Wirtschaftselixier Verrechnungssteuerreform?

Marius Brülhart

Am 25. September werden wir darüber abstimmen, ob die Verrechnungssteuer auf Obligationenzinsen abgeschafft werden soll.

Die Debatte dazu ist ein kleiner Leckerbissen für Steuer-Geeks. Dreh- und Angelpunkt dieser Diskussion ist eine unserer Lieblingsvariablen, die Elastizität des Steuersubstrats gegenüber dem Steuersatz. Oder, einfacher gesagt: die Steuerempfindlichkeit der betroffenen Wirtschaftstätigkeit.

Die Befürworter der Vorlage gehen von einer sehr hohen Steuerempfindlichkeit aus. Sie stellen in Aussicht, dass eine Abschaffung dieser Steuer den Fremdkapitalmarkt dermassen stark ankurbeln würde, dass die darauf erzielten Steuereinnahmen und Zinsersparnisse die verlorenen Verrechnungssteuereinnahmen mehr als wettmachen würden.

Könnte hier der Traum jedes Finanzministers in Erfüllung gehen: Man senkt die Steuern und stimuliert damit die Wirtschaft so stark, dass letztlich auch die Staatskasse profitiert?

Die Befürworter stützen ihre Argumentation auf zwei Dokumente.

Eines davon ist die vom Bund in Auftrag gegebene fast 100-seitige BAKStudie aus dem Jahr 2019. Darin wird eine leicht andere Reformvariante analysiert, aber die Abschaffung der Verrechnungssteuer auf Fremdkapital bildet auch dort das Herzstück. Das Hauptszenario der Studie attestiert der Reform eine so starke Impulswirkung auf das Schweizer Fremdkapitalgeschäft, dass die Steuereinnahmen nach 10 Jahren höher ausfallen würden als in einem Vergleichsszenario ohne die Reform.

Die Studie ist informativ und lesenswert, aber bei genauem Hinschauen erkennt man, dass ihr Kern auf einer intransparenten und offenbar dünnen Faktengrundlage basiert. Die Studienautoren verfügen nämlich über keinerlei quantitative Anhaltspunkte zu den erwarteten Impulswirkungen der Steuerreform. Stattdessen postulieren sie als Hauptszenario einen kumulierten Wachstumsimpuls von 1 BIP-Prozent binnen 10 Jahren; eine Zahl, die sie als «Einschätzung» bezeichnen, basierend auf «Expertengesprächen», «eigenen Überlegungen» und einer «qualitativen Einordnung» (S. 38/39). An diesem Wert von 1 BIP-Prozent hängen alle darauf folgenden Simulationsrechnungen des Hauptszenarios. Die Studienautoren zeigen offen auf, dass sich die Reform bei einer halb so grossen angenommenen Impulswirkung im Gegensatz zum Hauptszenario für die Staatskasse nicht einmal mittelfristig lohnen würde. So kann sich der Leser eigentlich das Resultat auswählen, das ihm gefällt.

Sind wir wirklich so ahnungslos bezüglich der Steuerempfindlichkeit des Schweizer Fremdkapitalmarkts? 

Hinweise liefern könnte eine ähnlich gelagerte Reform aus dem Jahr 2012. Damals wurde die Emissionsabgabe auf Obligationen im Rahmen der Too-Big-To-Fail-Reform abgeschafft. Die Bundesverwaltung prognostizierte Mindereinnahmen von 220 Millionen Franken – somit eine betragsmässig ähnlich starke Steuersenkung wie die aktuelle Vorlage. Und auch damals stellte der Bundesrat in Aussicht, dass die Massnahme den Schweizer Kapitalmarkt «zweifellos beleben» und somit «zusätzliche Gewinn- und Einkommenssteuereinnahmen» generieren würde (S. 4740 der Botschaft).

Die Grafik zeigt anhand von SNB-Daten auf, wie sich das Emissionsvolumen von Obligationen auf dem Schweizer Finanzplatz vor und nach dieser Steuererleichterung entwickelt hat. Von der in Aussicht gestellten Belebung ist in den Datenreihen nichts zu erkennen. Das nominelle Emissionsvolumen lag in den fünf Jahren nach der Steuerabschaffung gar 18% unter dem Emissionsvolumen der fünf vorhergehenden Jahre.

Eine solche Vorher-Nachher-Betrachtung ist allerdings nicht wissenschaftlich, denn es fehlt uns eine sinnvolle Vergleichsgruppe. Vielleicht wären die Emissionsvolumen nach 2012 ohne die Steuerabschaffung ja noch stärker eingebrochen. Aber die Hypothese, dass einschlägige Steuersenkungen massiv Emissionstätigkeiten in die Schweiz locken, ist damit nicht eben bestärkt.

Nebst der Aussicht auf mehr Wertschöpfung auf dem Schweizer Finanzplatz betonen die Befürworter auch die Aussicht auf bessere Zinskonditionen für Schweizer Emittenten. Gegenwärtig durch die Verrechnungssteuer abgeschreckte Investoren aus fernen Ländern würden in den Markt eintreten und die Margen drücken, lautet das Argument. Dieser Kapitalzufluss würde der öffentlichen Hand jährlich «bis zu 200 Millionen Franken» an Zinskosten ersparen. Grundlage dafür ist das zweite regelmässig zitierte Dokument, ein Bericht der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Der Bericht nennt tatsächlich solche Zahlen. Gemäss eben diesem Bericht ist allerdings «keine zuverlässige Schätzung möglich», denn «bezüglich der Angebots- und Nachfrageelastizitäten haben die ESTV beziehungsweise die EFV keine Kenntnis». Es handelt sich also um Was-Wäre-Wenn-Dreisatzrechnungen ohne ersichtlichen empirischen Hintergrund. Solche Szenarienanalysen sind legitim und interessant, doch die grundlegenden Annahmen sind auch hier arbiträr.

Können wir angesichts der dürftigen Faktenlage noch an die Verheissung glauben, dass eine Annahme der Reform unseren Finanzplatz dermassen stimulieren würde, dass letztlich auch der Fiskus profitieren würde?

Wie die Angelsachsen so schön sagen: «absence of evidence is not evidence of absence». Vielleicht ist die Verrechnungssteuer ja tatsächlich ein ganz besonderer Hemmschuh in einem strategisch besonders wichtigen Geschäftssegment. Vielleicht sind die Elastizitäten wirklich gross. Bisher habe ich dafür noch keine stichhaltigen Belege gesehen. 

Die betroffene Branche sollte uns daher deutlich erklären, vorrechnen und nachweisen, wieso gerade die Verrechnungssteuer auf Obligationen so schädlich ist, wie genau und in welchem Umfang deren Abschaffung das Geschäft beleben würde, und welche Auswirkungen dies auf andere Wirtschaftszweige hätte.

So könnte man Steuer-Geeks – und wohl auch viele andere Stimmbürgerinnen und Stimmbürger – am besten überzeugen.

Geldpolitik und die Natur

Urs Birchler

„Machen Sie Fugen, sonst macht sie die Natur“, sagen die Bauingenieure. “Erhöhen Sie die Zinsen, sonst erhöht sie die Natur“, möchte man den Notenbanken raten. Es scheint nämlich fast, als hätten die Notenbanken vergessen, dass sie die Zinssätze auf längere Sicht gar nicht kontrollieren können.

Es gilt nämlich:

  1. Nominalzins = Realzins + Erwartete Inflationsrate
  2. Nominalzins < Erwartete Inflationsrate = negativer Realzins

Die erste Zeile bedeutet, dass sich die Anleger(innen) für erwartete Inflation entschädigen lassen. Die zweite Zeile bedeutet, dass eine Geldpolitik, die den Nominalzinssatz unter der Inflationsrate hält, expansiv, d.h. inflationär wirkt. Zusammengefasst: Ein zu tiefer Nominalzinssatz schafft sich von selbst ab, indem er die erwartete Inflationsrate (und damit sich selbst) erhöht.

Darum gilt bei zu tiefen Nominalzinsen: Erhöht die Zinsen, sonst erhöht sie die Natur. Diese Aufforderung geht gegenwärtig vor allem an die EZB und das (weniger schwerhörige) amerikanische FED. Aber auch die Schweizerische Nationalbank liegt mit ihrem Negativzins von -0.75 Prozent deutlich unter der erwarteten Inflationsrate, selbst wenn man die optimistischeren Inflationsprognosen verwendet.

Je länger diese expansive Politik anhält, desto höher muss die SNB inskünftig die Zinssätze anheben, um die Inflation wieder in den Griff zu erhalten. Der Anstieg der Zinssätze auf zehnjährigen Laufzeiten um 1,4 Prozentpunkte seit Anfang Jahr zeigt, dass die Natur bereits zu arbeiten beginnt. Wie hoch und wie rasch die Zinssätze in vergangenen ähnlichen Phasen steigen können, habe ich in einem früheren Beitrag in Erinnerung gerufen. Je früher und entschlossener die Zinserhöhung durch die SNB kommt, desto geringer wird sie letztlich ausfallen müssen.

Vielleicht geht das FED heute mit dem guten Beispiel voran. Der EZB-Rat ist gegenwärtig in einer Sondersitzung. Die SNB gibt morgen ihre vierteljährliche Lagebeurteilung bekannt. Sie wird zeigen, ob Prof. Ernst Baltensperger mit seinem ausgezeichneten (und wie immer gentlemanlike verfassten) Artikel in der heutigen NZZ recht hat: Er erwartet, dass die SNB mutig agieren wird. Morgen wäre die Gelegenheit dazu. Das Allermindeste wäre, die Negativzinsphase zu beenden, auch wenn man vielleicht bereits vorbereitete Präsentationsfolien über Nacht nochmals überarbeiten müsste.

Kriegsgewinne besteuern?

Monika Bütler

Mit einer gekürzten Version dieses Aufsatzes (unter dem Titel «Eine Sondersteuer auf Kriegsgewinne ist verlockend, hat aber zu viele Nebenwirkungen») beginnt meine dritte Zeit als Kolumnistin bei der NZZaS. Als Abwechslung alle vier Wochen im Wirtschaftsteil. Herzlichen Dank dem NZZaS Team für die freundliche Begrüssung und die angenehme Zusammenarbeit.

Die Kriegsgewinnsteuer, lanciert von SP und Grünen, ist in der politischen Mitte angekommen. Die Idee: Erzielt eine Unternehmung wegen einer Krise überhöhte Gewinne, soll der Staat auf diesen sogenannten Windfall Gains zusätzliche Steuern erheben können. Der Charme einer Kriegsgewinnsteuer liegt darin, dass die durch den Krieg ausgelösten Kosten jenen Unternehmen belastet werden, die von der Krise überproportional profitieren. Kein Wunder ist die ausserordentliche Besteuerung so populär und wird in vielen Ländern diskutiert (GB, USA, Ungarn) und in Italien bereits beschlossen.

Der Vorschlag entspringt nicht einfach linker Umverteilungslogik. Wie Krisen finanziert und Verlierer entschädigt werden, gehört zum Kern des Steuer- und Transfersystems eines Staates. Der Staat, als Versicherer of Last Resort, greift dort verteilend ein, wo eine herkömmliche Versicherung versagt – bei Pandemien, Kriegen, Wirtschaftskrisen. Die Pandemie hat gezeigt, dass eine kluge Finanzierung und Kompensation der Verluste entscheidend zu Bewältigung der durch die Krise verursachten wirtschaftlichen Einbrüche beitragen kann.

Im ungünstigsten Fall haben eine mangelhafte Effizienz und Zielgenauigkeit der Krisenkompensationen langfristig negative Konsequenzen für ein Land. Das Beispiel USA zeigt dies eindrücklich: bei ungefähr gleichem Wirtschaftseinbruch kostete das Schuldenfinanzierte flächendeckende Unterstützungsprogramm bereits im ersten Jahr der Krise rund 2.5 mal mehr pro Kopf als in der Schweiz. Nach Donald Trump legte Joe Biden mit einem weiteren grossen Konjunkturprogramm zur Abfederung der Krise nach. Zusammen sind die Programme letztlich mitverantwortlich für die Auslösung der schlimmsten Inflation seit den Ölschocks in den 70er Jahren.

Was Befürworter wie Gegner bisher anscheinend übersehen haben: Die Schweiz kennt eine Kriegsgewinnsteuer bereits. Von 1915-1920 und 1939-1946, hiess sie auch tatsächlich so. Sie wurde während der beiden Weltkriege auf notrechtlicher Basis und befristet eingeführt. Zwischen und nach den Kriegen wurde sie – verfassungsrechtlich zweifelhaft – als ausserordentliche Kriegssteuer, Wehropfer oder Wehrsteuer weitergeschrieben. Erst seit 1983 ist sie als Direkte Bundessteuer Teil des ordentlichen Rechts.

Durch ihre auch im internationalen Vergleich stotzige Progression wirkt die Direkte Bundessteuer noch immer als eine Art Krisengewinnsteuer. Wer dank einer Krise doppelt so viel verdient, bezahlt deutlich mehr als das doppelte an Steuern.

Unternehmenssteuern hingegen sind nicht progressiv – aus guten Gründen. Anders als eine natürliche Person kann man eine Firma halbieren und dadurch – bei einem progressiven Tarif – Steuern sparen. Unter bestimmten Umständen lassen sich Gewinne von einem guten Jahr auf ein schlechteres schieben. Ist dies nicht möglich, bestraft eine progressive Steuer Firmen stark schwankenden Gewinnen über die Zeit. Verschont werden die betrieblichen Übergewinne ohnehin nicht: Höhere Gewinne führen auch zu höheren Steuerbelastungen. Und über Dividenden und Löhne ausbezahlte Erträge werden sehr wohl progressiv besteuert.

Die Bundessteuer unterscheidet sich in einem anderen Punkt von der vorgeschlagenen Kriegsgewinnsteuer: Sie ist blind für die Ursache der erhöhten Einkommen, indem sie nicht zwischen Geschick und Glück unterscheidet.

Hier haben die Befürworter der Kriegsgewinnsteuer durchaus einen Punkt. Im Grunde genommen sollte die – für die Besteuerung zentrale – Leistungsfähigkeit das erzielbare und nicht das erzielte Einkommen berücksichtigen. Ein Teil der Verantwortung für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit liegt nämlich bei den Individuen und den Firmen. Eine Ungleichbehandlung im Steuer- und Transfersystem wäre nicht einmal neu: Wer eine wirtschaftliche Notlage selber verursacht hat, erhält im Sozialversicherungssystem oft eine geringere Unterstützung als Menschen, die einfach Pech hatten etwas durch eine Krankheit oder einen Firmenkonkurs. Eine solche Unterscheidung ist breit akzeptiert, aber nicht unumstritten, weil die Abgrenzung nicht immer klar ist.

Doch der bedenkenswerte Versuch der Kriegsgewinnsteuer, auch in der Unternehmensbesteuerung zu unterscheiden zwischen «verdienten» und «unverdienten» Gewinnen, hat Tücken. Wie auch immer die Abgrenzung zwischen glückhaften Übergewinnen und durch Anstrengung erreichte Erfolge definiert wird, sie erzeugt Ineffizienzen und Ungleichbehandlungen zwischen Firmen.

Erste mögliche Definition einer Abgrenzung: Übergewinne werden im Vergleich zu den Gewinnen der Vorjahre festgelegt. Dies entspricht genau der aktuellen Gesetzesvorlage in den USA: Grosse Unternehmen sollen auf Gewinnen, die den durchschnittlich ausgewiesenen Gewinn der Jahre 2015 bis 2019 übersteigen, eine 95-Prozent-Steuer bezahlen. Eine solche Definition hängt entscheidend vom Referenzzeitraum ab, wie Dominika Langenmayr in ihrem klugen FAZ Aufsatz Warum eine Übergewinnsteuer keine gute Idee ist dokumentiert.

Je nach Geschäftsmodell, Branche und vergangenem Geschäftsverlauf führt sie zu völlig unterschiedlichen Belastungen von Unternehmen mit ähnlichen Margen. So definiert, ist die Kriegsgewinnsteuer daher willkürlich und verletzt die Gleichbehandlung in eklatanter Weise.
Zweite mögliche Definition der Übergewinne: Der Fiskus bestimmt einen Schwellenwert für die Gewinnmarge, zum Beispiel 20%, ab welchem eine Zusatzabgabe geschuldet wird. Dies bedeutet letztlich die Einführung einer progressiven Unternehmenssteuer durch die Hintertür mit all ihren Nachteilen.

Dritter Ansatz: Natürlich tragen nicht alle Firmen mit hohen Gewinnen in Krisenzeiten gleichermassen zum Allgemeinwohl bei. Verlockend wäre es daher, zwischen guten (Pharmakologie) und schlechten Kriegsgewinnern (Rohöllieferanten) zu unterscheiden. Doch die zahlreichen Abgrenzungsfragen böten im politischen Markt – Stichwort: Mehrwertsteuersätze – förmlich eine Nährlösung fürs Lobbying. Abgrenzungen sind daher immer willkürlich und teuer in der Umsetzung. Das Steuersystem ist ein schlechtes Instrument bei Fragen der Moral.

Wenn Übergewinne besteuert werden, so müssten konsequenterweise auch Untergewinne direkt kompensiert werden. Der Staat hat zwar eine wichtige Rolle bei der Absicherung von nicht versicherbaren Risiken in Krisen, die Übernahme eines Teils des unternehmerischen Risikos gehört nicht dazu. In einer Krise sollte der Staat in erster Linie die Individuen (respektive deren Lebensgrundlage) retten und nicht Firmen.

Es besteht zudem die Gefahr, dass ausgerechnet diejenigen, die zur Linderung einer Krise beitragen, mit einer Sondersteuer bestraft werden. Die angeblich überhöhten Gewinne mit Impfstoffen während der Pandemie in der Krisenzeit waren nämlich deutlich kleiner als der gesellschaftliche Nutzen der Impfung. Sie waren zudem die Entschädigung für jahrzehntelange Entwicklungskosten mit höchst unsicherem Erfolg. Mit einer Krisengewinnsteuer bleiben wenig Anreize, hohe Entwicklungskosten zu stemmen und unternehmerische Risiken einzugehen. Der Staat besteuert so indirekt den sozialen Nutzen von technologischen und medizinischen Innovationen.

Die Erfahrungen zeigen, dass hohe Gewinne in Krisen nicht von langer Dauer sind, weil neue Wettbewerber in den Markt eintreten. Dauern sie dennoch an, deutet das eher auf Marktversagen hin, die mit der Krise wenig zu tun haben. Der Staat riskiert dann, dass er mit einer Krisensteuer Gewinne abschöpft, die erst durch staatliche Protektion oder Wettbewerbseinschränkungen überhaupt ermöglicht wurden.

Die Konstrukteure der schweizerischen Wehrsteuer und später der Souverän haben erkannt, wie eine effiziente Abschöpfung ausserordentlicher Gewinne funktioniert. Auch wenn sie nicht mehr Kriegsgewinnsteuer heisst: Die progressive Einkommenssteuer genügt. Eine zusätzliche Spezialabgabe brauchen wir nicht.

Bestraft die Börse EU-Skepsis?

Michel Habib

Zusammenfassung: Wieviel kostet die Schweiz der Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU? Die Börsenreaktionen auf zwei frühere “EU-kritische“ Entscheidungen unterstützen die schlimmsten Befürchtungen nicht, wie Umberto Bernardo in seiner soeben eingereichten Masterarbeit an der UZH zeigt. Die Ablehnung des EWR (1992) wurde vom Schweizer Aktienmarkt eher positiv aufgenommen. Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (2014) wirkte sich insgesamt wenig auf die Börse aus; allerdings sanken die Kurse von Unternehmen aus dem Maschinen- und Elektroniksektor leicht. Der Maschinen- und Technologieriese ABB fiel um 3,3 %. Die Ergebnisse suggerieren, dass die Anleger die Kosten einer geringeren Autonomie der Schweiz höher einschätzten als jene der geringeren Integration. Allerdings dürften sie gerade bei der Ablehnung des EWR auch auf Alternativen vertraut haben, wie sie in Form der Bilateralen I und II auch Realität wurden. (Urs Birchler)

On 26 May 2021, the Federal Council decided to end negotiations with the European Union (EU) about an institutional agreement that would replace the Bilateral Agreements I and II.  Some have deplored the Federal Council’s decision and expressed their concerns regarding its implications for Switzerland’s well-being; others have applauded it and argued that any cost to Switzerland would be small.

Can the stock market help us determine which side is right?  Yes, but only partially!  Stock price reaction to an announcement measures investors’ assessment of the implications of that announcement for listed firms’ value, thereby conveying information about investors’ view of the consequences of the announcement for the economic prospects of these firms and, indirectly, those of the country in which the firms are based.

Investors can be wrong, changes in value, or lack thereof, must be interpreted, and information that pertains to the profits of the generally large firms that are listed on stock markets does not necessarily extend to these firms’ smaller counterparts, to employees, and to overall economic well-being.  Yet, in a country such as Switzerland at least, firms, employees, and the country itself tend to prosper together and to suffer together.    

In a recently submitted Master Thesis at the University of Zurich, Master of Banking and Finance student Umberto Bernardo attempts to obtain an estimate of the economic importance of the agreements that govern Switzerland’s relation with the EU.

Specifically, Mr. Bernardo examines the Swiss stock market’s reaction to two referendums relating to that relation – the 1992 referendum on Switzerland joining the European Economic Area (EEA) and the 2014 referendum on the initiative “Against Mass Immigration.”

Mr. Bernardo does not analyze stock price reaction to the Federal Council’s 26 May decision because the topic of his thesis was chosen well before that decision.  Still, as we shall see below, his work does have some bearing on the consequences of that decision.

The decision to join the EEA was intended considerably to improve Switzerland’s access to EU markets. It would extend the 1972 Free Trade Agreement with the then European Economic Community from industrial goods to services and capital and would eliminate technical barriers to trade such as differing product requirements.  It was rejected by Swiss voters in December 1992.

Despite the decision not to join the EEA, Switzerland was able to become part of the European Single Market through a series of agreements known as Bilateral Agreements I and II. Unlike the Bilateral II agreements, the seven Bilateral I agreements are tied, in the sense that ending one agreement will automatically end the other six.

Swiss voters’ acceptance of the initiative Against Mass Immigration threatened the Bilateral I agreement on the free movement of persons, thereby threatening all Bilateral I agreements such as those on research, public procurement, and civil aviation.

Switzerland was able partially to reconcile the acceptance of the initiative with the requirements of the agreement on the free movement of persons by introducing a number of agreement-compatible requirements on Swiss employers to give precedence to local labor.

There were of course other referendums related to Switzerland’s relation with the EU during the last three decades.  What makes the two referendums considered by Mr. Bernado of particular interest is that the results in both cases were extremely close, and thus very unlikely to have been predicted by stock market participants.  Stock price reaction to the announcement of the referendums’ results therefore can be used to obtain an estimate of the importance of the referendums’ objects – access to the EEA and the Bilateral I agreements potentially endangered by the imposition of constraints on the free movement of labor – to Swiss firms and, by extension, the Swiss economy.

Mr. Bernado uses an event study methodology to obtain such estimate.  The idea is to examine how stock prices reacted to the announcement of referendum results, compare these reactions to what may be described as the normal stock price variation, and compute what is called a stock or an index’s abnormal return.  Positive, statistically significant abnormal returns indicate positive appraisal by investors; negative returns indicate the opposite. 

Mr. Bernado finds that both the Swiss Market Index (SMI), an index of the 20 largest Swiss companies, and the Swiss Performance Index (SPI) of all quoted Swiss companies experienced a positive abnormal return following the announcement of the result of the EEA referendum.  Investors deemed Switzerland’s rejection of the EEA beneficial to quoted Swiss companies.  Adjusting for the concurrent rise of the Swiss Franc against the Deutsche Mark, the SMI for example increased by 6.4%, as compared to what would have been its normal variation absent the announcement of the referendum result.  This increase was over a period of 11 days, centered on the first trading day after the Sunday on which the voting took place. 

There are, as always, many possible interpretations of this finding.  The most natural one may be that investors valued Switzerland’s regulatory autonomy, which they may have viewed as possibly compromised by membership of the EEA and eventual membership of the EU.  It is also possible that investors foresaw the possibility of alternative arrangements such as the bilateral agreements, and viewed these as preferable to membership of the EEA.

In contrast, there was little overall reaction to the announcement of the acceptance of the Against Mass Immigration initiative: both the SMI and the SPI experienced positive but statistically insignificant results.  Considering that the ending of the free movement of persons agreement would jeopardize all Bilateral I agreements, this finding is surprising.  At the risk of attributing more prescience to investors than they may have had, perhaps they were confident that Switzerland would devise an arrangement compatible with the free movement of persons agreement, which is in fact what happened.

That there was no overall reaction does not mean that all firms were left unaffected.  Mr. Bernardo finds a small but statistically significant 0.7% decline in the value of a portfolio of Swiss machine tool and electronics manufacturers.  Investors presumably feared that that the possible reappearance of technical barriers to trade would increase these firms’ cost of doing business in the EU.  Mr. Bernardo also finds a larger 3.3% decline in the value of engineering and technology giant ABB, which he contrasts with the lack of any significant response in the share price of telecom operator Swisscom.

Adjusting for CHF/Euro exchange rate movements slightly lowers these numbers and transforms the increase in the two indices from statistically insignificant to statistically significant.  It does not however change the overall pattern: the stock market as a whole very moderately increased, the value of machine tool and electronics manufacturers very moderately decreased, but ABB suffered a material decline in value.  The market value of the equity of ABB on the Friday that preceded the referendum amounted to around CHF 43 billion; 3% of 43 is about CHF 1.3 billion.  If one assumes that the same percentage applied to the wages paid to ABB’s employees and supplies sourced in Switzerland, then it is clear that the amounts at stake were not negligible, at least not for ABB shareholders, employees, and suppliers.

As noted above, Mr. Bernado’s analysis was initiated before Switzerland decided to end negotiations with the EU about an institutional agreement that would replace the Bilateral Agreements I and II.  Do his results tell us anything about the value of such an agreement?

To answer this question is not simple.  One may surmise from Mr. Bernardo’s results that (i) Switzerland, or at least the majority of quoted Swiss firms and their employees, would suffer little from an end to the bilateral agreements; indeed, that (ii) they would materially suffer if Switzerland’s regulatory autonomy were severely curtailed.  Proposition (ii) is probably true.  Proposition (i) may well be true, but it neglects the fact that the very reason the results of the referendums had little impact on firm values, with the exception of a large internationally active technology firm such as ABB, may be that investors expected Switzerland and the EU to devise alternative arrangements, which the parties did indeed.  If Proposition (i) is correct, then one may be justified in being sanguine about the end of the negotiations between Switzerland and the EU.  If it is not, then it is to be wished that, once more, Switzerland and the EU will be able to devise the necessary alternative arrangements.

Schöner Lügen

Der Tagesanzeiger hat mich an ein altes Fundstück erinnert. Er berichtet kritisch über einen Artikel in dem der Erdölindustrie nahestehenden Quartalsmagazin Avenue mit “Hintergrundinformationen“ zum Thema CO2.

Man kann den Dégoût des TA nachvollziehen, wenn Avenue loslegt mit dem diskreten Hinweis, dass auch Champagnerblasen aus CO2 bestehen. Die Aussage, dass alles Leben auf diesem Planeten auf CO2 beruht, liess dann bei mir die Alarmglocken läuten (die Banalität des Bösen). So kam mir ein Exemplar in meinem Postkartensammelsurium in den Sinn. Die Karte trägt kein Datum, aber stammt aus dem letzten Jahrhundert (geschätzt ca. 1980):

Flusslandschaft

Sie zeigt eine intakte Flusslandschaft. Auf der Rückseite steht: „Reuss“. Darüber steht aber auch etwas anderes:

„Die Ölheizung … lässt die Umwelt aufatmen.“ Das hat tatsächlich einmal jemand gesagt. Im Vergleich zur Braunkohle stimmt es vielleicht sogar. Dass niemand unterschrieben hat, zeigt aber, dass die Aussage wohl schon damals ein klarer — und vorsätzlicher — Schwindel war. Und ein plumper dazu. Fazit: Etwas die Erdölbranche immerhin gelernt: Schöner lügen.

Der gescheiter(t)e Professor?

Urs Birchler

Die NZZ hat meine Kritik an einem Artikel von Patrick Herger nicht auf sich sitzen lassen und mit dem selbstbewussten Titel “An dieser simplen Prozentrechnung scheiterte der prominente Professor“ (Printversion vom 9. März., S. 25) zurückgeschlagen. (In einer weichgespülten Online-Version dann noch: „ein prominenter Professor“).

Die Antwort der NZZ ist nicht besser als der Ursprungsartikel — wie auch viele unserer Kommentatoren zu batz.ch festgestellt haben (kudos!). Wir haben gestern sofort eine Gegendarstellung eingereicht. Sobald diese in der NZZ erscheint, werden wir hier darauf hinweisen.

Bereits hier möchte ich mich verwahren gegen unwahre und beleidigende Unterstellungen. Namentlich suggeriert Patrick Herger mit einem Scheinzitat (in Anführungszeichen) ich hätte den (aus meiner Sicht sexistischen) Ausdruck “Milchmädchenrechnung“ verwendet.

Herabmindernd klingt für mich auch die Passage in der Printversion: “Denn es handelt sich in der Tat um eine komplizierte Angelegenheit. Selbst Universitätsstudenten und Mathematikdozenten bereitet die Prozentrechnung Schwierigkeiten. Man darf hinzufügen: Dasselbe gilt für Finanzprofessoren und Direktionsmitglieder der Schweizerischen Nationalbank.“ (Ich bin seit zehn Jahren nicht mehr bei der SNB; diese hat aber immer noch Direktionsmitglieder.)

In der Online-Version wurde der Text mittlerweile angepasst. Der letzte Satz (“Dasselbe gilt…“) wurde gestrichen. Ich empfehle daher, im Zweifelsfall auch die Print-Version zu konsultieren.

Nachtrag: Die NZZ hat soeben unsere gestern umgehend eingereichte Gegendarstellung online gestellt. Dass meine Berechnung von Anfang an korrekt war, haben mittlerweile auch zahlreiche Kommentare zu meinem Artikel bestätigt. Herzlichen Dank! Und NZZ: Friede sei mit uns!

Digitales Bargeld — Swiss Made?

Urs Birchler

So digital wie Bitcoin, so sicher wie ein Fünfliber oder eine Banknote der Schweizerischen Nationalbank — so wünschen sich manche das ideale Geld. Verschiedene Notenbanken prüfen deshalb seit einigen Jahren die Idee des digitalen Zentralbankgeldes (CBDC — Central Bank Digital Cash/Currency).

In einem Arbeitspapier der SNB haben drei Autoren — David Chaum (DigiCash u.v.m.), Christian Grothoff (Berner Fachhochschule), Thomas Moser (Mitglied des erweiterten Direktoriums der SNB) — unlängst untersucht, nicht ob, aber wie die SNB gegebenenfalls eine „Digitalnote“ schaffen könnte.

Am Anfang steht die Entscheidung: Konto oder Münze (token)? Digitales SNB-Geld in Kontoform gibt es bereits in Gestalt der Giroguthaben der Banken, mit denen diese den Zahlungsverkehr untereinander abwickeln. Die SNB müsste also bloss den Kundenkreis auf das Publikum ausweiten. Dieser Weg ist jedoch dornig: (1.) Die SNB müsste personalintensive Vorkehren zur Verhinderung von Geldwäscherei umsetzen (know your customer); (2.) Konti sind nicht anonym und damit nie hundertprozentig immun gegen staatlichen Missbrauch; (3.) Kontoüberweisungen hinterlassen Daten beim Empfänger.

Die Autoren entschieden sich daher für die Variante „Token“, d.h. die digitale Münze. Hier heisst die Herausforderung: Wie verhindert man eine Duplikation (Fälschung). Copy-Paste mit dem Münzcode wäre doch zu verführerisch. Hier kommt Entscheidung zwei: Hardware oder Software. Ein digitales Guthaben kann in einem geschützten Hardware-Bereich gespeichert werden, ähnlich der bereits bekannten SIM-Karte. Oder es kann in nicht-klonbarem Code niedergelegt werden. Die Autoren befürworten aus Sicherheitsgründen den letzteren Weg, das heisst eine „Sofware-Only“-Lösung.

Konkret befänden sich unsere Digitalfünfliber — wo sonst? — auf dem Handy. Dahin gelangen sie ab Bankkonto. Vom Handy aus können sie ausgegeben oder wieder auf ein Bankkonto zurück geschickt werden. Dieses Digitalgeld wäre also ein Inhaber“papier“. Es hinterlässt beim Bezahlen keine Spuren der Herkunft, genau wie herkömmliches Bargeld. Und wenn das digitale Portemonnaie beim Segeltörn ins Meer fällt, ist mit dem Handy auch das darauf gespeicherte Geld verloren, genau wie beim Portemonnaie.

Das Elegante an der vorgeschlagenen Lösung ist die klare Arbeitsteilung zwischen SNB und Geschäftsbanken. Der Bezug und die Rückgabe von Digitalmünzen erfolgt nur zwischen Inhaber (Kunde oder Händler) und Geschäftsbank. Die Überprüfung und Signatur wird von der SNB geleistet, an welche gebrauchte Digitalmünzen (ähnlich der abgenutzten Banknoten) zurückkehren. Damit bleibt die Trennung von Kundenprüfung (Geschäftsbank) und Schaffung von Zentralbankgeld (SNB) gewahrt.

Das Kernstück des Arbeitspapiers ist die kryptographische Umsetzung dieser Prozesse. Sie beruht, ähnlich wie die Verifizierung bei Bitcoin, auf der Kombination eines privaten Schlüssels und eines öffentlichen Schlüssels.

Wer bei seiner Bank eine Digitalmünze bezieht, erzeugt einen privaten
Schlüssel und bekommt eine Signatur der Zentralbank über den
dazugehörigen öffentlichen Schlüssel, ohne dass diese Schlüssel den
Banken zu diesem Zeitpunkt bekannt werden. Beim Ausgeben der Münze (via Händler und Empfängerbank) signiert der Kunde mit dem privaten Schlüssel die Anweisung zur Übertragung des Wertes der Münze an den Händler, und die Zentralbank prüft die Gültigkeit der Münze auf Basis der Signatur. Bisher alles genau wie Bargeld.

Der Trick bei der Echtheitsprüfung beruht darin, dass die SNB sehen kann, ob das Resultat einer Berechnung (konkret: einer in der Kryptgraphie üblichen Operation mit grossen Primzahlen) korrekt ist, ohne die Ausgangszahlen zu kennen. Wir erinnern uns an die Neunerprobe aus der Primarschule: Ein Blick auf die Neunerprobe zeigt der Lehrerin, ob das Ergebnis einer Division richtig ist (genauer: sein kann), ohne dass sie die Ausgangszahlen ansehen muss. Besser ist vielleicht der Vergleich mit der Prüfziffer einer IBAN-Nummer. Die Prüfziffer folgt aus der IBAN, aber die IBAN nicht aus der Prüfziffer. Die Mathematik der Echtheitsprüfung ist im Arbeitspapier ziemlich verständlich dargestellt. Denjenigen, die wie ich noch nie vom Inversen einer Modulo-Funktion gehört haben, sei eine kurze Nachhilfe empfohlen. Das Chaum-style blind-signature protocol sparen wir uns für den Party-talk. Wichtig ist aber, dass die ganze Software hinter der im Papier dargestellten Digitalmünze auf Open Source Software beruht, und zwar auf dem offensten der verschiedenen Standards, der sogenannten GNU Public License und dem System der GNU-Taler.

Zwischenfazit: Die vorgeschlagene Lösung besticht dadurch, dass sie von allen bisher vorgeschlagenen Formen von CBDC die bestmögliche Abbildung von Bargeld in digitaler Form zu sein scheint. Dennoch bestehen im Hinblick auf eine — von der SNB ausdrücklich nicht geplante — Implementierung noch einige Fragen:

  • Würden im Krisenfall die Kontoinhaber ihr Geld massenweise von den Banken abziehen und in SNB-Digitalgeld umtauschen (Bank Run)?
    Die Autoren bezweifeln dies, da das Geld nicht auf ein Koto bei der SNB fliesst, sondern bei den Inhabern auf dem Handy herumgetragen werden müsste.
  • Lassen sich mit der Digitalmünze Steuern hinterziehen. Die Autoren verneinen dies (ich bin nicht sicher, ob ich die Argumentation schon voll begriffen habe). Ob dies ein Vor- oder ein Nachteil wäre, dürfte umstritten sein (und wäre dann doch ein Unterschied zu Bargeld).
  • Wäre das Geld sicher vor Manipulation? Die digitalen Münzen hätten ein Verfallsdatum und kehrten immer wieder zur SNB zurück, wo sie vernichtet und ersetzt werden. Die Autoren machen geltend, dies sei wichtig, damit nicht immer mehr alte Nummern im Umlauf sind, was die Anfälligkeit zu Missbrauch erhöhen würde. Überdies würden auch die bestehenden Banknoten-Serien periodisch ausgetauscht, wenn auch nur ungefähr alle zehn Jahre. Gleichzeitig sehen sie beim Umtausch die Möglichkeit, zum Beispiel Gebühren zu erheben (=Negativzinsen). Auch dies wäre ein Unterschied zum bestehenden Bargeld, und ebenfalls ein absehbar umstrittener. Hier besteht daher noch eine Lücke in den Spielregeln.
  • Wäre digitales Bargeld eins zu eins gleich physischem Bargeld? Gemäss den Autoren bestünden gewisse Unterschiede, daher könnte also zwischen den beiden ein „Wechselkurs“ ungleich 1 entstehen. Die SNB könnte den Kurs natürlich mit flexiblem Angebot bei 1 fixieren, sei es freiwillig, sei es kraft (anzupassendem) Gesetz. Hier besteht noch Klärungsbedarf.

Fazit: Das im SNB-Arbeitspapier dargelegte Modell eines digitalen Zentralbankgeldes für jedermann scheint mir das interessanteste bisher vorgelegte Rezept. Näher zum physischen Bargeld kommt man kaum noch. In der Halbzeit liegt also die Schweiz mit ihrem „Digi-Taler“ vorne. Für die zweite Hälfte (oder sind wir schon in der Verlängerung?) würde ich noch jemanden aus der Rechtswissenschaft einwechseln.

[P.S: Christian Grothoff, einer der drei Autoren des Arbeitspapiers hat mich auf einen technischen Fehler aufmerksam gemacht. Seine korrigierte Version des Abschnitts „Wer bei seiner Bank eine Digitalmünze bezieht“ habe ich in den Text integriert. Herzlichen Dank, Christian!]

Familienknatsch bei Bitcoins

Der oft zitierte Einleitungssatz zu Leo Tolstois Anna Kerenina — „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“ — gilt offenbar auch für die Bitcoin-Familie.

Familie? Richtig. Der ursprüngliche Bitcoin (an den Börsen BTC) hat nämlich verschiedene Abkömmlinge gezeugt. Einer davon ist Bitcoin Cash (BCH), entstanden 2017 durch eine Gabelung (fork) in der Blockchain aufgrund einer Meinungsverschiedenheit der Teilnehmer. Durch eine weitere Gabelung entstand 2018 Bitcoin SV (BSV). BCH seinerseits verzweigte sich im November 2020 in Bitcoin Cash Node (BCHN) und in Bitcoin Cash ABC (BCH ABC).

Diese Sprösslinge versuchen alle, gewisse Mängel des originalen Bitcoin-Protokolls zu beseitigen, namentlich beschränkte Transaktionsgrössen und mangelnde Skalierbarkeit. Mit ähnlicher Zielsetzung sind ausserhalb des Bitcoin-Stammbaums Tausende anderer Crypto-Currencies — zusammenfassend Alt-Coins genannt — entstanden, wie Ether, Ripple, etc.

Hier geht es nur um die Bitcoin-Familie im engeren Sinn. Hier ist nämlich in der letzten Februar-Woche eine Bombe geplatzt. Ein Australier namens Craig Wright behauptet schon seit längerem, er sei der mysteriöse Schöpfer des Bitcoin-Protokolls, das heisst die wahre Person hinter dem Pseudonym Sakoshi Nakamoto. Sein Anspruch wird in der Szene angezweifelt, hat aber auch Anhänger. Bewiesen hat er einstweilen noch nichts.

Dessen ungeachtet schaltete Craig Wright einen Gang höher: Er beansprucht wie die Financial Times berichtet, das Urheberrecht auf dem Bitcoin White Paper, sozusagen der Geburtsurkunde des Bitcoin. Verklagt werden die Entwickler hinter den Bitcoin-Töchtern BTC, BCH, BCH ABC and BSV mit einem Streitwert von £ 3,5 Mrd.

Der Hintergrund: „Craig-Toshi“ behauptet, Hacker hätten ihm zwei wallets mit seinen Bitcoins gestohlen. Wert (bei heutigem Kurs): £ 3,5 Mrd. Er sucht aber nicht die Diebe, sondern versucht, die Entwickler dazu zu bringen, dass sie die Blockchain gewissermassen zurückdrehen, um sie ab dem Punkt, wo seine Guthaben verschwunden sind, ungültig zu machen. Dies wäre eine „gute“ Variante das berüchtigten 51-Prozent-Angriffs, mit dem eine Mehrheit der Teilnehmer eine bereits „geronnene“ Blockchain wieder auflösen kann. Neuestens wäre er aber auch zufrieden, wenn ihm einfach neue Bitcoins im selben Wert zugeteilt würden. Wie die FT bemerkt: Sowohl die Diebe. als auch das Opfer hätten dann das Geld.

Ob die Copyright-Klage Erfolg haben wird, wissen wir nicht. Eher könnte sie, wie mancher Familienstreit, letztlich allen Mitgliedern schaden. Beispielsweise wurde BSV (für Bitcoin Satoshi Version, ein Versuch, zu den „Wurzeln“ von Bitcoin zurückzukehren), an dessen Entstehung Craig Wright beteiligt war, von der grössten australischen Coin-Börse dekotiert, da die Copyright-Klage als bullying empunden wurde (obwohl — ein weiteres Rätsel — BSV selbst zu den Beklagten gehört).

Die Bitcoin-Familie scheint tatsächlich eine ganz eigene Form des Unglücks gefunden zu haben. Und dass man einen Familienstreit als Aussenstehender nie bis in seine Tiefen verstehen kann, wussten wir schon vorher.

NZZ-Gemüsetrick mit Selbstüberlistung

„Bauern als Preistreiber!“ scholl es einst durch die Lande, als Inflation noch ein Thema war. Was war geschehen? Die meisten Gemüse und Früchte sind aufgrund der jahreszeitlichen Ernteschwankungen im Winter teurer als im Sommer. Nehmen wir als Zahlenbeispiel an, sie waren im Winter doppelt so teuer wie im Sommer. Das heisst: Von Sommer zu Winter steigen die Preise um 100 Prozent, vom Winter zum Sommer sanken sie um 50 Prozent, woraus sich scheinbar eine durchschnittliche Verteuerung von 25 Prozent (100-50 durch 2) ergab. Die Bauern, denen kein entsprechender Cash-Flow im Portemonnaie aufgefallen war, protestierten sofort und mit Erfolg. Die Berechnungsweise des Konsumentenpreisindex wurde entsprechend korrigiert.

Jahrzehnte später serviert die NZZ zum Frühstück den „Gemüse-Trick“ in ihrem Börsenteil. Ziel des Artikels ist, das Halten von Bargeld zwecks Flexibilität (Jargon: als Option) zu begründen. Dies wäre weder falsch noch neu. Nur fällt Autor Patrick Herger in die Gemüsefalle: Er benutzt den Durchschnitt der Prozentsätze (Renditen) anstatt die Renditen des Durchschnitts. .

Konkret: Eine Familie bucht Ferien entweder früh für 500 Franken oder spät für (mit fifty-fifty Chancen) entweder 250 oder 1000 Franken. Klar ist früh zu 500 Franken billiger als spät zu einem Erwartungswert von 625 Franken. Jetzt aber vergleicht der Autor Renditen: Da die Reise ohne Frührabatt oder Last-Minute-Preis 1000 Franken kosten würde, ergibt sich bei Frühbuchung ein Gewinn von 100 Prozent (1000 Franken für 500 Franken); bei Spätbuchung von entweder 300 Prozent (1000 Franken für 250 Franken) oder von null, das sind im Durchschnitt immer noch 150 Prozent. Voilà!

Schon die Verwendung von Renditen ist unglücklich. Anleger haben letztlich lieber Franken als Prozente. Sie maximieren — bei Strafe des langsamen Untergangs — den Wert des Vermögens, nicht erwartete Renditen. Aber richtig schlimm: Der Autor verwendet für seine Prozentsätze (wie beim Sommer- und Wintergemüse) unterschiedliche Basen (einmal 500 Franken, dann 250 Franken).

Abgesehen von den für eine Börsenseite eher unerwarteten Fehlern, wischt der Autor mit seinem einfachen Beispiel auch ein paar weitere Probleme unter den Tisch: Die Familie könnte in Wirklichkeit auch zuwarten und die Reise am Ende gar nicht buchen. Vielleicht taucht ein noch besseres Angebot auf, oder die Tochter bricht sich beim Sturz vom Pferd ein Bein. Der Optionswert des Wartens enthält daher auch eine Versicherungsprämie gegen Überraschungen.

Ich schreibe dies nicht, weil ich an der Fähigkeit von Schweizer Familien zweifle, ihre Ferien auch nach Lektüre der NZZ (rechtzeitig umleiten!) optimal zu buchen. Vielmehr: Der Autor, der selber vor „kostspieligen Fehlern“ warnt, lässt dem verunglückten Ferienbeispiel eine genauso verunglückte Börsenanleitung folgen. Da wird es dann tatsächlich kostspielig. Was, wenn mein(e) Pensionskassenverwalter(in) den Artikel liest und befolgt? Die Forderung nach einem obligatorischen Warnhinweis auf Börsenseiten scheint vielleicht verfrüht. Aber die NZZ, wäre gut beraten, wenn sie sich anscheinend schon kein Finanzlektorat leistet, anspruchsvolle Berechnungen wenigstens vorher dem Schweizerischen Bauernverband vorzulegen.

Lehrverkäufe

Urs Birchler

Vor 200 Jahren prägte der amerikanische Investor Daniel Drew den Satz: „He who sells what isn’t his’n, must buy it back or go to pris’n.“ Einige Hedge Funds und andere professionelle Investoren scheinen diese Warnung vergessen zu haben. Sie verkauften auf Termin Aktien des Spielehändlers Gamestop, die sie selber noch gar nicht hatten.

70 Mrd. US$ sollen sie dadurch verloren haben. Scharen von Kleinanlegern haben sich offenbar via Online-Foren zusammengetan, die Gamestopp-Aktien en masse aufgekauft und dadurch die Leerverkäufer ins Leere laufen lassen (NZZ, TA). Diese müssen sich jetzt zu steigenden Preisen eindecken. 70 Mrd. US$, das ist immerhin ungefähr der Börsenwert von UBS und CS zusammen. Das verliert man nicht jeden Tag.

Finanzbehörden sind alarmiert und bereits erklingt der Ruf nach Regulierung. Vielleicht etwas rasch. Erstens wissen Hedge Funds und andere Professionelle ganz genau, dass Leerverkäufe besonders riskante Geschäfte sind, bei denen man unbegrenzt verlieren kann. Sie brauchen keinen Schutz. Zweitens ist es noch nicht lange her, als die Behörden gerade die Hedge Funds selber als Bösewichte im Visier hatten.

Drittens ist (gute) Regulierung eine Kunst. Dazu zwei Erinnerungen zu Leerverkäufen und Hedge Funds:

  • Eine Sitzung der WAK-SR vor 20 Jahren (ich durfte ein Papier über Finanzderivate vertreten): Ein sonst eher marktfreundliches Mitglied der Kommission wetterte über mein viel zu pessimistisches Papier, meinte aber, eine Geschäftsform würde man am besten gerade sur place verbieten: nämlich die Verkäufe von Titel, die man selber gar nicht hat, vulgo die Leerverkäufe.
  • Die Diskussion im Basler Ausschuss für Bankenaufsicht: Eine Regulierung der Hedge Funds blieb schon am Definitionsproblem stecken. Die Idee, statt von Hedge Funds von Highly Leveraged Institutions zu sprechen, schien die Lösung, bis jemand herausfand, dass die internationalen Grossbanken eine höhere Leverage aufwiesen als die wilderen unter den Hedge Funds.

Die Behörden sollten dem Gamestop-flashmob also eher dankbar sein. Dieser hat für einmal den Dreckjob für die Regulierer erledigt. Wir nehmen an, die neueste Erfahrung sei künftigen Leerverkäufern eine Lehre, das weise Wort von Daniel Drew übers Bett zu hängen. Aber auch die vorübergehenden Gewinner sollten nicht vergessen, dass ein Berg von Dollars, der nur auf der Not klammer Leerverkäufer ruht, seinerseits auf Leere gebaut ist.