch nachliefern möchte, sind die wissenschaftlichen Grundlagen und andere Texte, auf die ich mich direkt oder indirekt abgestützt habe. Oder einfach interessante Hintergrundliteratur.

Treue batz Leser(innen) werden das eine oder andere schon früher gelesen haben. Die Problematik der steigenden Wohnkosten habe ich in „Mietzinsakrobatik“ diskutiert, die Steuerbelastung des Mittelstandes in „Steuerbelastung inflationsbereinigt“ und in „Sind Steuerzahler bessere Menschen?“. Dass der Lebenszyklus wichtig ist für die Beurteilung der Einkommen stand in der NZZ am Sonntag und im batz:  Einkommensverteilung und Lebenszyklus. Zum Thema Einkommensverteilung haben auch meine Kollegen Marius Brülhart in Land der begrenzten Ungleichheiten und Reto Föllmi (mit Isabelle Martinez) in Reich sein in der Schweiz…  beigetragen. Dass es wichtiger wäre Tagesschulen zu organisieren statt das Hortwesen zu perfektionieren stand in „Familienartikel: Umbau der antiquierten Schulstruktur!“ Und meine Kollegin Christina Felfe ergänzte mit vielen interessanten Informationen zur Kinderbetreuung in der Schweiz.

Hier die wissenschaftliche Literatur und weitere Hintergrundliteratur geordnet nach Themen:
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Die (vielleicht nicht so) böse Steuererklärung

Monika Bütler

Die GLP fordert, dass auch Schweizer und Schweizerinnen in den Genuss der Quellensteuer kommen sollten.(Nachtrag: Die Einführung der Quellensteuer wird im Juni 2015 auch im Kanton Basel-Stadt diskutiert). Grund des Vorschlags: Das Ausfüllen der Steuererklärung ist mühsam (ja!) und ist vor allem für Personen mit kleineren Einkommen unverhältnismässig. Das ist wohl so.

Die GLP hat sich in liberaler Manier dafür ausgesprochen, dass die Arbeitnehmer(innen) selber wählen dürfen, ob sie Quellen-besteuert werden wollen oder die Steuererklärung nach konventioneller Manier ausfüllen möchten.

Mein Bauchweh mit dem Vorschlag: Die empirische Forschung zeigt in überwältigender Weise, dass die Sichtbarkeit der Steuern („Salience“) einen Enfluss auf die Höhe des Steuersatzes hat. Einen negativen. Je sichtbarer („salient“) die Steuer, desto grösser der politische Druck, den Steuersatz tief zu halten. Denn leider sind die meisten Menschen nicht ganz rational. Wir tendieren dazu die Steuern zu unterschätzen, wenn wir sie nicht direkt bezahlen müssen.

Einige Beispiele:

a) Die Konsumsteuer: Das Verhalten der Konsumenten unterscheidet sich, je nachdem ob die Konsumsteuer im Preis inbegriffen ist oder nicht. Das Papier enthält im übrigen noch weitere hochinteressante Beispiele sowie eine Theorie der Sichtbarkeit von Steuern.

b) Strassengebühren: Werden die Gebühren elektronisch erhoben – das heisst so, dass sie die Autofahrer nicht jedes mal direkt sehen können, wenn sie eine Bezahlstation passieren – liegen die Gebühren um etwa 20-40% höher im Vergleich zu einer manuellen Bezahlung.

c) Ein besonders spannendes Beispiel ist die US amerikanische property tax (eine Art Grundsteuer, die sich am Wert des Grunstücks/Immobilie misst und die auf Gemeindeebene erhoben wird): Als sichtbarste Steuer wird sich am vehementesten bekämpft. Die Autorinnen erwähnen sogar Steuerrevolten. Dies obwohl die meisten Amerikaner viel viel mehr Einkommenssteuern als property tax bezahlen.

Nun kann man natürlich argumentieren, dass der Vorschlag auf Freiwilligkeit basiert. Doch auch hier gibt es einen Haken: Bei freier Wahl der Art der Steuererklärung dürfte die administrative Belastung für Steuerämter und vor allem für die Arbeitgeber eher steigen als sinken. Die Gefahr besteht, dass die Freiwilligkeit nur der erste Schritt zu einer obligatorischen Quellensteuer ist. Ganz verschwinden wird die Steuererklärung allerdings nie, weil familiäre Verhältnisse und Sonderabzüge (sei es nur für karitative Spenden) mit der Quellensteuer nicht abgebildet werden können.

Es gibt noch einen weiteren Grund gegen die (obligatorische oder freiwillige) Quellensteuer: Die Steuergerechtigkeit. Die Quellensteuer bevorzugt wieder einmal die Schlaueren und Informierteren, die wissen, unter welchen Umständen sich (trotz Quellensteuer) ein Ausfüllen einer Steuererklärung lohnt. Die Daten aus den USA zeigen, dass gerade die weniger gut gebildeten und fremdsprachigen sich scheuen, eine Steuererklärung auszufüllen, auch wenn sie mit Rückzahlungen rechnen dürften. Insofern lohnen sich vielleicht sogar die geringen Investitionen ins Steuererklärungsausfüllen in der Jugend in der Schweiz.

Fazit: Ein geringerer Druck, die Steuern tief zu halten, müsste eigentlich die Linke freuen (und nicht die GLP). Die administrativen Vereinfachungen für den einzelnen sind klein, für die Steueradministration und die Arbeitgeber dürfte es nicht einfacher werden. Und zu guter letzt hilft ein bischen Steuerformularfitness auch der Steuergerechtigkeit. Gescheiter wäre es im übrigen, die Steuererklärung für alle zu vereinfachen.

PS: Ich habe 4 Jahre lang Steuern in den Niederlanden bezahlt, Quellensteuern. Da ich damals Öffentliche Finanzen unterrichtete, füllte ich sozusagen im Selbstversuch dennoch die Steuererklärung aus. Und habe jedes Jahr einen stolzen Betrag zruück erhalten, obwohl ich als Single und nahe bei der Uni wohnend kaum Abzüge machen konnte.

Pauschalsteuer: Neues aus dem Baselbiet

Marius Brülhart

Irgendwann in den nächsten zwei Jahren werden wir über die landesweite Abschaffung der Pauschalsteuer abstimmen. Dabei geht es, wie die Botschaft des Bundesrates trefflich festhält, um eine Güterabwägung im „Spannungsfeld zwischen Standortattraktivität und Steuergerechtigkeit“.

Dass die Steuergerechtigkeit mit der Pauschalsteuer verletzt wird, anerkennt auch der Bundesrat. Ausländern werden gegenüber gleich reichen Schweizern Steuerprivilegien offeriert. Das läuft der horizontalen Steuergerechtigkeit („gleiche Behandlung Gleicher“) zuwider. Und reiche Ausländer kommen dank der Pauschalbesteuerung in den Genuss von tieferen Steuersätzen als weniger reiche, nicht pauschalbesteuerte Personen. Somit wird auch der vertikalen Steuergerechtigkeit (progressive Steuerbelastung) nicht entsprochen.

Angesichts der ethischen, steuersystematischen und möglicherweise aussenpolitischen Makel der Pauschalbesteuerung wird das rein ökonomische Kalkül matchentscheidend. Lohnt sich dieses System für uns, in harten Franken und Rappen ausgedrückt, derart, dass wir seine etwas abstrakteren Schönheitsfehler in Kauf zu nehmen bereit sind?

In der ökonomischen Betrachtung kommt den Steuereinnahmen zentrale Bedeutung zu. Es geht darum, ob und in welchem Ausmass diese bei einer Abschaffung der Pauschalsteuer sinken würden. Niemand wird bestreiten, dass viele der knapp 6’000 Pauschalbesteuerten dank dem Steuerprivileg in die Schweiz gezogen sind. Ebenso unbestritten ist, dass gewisse Pauschalbesteuerte auch ohne fiskalische Vorzugsbehandlung hier wohnen würden, und die Aufwandbesteuerung quasi als ungefragtes Geschenk dankend annehmen (der Ökonom spricht von Mitnahmeeffekten). Je höher der Anteil ersterer Steuerzahler, d.h. jener, die ohne Pauschalsteuer nicht in der Schweiz wohnen würden, desto höher die Steuerausfälle nach einer allfälligen Abschaffung.

Die Erfahrung des Kantons Zürich deutet darauf hin, dass die Pauschalbesteuerten gar nicht so mobil sind wie oft angenommen. Die Abschaffung der Pauschalsteuer war aus Sicht der Zürcher Steuereinnahmen in etwa neutral, denn die zusätzlichen Einnahmen auf verbliebene ehemals Pauschalbesteuerten machten die wegzugbedingten Steuerausfälle ziemlich genau wett.

Nun haben wir auch erste Angaben zum Kanton Baselland, wo die Pauschalbesteuerung seit Anfang dieses Jahres nicht mehr gilt. Die Fallzahlen sind so klein, dass man sich vor Verallgemeinerungen hüten muss. Von 16 ehemals Pauschalbesteuerten sind bisher 8 ins Ausland oder in einen anderen Kanton weggezogen. Wie sich das auf die kantonalen Steuereinnahmen auswirkt, wird man erst im Frühjahr 2014 wissen. Aber bereits jetzt kann man festhalten, dass es erstaunlich ist, dass offenbar ein geraumer Anteil der betroffenen Personen dem Baselbiet die Stange hält. Baselland ist nämlich umgeben von Kantonen mit tieferer Steuerbelastung (plus intakter Pauschalbesteuerung!). Zudem hat Baselland im Einkommensbereich zwischen 500’000 und 1 Million Franken die vierthöchste Grenzsteuerbelastung der Schweiz (s. hier, Seite 16), und auch die Vermögenssteuersätze sind relativ hoch (Seite 51).

Falls also sogar im Kanton Baselland, mit seinen nahe gelegenen steuerlich attraktiveren Alternativdestinationen, ein Drittel bis die Hälfte der Ex-Pauschalbesteuerten nicht wegzieht, dann ist es schwer vorstellbar, dass im Falle eine landesweiten Abschaffung mehr als die Hälfte der Pauschalbesteuerten abwandern würde. Aber die Abschaffung der Pauschalsteuer führt gemäss meiner groben Schätzung erst bei einer Abwanderungsrate von über 50% zu Netto-Steuerausfällen.

Die Baselbieter Zahlen liefern somit einen weiteren kleinen Hinweis darauf, dass die Pauschalsteuer nicht das Bombengeschäft ist, für welches sie oft gehalten wird.

Gaat oi nüüt aa

Monika Bütler

Mit etwas Verspätung hier meine letzte NZZ am Sonntag Kolumne, publiziert am 14. Juli 2013 unter dem Titel: „Die Privatsache der andern geht uns nichts an: Es geht uns allen am besten, wenn wir uns nicht gegenseitig unsere Freiheit beschneiden.“

Unser Jüngster, durchaus kommunikativ und umgänglich, wird einsilbig wenn er uns etwas über die Schule erzählen soll: „Das gaat oi nüüt aa!“, heisst es dann. Lange vor Edward Snowdens Enthüllungen verbat er sich jede Form von Überwachung. Wer seinen Schulthek auch nur von weitem ansieht, kriegt Ärger. Erzählt er sporadisch doch etwas, dann eher über eine zweckentfremdete Schere im Werken (zum gegenseitig Haare schneiden) als über den Mathetest.

Solange Reklamationen der Schule ausbleiben und seine Noten ungefähr seinem Potential entsprechen, lassen wir unseren Junior in Ruhe. Leistungsauftrag heisst das heute. Dass er dieselbe Informationspolitik – geht Euch nichts an – auch in seinen Aufsätzen zum Thema „Mein Wochenende“ verfolgt, geht uns dann nichts mehr an.

Des Buben Sinn für Nichteinmischung mag etwas ausgeprägt sein, er ist uns aber allen angeboren. Jugendliche wehren sich für mehr Freiräume, gegen die Bevormundung der Eltern, die Einmischung und Überwachung durch Schule und Staat. Sogar die Ökonomen – sonst über vieles uneinig – sind für einmal einer Meinung: Es geht uns allen am besten, wenn der Staat sich nur dann einmischt, wenn dritte – Kinder, die Umwelt, die Steuerzahler – sonst wehrlos zu Schaden kommen. Vorschriften, die in private Abmachungen eingreifen sind im besten Fall unnütz, meistens schädlich und immer teuer.

Schade nur, dass uns dieser Freiheitssinn so schnell abhanden kommt wenn es um andere geht. Die Freiheit der andern ist zwar OK, nur nicht grad im konkreten Fall – bei der Höhe der Fenstersims, in der Buchhaltung der Firma, bei der Zulassung des Kinderbetreuers. Über Politiker und Bürokraten zu schimpfen, greift allerdings zu kurz. Die Vorschläge zur Beschränkung der Löhne, zum Beispiel die 1:12-Initiative, stammen aus der Basis. Genau genommen aus Kreisen, die Freiraum für sich selber lautstark fordern. „Binz bleibt!“ hiess es bis vor kurzem in unserer Nachbarschaft. Den Unternehmen wird ihre legale Binz jedoch aberkannt obwohl wir alle davon profitieren. So ärgerlich sie sind, überrissene Löhne sind Privatsache, solange sie nicht über Steuern teilweise mitfinanziert werden. Beispielsweise in Firmen und Branchen, die direkt oder indirekt vom Staat unterstützt werden. Man wünschte sich, die Jusos würden mit derselben Verve für eine bessere (Finanzmarkt-)Regulierung kämpfen. Eine, die wirklich verhindert, dass sich eine Minderheit auf Kosten der Allgemeinheit Vorteile verschafft.

Die Freiheit der andern ist immer ein Problem. So verschwindet scheibchenweise die Freiheit aller. Widerstand gegen Eingriffe in private Entscheidungen regt sich nicht einmal mehr, wenn eine vorgeschlagene Massnahme direkt fast jeden trifft und niemandem wirklich nützt. So ist die von Bundesrat Berset vorgeschlagene Erhöhung des Mindestrentenalters im BVG von 58 auf 62 Jahre eine starke Einmischung in eine im Grunde rein private Abmachung zwischen Firma/Pensionskasse und den Angestellten. Verliert eine 59-jährige ihre Arbeit, wird sie nur schwer eine neue Stelle finden. Statt der Person einen grösstenteils selbstfinanzierten Rücktritt in Würde zu ermöglichen, generiert die Vorschrift eine individuelle Tragödie, verbunden mit sehr viel höheren Kosten für die Allgemeinheit. Ohne die Möglichkeit zur Frühpensionierung bleiben der Entlassenen nur die IV (wenn sie Glück hat) oder – unter Verlust eines Teils der Versicherungsleistung – ALV und später Sozialhilfe.

Viele Eingriffe in private Entscheidungen mögen für sich alleine genommen klein sein. Zusammen sind sie nicht mehr harmlos. Und mit jeder neuen Einschränkung wächst gerade bei Firmen die Angst, dass in der Zukunft noch mehr kommt. Umso erstaunlicher, wie leichtfertig wir anderen und letztlich gemeinsam uns selber den Ast der Freiheit absägen. Hätten wir doch öfter den Mut wie unser Bengel zu sagen: Das gaat oi nüüt aa!