Wer beerbt den Libor?

Urs Birchler

Letzten Mittwoch sollte ich in 10v10 über den Libor sprechen. Ich entschloss mich, den Libor der Anschaulichkeit halber als Mass für den Pegelstand der Geldversorgung zu umschreiben. Kurz vor der Sendung wurde ich ausgeladen: Der Pegelstand der Aare hatte ein kritisches Mass erreicht …

Wie kann man den (über Jahre von den Banken manipulierten) Libor ersetzen? Diese Frage wird mir in diesen Tagen häufig gestellt (zum Beispiel von, hat-tip, Olivia Kühni). Die Antwort ist nicht ganz einfach. Den Pegelstand am Geldmarkt zu messen ist zwar im Vergleich zum Pegelstand von Flüssen ein Kinderspiel (siehe BAFU und Wikipedia.) Gleichwohl ist der Libor nicht so einfach zu ersetzen.

Als Voll-Ersatz bräuchte es einen Referenzsatz, der ebenfalls für ein Dutzend Währungen und ebensoviele Laufzeiten existiert.
Ein idealer Satz müsste verschiedenen Kriterien genügen:

  • Robustheit gegenüber Manipulationen (von Marktteilnehmern, aber auch von Behörden),
  • genügende Markttiefe,
  • tiefe Volatilität (im Sinne von Zufallsschwankungen),
  • Freiheit von Risikoprämien für Kreditrisiken (nur „beste“ Banken wie beim Libor; Pfandsicherung wie beim Saron),
  • Beobachtbarkeit von Zinsen und Volumina (bei Libor nur teilweise erfüllt),
  • Transparenz der Berechnungsmethode.

Naheliegende Alternative für den Bereich Schweizer Franken wären die Swiss Reference Rates der SNB. Diese beruhen auf Transaktionen an der SIX. SIX offeriert ein gutes Factsheet.

Der liquideste Markt ist jener für Ein-Tages-Geld (SARON; -ON steht für overnight); Tagesgeldsätze sind aber sehr volatil und eignen sich nur bedingt als Referenzsätze z.B. für Hypotheken. Direkter Konkurrent des Libor wäre der 3-Monats-Satz (SAR3M) (auf dessen Libor-Schwester die Geldpolitik der SNB und die Libor-Hypotheken der Banken basieren). Dieser schneidet nach den obengenannten Kriterien unterschiedlich ab:

  • Dank Pfandsicherung sind die Sätze frei von Risikoprämien.
  • Die täglichen Volumina liegen zwischen null und CHF 14 Mrd (Durchschnitt seit Juni 1999: 1.4 Mrd.).
  • An manchen Tagen existiert kein Kurs (z.B. vom 28.6 bis 5.7.2012).
  • Die Tagesschwankungen der Preise sind beträchtlich.
  • seit April 2012 sind die Sätze oft negativ.
  • Die Berechnungsmethode ist transparent.
  • Die Robustheit von Tageswerten gegenüber strategischen Transaktionen von Banken scheint fraglich. Wenn bei einer Bank ein hohes SAR3M-Derivatvolumen fällig wird, kann sich bei dünnem Markt ein Verlustgeschäft im Grundkontrakt lohnen.
  • Sollte die SNB beim Ziel ihrer Geldpolitik vom Libor zum SAR3M wechseln (in der Nach-1.20-Ära), würden geldpolitische Entscheide 1:1 zu direkten Umverteilungen zwischen den Privatparteien, die SAR3M-basierte Verträge abgeschlossen haben. Hier liegt geldpolitisches Konfliktpotential.

Auch im Ausland dürfte keiner der in der Realität vorhandenen Sätze alle Kriterien erfüllen. Die Suche nach einem Libor-Nachfolger dürfte einige Zeit in Anspruch nehmen. Einstweilen werden Vertragsparteien gut überlegen, auf welchen Satz sie abstellen wollen. Im Darwinistischen Wettbewerb wird es vielleicht irgendwann einen Sieger geben. Dies kann auch der (geläuterte) Libor sein; als Grundlage zahlloser Geschäfte wird er ohnehin noch auf weiteres existieren.

Ökonomenstreit: Beispiel Target 2

Urs Birchler

Zahlungssysteme gelten nicht als die spannendste Materie innerhalb des Finanzwesens. Folgende Episode könnte dies widerlegen. Das Beispiel des EU-Zahlungssystem für internationale Grosszahlungen Target-2 zeigt nämlich, wie die EU Bankenrettung durch die Hintertür betreibt. Zudem war Target-2 bereits Gegenstand eines kleinen Ökonomenstreits, ausgelöst von — Hans-Werner Sinn.

Hans-Werner Sinn und Timo Wollmershäuser gruben in einem Ifo-Arbeitspapier einen dicken Hund aus. Sie wiesen darauf hin, dass die GIPS-Staaten massiv steigende Schulden innerhalb von Target-2 aufweisen, während sich bei Deutschland die Guthaben anhäufen auf mittlerweile rund 700 Mrd. Euro (siehe Grafik aus Wikipedia). Der Fehlbetrag der GIPS-Staaten entsprach Ende 2011 mit rund 500 Mrd. Euro ziemlich genau dem akkumulierten Ertragsbilanzdefizit dieser seit 2007, dem Jahr der Finanzkrise. Die Autoren zogen den Schluss, dass hier eine GIPS-Finanzierung durch die Hintertür stattfinde.


Der Bund Deutscher Steuerzahler in Bayer e.V. richtete daraufhin einen offenen Brief an die Deutsche Bundesbank und beteiligte sich, als dieser nichts fruchtete, and einer Klage gegen die Deutsche Bundesbank.

Alles verkehrt! monierten jetzt Kritiker wie Sebastien Dullien und Mark Schieritz. In einem Beitrag zu voxeu argumentieren sie: Target-2 ist kein Diebstahl am deutschen Steuerzahler, sondern vielmehr dessen Schutz. Wie ist das zu verstehen?

Angenommen eine deutsche Bank hat Geld an eine spanische Bank ausgeliehen. Nun traut sie dieser nicht mehr und zieht ihr Geld zurück und legt es einstweilen bei der Deutschen Bundesbank an. Die spanische Bank muss sich aber irgendwo refinanzieren und borgt in ihrer Not bei ihrer Zentralbank, dem Banco de España. Diese holt das Geld bei der BuBa — via Target-2. Damit ist alles wie am Anfang, ausser dass sich die beiden Notenbanken in die Kreditkette eingeschoben haben. Die Sparer, die ihr Geld bei der deutschen Bank haben, sind jetzt sicher.

Der Vorwurf, Deutschland habe damit Spanien geholfen, träfe daher nicht genau zu. Genau genommen haben nicht die Deutschen den Spaniern, sondern die Notenbanken (indirekt die Steuerzahler) den Geschäftsbanken geholfen. Sie nehmen das Kreditrisiko auf sich, das der Markt (die deutsche Gläubigerbank) nicht mehr tragen wollte. Es handelt sich weniger um ein Zahlungsbilanzproblem als um ein TBTF-Problem. Dass die Möglichkeit, im Notfall auf Staatsgarantie umzustellen Spareinlagen bei maroden Banken und die Kreditgewährung an gefährdete Länder fördert, gibt Sinn und Wollmershäuser dann doch ein Stück weit recht. Auf jeden Fall haben sie den Finger auf einen wunden Punkt gelegt.

Wie wund der Punkt ist, zeigen Aaron Tornell und Frank Westermann in einem anderen voxeu-Artikel darauf hin, dass die Kreditgewährung innerhalb von Target-2 bald an eine Grenze stösst, da der Bundesbank die Munition auszugehen droht. Dann steht die EZB vor dem Charaktertest.

Ökonomenstreit: Wer hat recht?

Urs Birchler und Monika Bütler

Zunächst natürlich beide — das heisst: Sowohl die 170 Professoren um Hans-Werner Sinn als auch die 15 Unterzeichner um Jan Krahnen und Martin Hellwig. Beide Gruppen sehen die Gefahren einer europäischen Bankenunion in voller Schärfe. Der Unterschied liegt im Vertrauen in die Wirksamkeit von Vereinbarungen, welche verhindern sollen, dass die Bankenunion zur reinen Bankensubvention wird.

Hier stehen wir (wie im TA-Online ausgeführt) auf der Seite der Pessimisten (Sinn & Co.). Die EU hat wiederholt bewiesen: Erst fliesst das Geld; die dabei vereinbarten Regeln sind nicht das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt sind. Genau wie dann am Ende das Geld.

Europäische Bankenunion — leere Taschen, leere Worte

Urs Birchler

Die gegenwärtig populäre Idee einer „Europäischen Bankenunion“ beinhaltet auch eine europaweite Einlagenversicherung mit einem Fonds, der Schadenfälle abdecken soll. Sie baut zum Teil auf die bestehende EU-Richtlinie zur Einlagensicherung. Eine wohlwollende Darstellung und Analyse findet sich in einem CEPS-Paper von Dirk Schoenmaker und Daniel Gros. Die Autoren schätzen, dass für die 35 grössten Banken ein Fonds von 55 Mrd. Euro ausreicht, um 1,5 Prozent der versicherten Einlagen abzudecken.

Die Idee des gemeinsamen Versicherungsfonds wirkt auf den ersten Blick bestechend, hat aber ein paar gravierende Probleme:

  • Erstens sollte man eine Versicherung einführen, bevor der Schaden eingetreten ist. Zur Lösung der gegenwärtigen europäischen Bankenprobleme kommt die gemeinsame Versicherung zu spät.
  • Zweitens ist ein gemeinsamer Versicherungsfonds nur ein anderer Name für zentralisierte Eigenmittel. Die Eigenmittel werden nicht bei der einzelnen Bank gehalten, sondern in der gemeinsamen Kasse. Ein Pooling unabhängiger Risiken wäre vom Versicherungsgedanken her auf den ersten Blick plausibel. Nur handelt es sich nicht um unabhängige Risiken (gerade im Bankensektor kommt ein Unglück selten allein). Noch schlimmer: die schlechtesten Banken holen den Jackpot ab, die guten sind die Geprellten.
  • Drittens reicht eine Deckung von 1,5 Prozent der versicherten Einlagen nicht aus. Zwar arbeitet die US-amerikanische Einlagenversicherung (FDIC) mit ähnlichen Werten (1,35 Prozent), muss aber nach Krisen immer wieder ex post Beiträge erheben. Zudem ist die FDIC nur vertrauenswürdig, weil sie über Staatsgrantie verfügt. Schoenmaker und Gros weisen denn auch darauf hin, dass die europäische Einlagenversicherung nur funktioniert, solange die Staatshaushalte im Lot sind. Dies ist auf absehbare Zeit kaum der Fall. Auch die bestehenden nationalen Systeme, die gemäss Erläuterungsbericht zur EU-Direktive ebenfalls mit Deckungen von gut 1 Prozent arbeiten, wandern auf dünnem Eis. (Die absolut notwendige Absicherung der Einlagenversicherung via Konkursprivileg der versicherten Einlagen verwendet die EU nicht, im Gegensatz zur Schweiz, den USA, Australien und anderen Ländern, darunter EU-Beitrittskandidat Montenegro. Das Konzept wird im Bericht über die Regulierungsfolgen der Direktive lediglich kurz erwähnt.)

Fazit: Einmal mehr greift die EU unter dem Druck der Krise zu einem unausgegorenen Konzept, das auf Scheinlösungen beruht (Stopfen vorhandener Löcher mit Geldern Dritter) und die Probleme langfristig eher verschärft (Verleitung der Marktteilnehmer zu moral hazard).

Ein früher Pfiff des Bademeisters

Monika Bütler

„Aufgrund der für die Regulierung massgeblichen risikogewichteten Eigenmittelquote (Verhältnis zwischen Eigenmitteln und risikogewichteten
Positionen) liegen sie (MB: die Grossbanken) im internationalen Vergleich allerdings weiterhin auf den vorderen Rängen. Wird dagegen die ungewichtete Eigenmittelquote (Verhältnis zwischen Eigenmitteln und Bilanzsumme) als Massstab herangezogen, ist die Eigenmittelausstattung der Grossbanken im internationalen Vergleich nach wie vor niedrig.“

Der Satz stammt aus dem Bericht zur Finanzstabilität (Financial Stability Report) der SNB von – Juni 2006 (mit Daten bis 2005!).

Euro-Bills

Urs Birchler

Wie die Presse meldet, prüft die EU die Ausgabe von Euro-Bills (anstatt Euro-Bonds). Dazu habe ich ein Grundlagenpapier von Wim Boonstra, dem Chefökonomen der holländischen Rabobank, erhalten. Das Papier macht unter anderem eines klar: Ob man für oder gegen Eurobills (oder bonds) ist, hängt davon ab was man als Alternative sieht:

  • Wer glaubt, ohne Eurobills fänden die verschuldeten Länder den Weg zur Budgetdisziplin, ohne dass eine wirtschaftliche Katastrophe eintritt, ist dagegen.
  • Wer glaubt, Disziplin hin oder her bestehe die einzige realistische Alternative in einer Übernahme der Schulden durch die EZB, ist für die Eurobonds.

Haben CS und UBS genügend Eigenmittel?

Urs Birchler

Die Meinungsverschiedenheit zwischen SNB und den Grossbanken ist dem breiteren Publikum der Steuerzahler — um deren Geld geht es nämlich — nicht ganz einfach zu vermitteln. Versucht sei es wenigstens.

Genügend Eigenmittel ist immer Eigenmitel pro irgendwas. Im einfachsten Fall pro Bilanzsumme einer Bank. Das ist wie beim Hauseigentümer: Die Bank verlangt, dass er das Haus nur zu 80% mit Schulden belastet und 20% des Immobilienwertes selber, aus dem eigenen Sack, berappt.

Im anspruchsvolleren Fall bezieht man die Eigenmittel auf die sogenannten risikogewichteten Anlagen der Bank (die RWA, für risk weighted assets). Das wäre, wie wenn die Bank vom Hauseigentümer Eigenmittel verlangte in der Höhe von (beispielsweise): 10% des Grundstückwerts (da dieser risikoarm ist), 30 Prozent des Wohnzimmers, 50% des Kellers (da feuchtigkeitsgefährdet) und 120% der (potentiell explosiven) Gasheizung.

Welcher Ansatz ist der richtige: die Pauschallösung pro Bilanzsumme (Leverage Ratio) oder die (einzel-)risikogerechte Lösung (auf Basis der RWA unter Basel II und III)? Grundsätzlich wäre der risikogerechte Ansatz wohl der richtige — liessen sich die Risiken einer Bank denn hinreichend genau messen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zum einen ist die Messung (und die Aggregation) der Risiken schon konzeptionell schwierig. Zum andern versuchen die Banken auch, den gemessenen Risiken auszuweichen. Mit den gemessenen Risiken verschwinden aber nicht unbedingt die effektiven Risiken. Der Hauseigentümer, der auf die Gasheizung verzichtet, braucht — in unserem Beispiel — weniger Eigenmitteln. Was aber, wenn er insgeheim mit Propangas aus der Flasche kocht? Dann hat er das Risiko in den eigenmittelfreien Bereich verschoben.

Ein Arbeitspapier des IMF zeigt sehr sorgfältig, dass die risikogewichteten Assets (RWA) ein unzuverlässiges Mass der Risiken einer Bank sind. Die Autorinnen legen auch dar, dass es grosse Unterschiede zwischen Banken, vor allem auch zwischen Banken aus verschiedenen Weltregionen gibt.

Am deutlichsten zeigt sich die Unzulänglichkeit der Risikogewichtung gegenwärtig in der Behandlung von Staatsanleihen. Diese werden in den meisten Ländern mit niedrigen Risikogewichten, wenn nicht mit null, gezählt. Die Grafik (ursprüngliche Quelle: Standard&Poor’s und Bloomberg) zeigt, dass Guthaben gegenüber Staaten nur für 1% der Eigenmttelerfordernisse der international tätigen Banken verantwortlich sind. Bei einer solchen Rechnung fehlen schnell einmal ein paar Prozentpunkte an Eigenmitteln, wenn sich eine Krise verschärft. Drum leuchtete wohl bei der SNB das Alarmsignal auf. Genauso schöpft ein Bankier Argwohn, wenn der Hauskäufer behauptet, er brauche dank auschliesslich krisenfester Bauweise und Ausstattung zu seiner Hypothek nur 1,7% Eigenmittel.

Bezogen auf die risikogewichteten Aktiven gehören die Schweizer Grossbanken zu den besser kapitalisierten der Welt. Bezogen auf die Bilanzsumme sind sie jedoch im Tanga unterwegs. Kein Wunder hat der Bademeister gepfiffen.

Kapital oder Aufspaltung?

Urs Birchler und Inke Nyborg

Die Äusserungen der SNB, wonach die Schweizer Grossbanken dringend ihre Kapitalbasis stärken sollen, hat hohe Wellen geworfen. Dabei geriet in den Hintergrund, dass es die Britische Regierung noch viel böser im Sinn hat. Gestern nachmittag legte sie an einer Pressekonferenz ein White Paper zur Trennung von Retail Banking und Investment Banking vor. Konsulation bis 6. September 2012. Parlament 2015. Implementierung 2019.

Finanzsekretär Mark Hoban brachte das Problem im Begleitkommentar auf den Punkt:

  • Banking groups became too complex and interconnected to be managed effectively.
  • Regulators failed to identify the risks.
  • And taxpayers paid the price. Between October 2008 and December 2010 European taxpayers provided almost €300bn to prop up their banks, with liquidity and lending support in the trillions.

Den zweiten Punkt wird die FINMA lesen, bevor sie sich über das Vorprellen der SNB wundert. Und die Schweizer Grossbanken kommen mit einer Kapitalerhöhung noch glimpflich davon.

Banking for Dummies

Aleksander Berentsen

Die Lage in den europäischen Finanzmärkten hat sich jüngst merklich entspannt. Seit Beginn des Jahres haben die europäischen Finanzinstitute ihren Börsenwert um rund einen Viertel gesteigert. Zudem sind die Zinsen auf Anleihen vieler europäischer Problemländer deutlich gesunken.

Dieser Börsenfrühling ist der Europäischen Zentralbank (EZB) zu verdanken. Seit Dezember 2011 stellt die EZB den europäischen Banken unbegrenzt Liquidität zu einem Discountpreis von 1 Prozent zur Verfügung. Das Programm nennt sich „Long-Term Refinancing Operation“ (LTRO). Damit bezeichnet die EZB Gelder, die sich die europäischen Geschäftsbanken für drei Jahre ausleihen können. Bis vor kurzem waren solche Operationen nicht möglich, da die EZB nur kurzfristige Kredite bis maximal 3 Monate vergeben hatte.

Mit dem LTRO-Programm schlägt die EZB zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie stabilisiert das europäische Bankensystem und die Geldschwemme reduziert den Druck in den Anleihemärkten der europäischen Problemkinder.

Indem die EZB den Banken unbeschränkt Geld zum Discountpreis zur Verfügung stellt, stellt sie sicher, dass das Bankensystem in den nächsten Jahren hoch profitabel sein wird. Mit den Gewinnen können die Banken ihr Eigenkapital stärken und so den neuen verschärften Eigenkapitalanforderungen genügen.

Der von der EZB vorgeschlagene Banken-Business-Plan ist denkbar einfach. Er wurde von Mark Dittli, Chefredaktor der „Finanz und Wirtschaft“ im „Never Mind the Markets“-Blog am 10.02.2012 durch folgendes Beispiel treffend beschrieben: „Sie sind der Direktor einer italienischen Grossbank. Sie erhalten von Ihrer Zentralbank Geld für drei Jahre zu einem Zinssatz von 1 Prozent. Gleichzeitig rentieren dreijährige Anleihen ihres Heimatstaates mehr als 6 Prozent. Man braucht kein Genie zu sein, um in dieser Zinsdifferenz eine Einladung zu einem nahezu risikofreien Geschäft zu sehen. Ich borge mir eine Milliarde von der EZB zu 1 Prozent, kaufe damit italienische Staatsanleihen zu 6 Prozent und streiche fünfzig Millionen Euro Gewinn ein.“

Die Einfachheit dieses Banken-Business-Plans bezeichne ich als “Banking for Dummies.“ Diese Einfachheit ist zwingend notwendig, da die leidvollen Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt haben, dass nicht wenige Banker sonst überfordert sind. So richtig interessant wird es aber erst in ein bis zwei Jahren. Dann dürfte die Bonus-Diskussion wieder entfachen. Aufgrund der hohen Profitabilität der Banken werden die Boni dann wieder üppig ausfallen – wie zu den besten Zeiten vor der Finanzkrise. Die Rechtfertigung wird darauf hinauslaufen, dass der Wettbewerb um die besten Talente die Banker zwinge, Millionen in eigene Tasche zu stecken und nicht ins Eigenkapital.

Wie anfänglich erwähnt hat die EZB mit ihrem Programm auch die Preise von europäischen Staatsanleihen im Visier. Dazu muss man wissen, dass die EZB nach eigenem Statut keine Staatsanleihen aufkaufen darf. Sie hat es aber in der Vergangenheit natürlich trotzdem gemacht, wenn auch mit angezogener Handbremse. Die Idee des LTRO ist, dass die Europäischen Banken dies für die EZB erledigen. Das heisst, das frische Geld soll über die Banken in Staatsanleihen fliessen. Vorzugsweise natürlich in diejenigen der Problemkinder Italien, Portugal und Spanien – was auch tatsächlich bereits stattgefunden hat.

Für viele Beobachter ist klar, dass die EZB angesichts des drohenden Kollapses des europäischen Finanzsystems etwas unternehmen musste. Das LTRO-Programm hat kurzfristig auch erstaunlich gut funktioniert. Trotz des grossen Erfolgs bleibt aber ein mulmiges Gefühl. Die Grundfrage bleibt, wie verhindert werden kann, dass der Finanzsektor alle paar Jahre durch den Staat mit ungewöhnlichen geldpolitischen Massnahmen oder mittels versteckter Subventionen gerettet werden muss.

Ich möchte hierzu eine kurze Idee skizzieren. Sparen ist ein fundamentales menschliches Bedürfnis, ähnlich wichtig wie Rechtssicherheit oder Zugang zu sauberem Wasser. Solche elementaren Bedürfnisse werden oft sehr erfolgreich an den Staat delegiert. Es bietet sich an, dass auch einige elementare Funktionen des Finanzsektors von öffentlicher Hand zur Verfügung gestellt werden werden. Ich denke hier an einfachste Spar-, Zahlungs- und eventuell sogar simple Kreditprodukte. Eine solche Grundversorgung wäre für die meisten Leute ausreichend. Braucht eine Person oder eine Firma höher entwickelte Produkte, kann sie sich an den Privatsektor wenden.

Der Vorteil eines derartigen Konstrukts liegt auf der Hand: Elementaren Finanzbedürfnisse können auch dann weiter bedient werden, wenn die nächste Finanzkrise ins Haus steht. Zudem könnten man auch getrost marode Banken Konkurs gehen lassen, da deren Untergang nun nicht mehr die ganze Wirtschaft zum Stillstand brächte. Nach dem eklatanten Staatsversagen der griechischen Politik scheint es angebracht, diese einfache Finanzprodukte durch eine von der Politik unabhängigen Institution wie der Zentralbank anzubieten. Falls Ihre erste Reaktion auf diesen Vorschlag ist: Oh Schreck Staatsbank (!), darf ich Sie sogleich beruhigen. Das heutige Finanzsystem ist ohnehin nicht weit entfernt vom real existierenden Sozialismus: In guten Zeiten füllt sich eine kleine Elite die Taschen, in schlechten Zeiten wird der Steuerzahler zur Kasse gebeten.

[Der Artikel erschien am 27.3.2012 in der BaZ; wir drucken ihn hier mit Genehmigung des Autors.]

Liquidation von Lehman Brothers Finance: Was wird hier gespielt?

Urs Birchler

Seit einiger Zeit werde ich immer wieder konfrontiert mit Vorwürfen gegenüber der Schweiz, bzw. der FINMA: Es gehe bei der Liquidation von Lehman Brothers Finance SA, dem Schweizer Ableger des im September 2008 gescheiterten Konzerns Lehman Brothers, einfach nicht vorwärts. In allen Ländern komme die Liquidation voran, nur in der Schweiz würde Vorschläge zur Einigung systematisch abgelehnt. Inke Nyborg hat dazu bei Dow Jones einen (leider passwortgeschützten) Artikel vom 2. März 2012 gefunden, der über eine Gerichtsverhandlung in New York berichtet. Richter Peck habe an die Adresse der Liquidatorin PricewaterhouseCoopers (PwC) beklagt, dass von allen 80 Niederlassungen allein die schweizerische in der Liquidation hinterherhinke.

Vorwürfe an die Behörden sind grundsätzlich ernst zu nehmen, zumal zu den Lehman-Geschädigten nicht nur professionelle Grossanleger zählen (die selber schuld sind), sondern auch viele Kleinanleger, die nicht einmal bewusst Gläubiger von Lehman ber. Doch was ist daran wahr?

Zunächst ist die Liquidation von Lehman Brothers eine verzwickte Angelegenheit. Die Struktur des Lehman-Konzerns war ausgerichtet auf steuerliche und regulatorische Arbitrage. Geschäfte wurden jeweils in jenes Land verschoben, wo sie am günstigsten waren. Innerhalb des Konzerns bestanden deshalb regelmässig grosse gegenseitige Guthaben und Verpflichtungen zwischen Konzernteilen. Dabei spielen Derivatbeziehungen eine wichtige Rolle. Über die Schweizer Niederlassung beispielsweise wuden Aktien- und Aktienindexderivate abgewickelt. Nicht bei allen Lehman-Derivatkonstrukten ist klar, was diese genau beinhalteten. Rechtsfälle dazu sind mindestens bei sechs Gerichten in drei Ländern hängig. Auch im neuesten Bericht des Konkursverwalters finden sich keine klaren Hinweise auf Unterschiede zwischen dem Schweizer Verfahren und den Schwesterverfahren in den USA, dem UK, Japan und Deutschland.

Es wäre grundsätzlich möglich, dass die Liquidatorin (PwC) und/oder die FINMA besonders gewissenhaft und daher langsam vorgehen. Vielleicht sogar zu Recht: Bei einer Liquidation zählt (anders als bei einer Sanierung) nicht in erster Linie die Geschwindigkeit, sondern die korrekte Behandlung aller Beteiligten. Drei Jahre — solang dauert die Liquidation bereits — sind ein kurze Zeitspanne in diesem Gewerbe: Die Liquidation der Spar+Leihkasse Thun nahm über zehn Jahre in Anspruch. Ferner hat die FINMA das Mandat, für die Gläubiger von Lehman Brothers Finance zu agiern, nicht für den Gesamtkonzern.

Doch — etwas macht mich stutzig. Ich bin von verschiedener Seite mit denselben offenkundig falschen Argumenten konfrontiert worden. Zuletzt an einer Veranstaltung in Zürich von Robert Shapiro, der sogar ein Beratungsmandat beim IWF ausübt. Shapiro argumentiert, wie andere Kritiker bereits vor ihm, mit der Attraktivität des Standortes Schweiz: Wenn die Liquidation einer gescheiterten Bank (bzw. Finanzgesellschaft) so lange dauert, kommen keine Banken mehr in unser Land. Das ist einfühlsam von einem amerikanischen Beobachter, hat aber weder Hand noch Fuss. Das Insolvenzrecht ist zwar tatsächlich ein Teil der Standortqualität. Wichtig ist aber vor allem das Sanierungsrecht; eine Bank muss im Insolvenzfall flott gehalten und notfallmässig rekapitalisiert werden können. Und genau in dieser Hinsicht ist das (revidierte) Schweizer Recht zwar nicht perfekt, aber international führend. Die schonungsvolle und schnelle Liquidation ist demgegenüber völlig nebensächlich als Standortfaktor. Keine Bank wählt ihren Standort im Hinblick auf ihre mögliche Konkursliquidation. Und die Schweiz betreibt sicher keinen Sterbetourismus für Banken.

Provisorisches Fazit: Wenn mir von verschiedener Seite dieselben fadenscheiningen Argumente vorgetragen werden, bin ich als geborener Skeptiker vorsichtig. Meine vorläufige Interpretation (auch als Warnung an die Medienvertreter): Hier versucht jemand, PwC und die FINMA unter Druck zu setzen, weil er auf dem ordentlichen Weg nicht zu seinem Geld kommt. Pro memoria: Die Gläubiger des Mutterhauses (darunter grosse Hedge-Funds und Turnaround-Manager) können mit einer Konkursdividende von 15% rechnen, während die Gläubiger der einzelnen Tächter auf über 50% kommen könnten.

Aber ich lasse mich gerne belehren.