Münzenverweigerung

Urs Birchler & Monika Bütler

Monika ist ohne Tram-Abo unterwegs. Kein Problem: das Portemonnaie strotzt vor Münz, und der Billetautomat scheint zu funktionieren. Also: CHF 5.80, das sind 3 Fünfziger, 19 Zwanziger und 5 Zehner, alle echt. Die gehen grad noch rein, bevor das Tram kommt. Nur: Bei verbleibenden 30 Rappen Bezahlschuld kommen alle Münzen erst zögerlich dann laut scheppernd wieder raus. Man erinnert sich an einen Jahrzehnte zurückliegenden Gewinn am Spielautomaten. Zusammen mit dem Geräusch des bremsenden Trams und der Leuchtanzeige „Zu viele Münzen“ hält sich die Begeisterung allerdings in Grenzen. Und wirft eine grundsätzliche Frage auf: Wie war das schon wieder mit dem gesetzlichen Zahlungsmittel? Kürzlich haben wir uns über Österreichische Wechselstuben beklagt, die keine Euros auszahlen. Zürcher Tramautomaten verweigern sogar das Münz.

Klar, dass man die Scheidungsrente der/dem Ex nicht in Fünfrappenstücken vors Haus kippen darf. Klar auch, dass die Kinder beim Verkauf der Schoggitaler nicht auf einen Tausender rausgeben können. Aber kann ein VBZ-Automat boss eine beschränkte Anzahl Münzen zusammenzählen? Und wäre das nicht wenigstens einen Vermerk auf dem Automaten wert?

Wir verzichten auf die in solchen Fällen in der Presse übliche Berechnung, wieviele Arbeitsstunden oder Prozente des BIP jährlich verloren gehen, weil Trampassagiere den Anschluss wegen Münzverweigerung verpassen, zumal die Dunkelziffer bei knapp hundert Prozent liegen dürfte. Aber wir möchten uns doch für die Batzen, die unserem Blog den Namen gegeben haben, an dieser Stelle einsetzen. Wie heisst es doch so schön: Wer den Batzen nicht ehrt…

Die (vielleicht nicht so) böse Steuererklärung

Monika Bütler

Die GLP fordert, dass auch Schweizer und Schweizerinnen in den Genuss der Quellensteuer kommen sollten.(Nachtrag: Die Einführung der Quellensteuer wird im Juni 2015 auch im Kanton Basel-Stadt diskutiert). Grund des Vorschlags: Das Ausfüllen der Steuererklärung ist mühsam (ja!) und ist vor allem für Personen mit kleineren Einkommen unverhältnismässig. Das ist wohl so.

Die GLP hat sich in liberaler Manier dafür ausgesprochen, dass die Arbeitnehmer(innen) selber wählen dürfen, ob sie Quellen-besteuert werden wollen oder die Steuererklärung nach konventioneller Manier ausfüllen möchten.

Mein Bauchweh mit dem Vorschlag: Die empirische Forschung zeigt in überwältigender Weise, dass die Sichtbarkeit der Steuern („Salience“) einen Enfluss auf die Höhe des Steuersatzes hat. Einen negativen. Je sichtbarer („salient“) die Steuer, desto grösser der politische Druck, den Steuersatz tief zu halten. Denn leider sind die meisten Menschen nicht ganz rational. Wir tendieren dazu die Steuern zu unterschätzen, wenn wir sie nicht direkt bezahlen müssen.

Einige Beispiele:

a) Die Konsumsteuer: Das Verhalten der Konsumenten unterscheidet sich, je nachdem ob die Konsumsteuer im Preis inbegriffen ist oder nicht. Das Papier enthält im übrigen noch weitere hochinteressante Beispiele sowie eine Theorie der Sichtbarkeit von Steuern.

b) Strassengebühren: Werden die Gebühren elektronisch erhoben – das heisst so, dass sie die Autofahrer nicht jedes mal direkt sehen können, wenn sie eine Bezahlstation passieren – liegen die Gebühren um etwa 20-40% höher im Vergleich zu einer manuellen Bezahlung.

c) Ein besonders spannendes Beispiel ist die US amerikanische property tax (eine Art Grundsteuer, die sich am Wert des Grunstücks/Immobilie misst und die auf Gemeindeebene erhoben wird): Als sichtbarste Steuer wird sich am vehementesten bekämpft. Die Autorinnen erwähnen sogar Steuerrevolten. Dies obwohl die meisten Amerikaner viel viel mehr Einkommenssteuern als property tax bezahlen.

Nun kann man natürlich argumentieren, dass der Vorschlag auf Freiwilligkeit basiert. Doch auch hier gibt es einen Haken: Bei freier Wahl der Art der Steuererklärung dürfte die administrative Belastung für Steuerämter und vor allem für die Arbeitgeber eher steigen als sinken. Die Gefahr besteht, dass die Freiwilligkeit nur der erste Schritt zu einer obligatorischen Quellensteuer ist. Ganz verschwinden wird die Steuererklärung allerdings nie, weil familiäre Verhältnisse und Sonderabzüge (sei es nur für karitative Spenden) mit der Quellensteuer nicht abgebildet werden können.

Es gibt noch einen weiteren Grund gegen die (obligatorische oder freiwillige) Quellensteuer: Die Steuergerechtigkeit. Die Quellensteuer bevorzugt wieder einmal die Schlaueren und Informierteren, die wissen, unter welchen Umständen sich (trotz Quellensteuer) ein Ausfüllen einer Steuererklärung lohnt. Die Daten aus den USA zeigen, dass gerade die weniger gut gebildeten und fremdsprachigen sich scheuen, eine Steuererklärung auszufüllen, auch wenn sie mit Rückzahlungen rechnen dürften. Insofern lohnen sich vielleicht sogar die geringen Investitionen ins Steuererklärungsausfüllen in der Jugend in der Schweiz.

Fazit: Ein geringerer Druck, die Steuern tief zu halten, müsste eigentlich die Linke freuen (und nicht die GLP). Die administrativen Vereinfachungen für den einzelnen sind klein, für die Steueradministration und die Arbeitgeber dürfte es nicht einfacher werden. Und zu guter letzt hilft ein bischen Steuerformularfitness auch der Steuergerechtigkeit. Gescheiter wäre es im übrigen, die Steuererklärung für alle zu vereinfachen.

PS: Ich habe 4 Jahre lang Steuern in den Niederlanden bezahlt, Quellensteuern. Da ich damals Öffentliche Finanzen unterrichtete, füllte ich sozusagen im Selbstversuch dennoch die Steuererklärung aus. Und habe jedes Jahr einen stolzen Betrag zruück erhalten, obwohl ich als Single und nahe bei der Uni wohnend kaum Abzüge machen konnte.

Mehr als Bratwurst und Cervelat

Monika Bütler

Die gestrige SF (Abstimmungs-)Arena zu den Tankstellen war ja ziemlich bedrückend. Bundesrat Schneider-Ammann wirkte total eingeschüchtert (weshalb hat man denn dem armen Mann nicht noch eine zweite Stimme zur Seite gestellt?). Mindestens hatte er gut argumentierende Hinterbänkler. Die Tankstellenchefin Susanna Gubelmann war grandios; bodenständig und schlau: „Wie um Himmels Willen erkläre ich jemandem, dass er zwar 7 Weggli aber keinen Zopf kaufen darf?“.

A propos: Himmels Wille ist offenbar, dass Sonntags- und Nachtarbeit für die Kirche edel, für alle anderen hingegen pfui ist und deshalb verboten werden muss. So etwa die Kurzfassung der gegnerischen Argumentation. Gelernt habe ich auch, dass es offenbar zwei Arten von Menschen gibt: Arbeiter und Konsumenten (oder neudeutsch: Arbeitende und Konsumierende). Oder, etwas anders interpretiert, dass mein arbeitendes ich vor meinem konsumierenden ich per Gesetz geschützt werden muss. Fragt sich nur, wer genau den Schutz bestimmt. Die Gegner der Vorlage wussten es.  Das mit der Kirche als moralischen Kompass hatten wir übrigens früher schon mal. (Bevor ich böse emails erhalte: Ich habe gar nichts gegen die Kirche, ich stamme aus einer katholischen Grossfamilie, zu der auch die erste Schweizer Heilige gehörte).

Es geht zwar in der Vorlage nicht um Sonntags- oder Nachtarbeit, sondern um die Korrektur einer ziemlich unsinnigen Einschränkung des Angebots in der Nacht. Es ist aber durchaus angebracht, den grösseren Kontext der Vorlage anzuschauen. Leider hat dies Bundesrat Schneider-Ammann versäumt. Die Diskussion über die Länge der Ladenöffnungszeiten und die Rolle des Sonntags (als Ruhetag) ist wichtig. Und entgegen aller Vorurteile sind nicht einfach alle Ökonomen partout für unbeschränkte Öffnungszeiten der Läden. Ich erinnere mich an den Vortrag meines Berliner Kollegen Michael Burda (übrigens amtierender Präsident des Vereins für Socialpolitik, des Vereins der deutschsprachigen Ökonom(inn)en). Er wollte eigentlich zusammen mit seinem Brüsseler Kollegen Philippe Weil zeigen, dass die Einschränkung der Ladenöffnungszeiten – songenannte Blue Laws – volkswirtschaftliche Kosten hat.

Herausgekommen ist etwas differenzierteres: Die Blue Laws reduzieren zwar (a) die relative Beschäftigung in einer Volkswirtschaft, erhöhen aber (b) auch die Löhne der Beschäftigten und deren Produktivität und führen (c) erst noch zu tieferen Verkaufspreisen.

Auch andere Studien nehmen sich der Blue Laws an. So finden Yu und Kaffine, dass die Aufhebung des Verbots, am Sonntag Alkohol kaufen zu können, die Alkohol-bedingten Unfallzahlen nicht beeinflusst hat. Hingegen finden Gerber, Gruber und Hungermann, dass die Aufhebung des Verkaufsverbots am Sonntag zu einem doch recht starken Rückgang der Kirchenbesuche führt. Honi soit qui mal y pense. Die Vertreter der Kirche und der linken Parteien haben bestimmt einen viel edleren Grund, das Sonntagsverkaufsverbot beizubehalten: die Sorge um die Stimmbeteiligung. Gerber, Gruber und Hungermann finden nämlich, dass die Stimmbeteiligung unter den Sonntagsverkäufen litt (über den weniger häufigen Kirchenbesuch). Womit wir wieder bei den Abstimmungen wären.

Büchsenravioli

Monika Bütler und Urs Birchler

Wir sind beide in kulinarisch eher bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Kochen war – um es einmal vorsichtig auszudrücken – nicht die Stärke unserer Mütter. Suppen aus dem Beutel (machte man damals so), keine Auswahl, kaum Abwechslung (immer der gleiche Wochenplan), nie Restaurants (schon gar keine im Ausland, da waren wir ohnehin nie (Monika) oder nur auf dem italienischen Zeltplatz (Urs)). Etwas Kompensation brachte, dass alle Gemüse, Früchte und Eier bei Monikas Familie aus eigenem Anbau stammten. Doch „biologisch“ macht die nach 30 Minuten aus dem Wasser gezogenen Kohlrabi auch nicht viel schmackhafter. Kein Wunder hatten wir eine Lieblingsspeise gemeinsam: Büchsenravioli.

Ganz anders unsere Söhne. Sie essen – meist mit Vergnügen – nicht nur die uns damals unbekannten Auberginen, Artischocken und Rucola, sondern auch Barba dei Frati, Trevisano und wie die südlichen Gemüsearten alle heissen. Die Buben kennen nicht nur mehr Tiere aus der freien Natur, sondern auch auf dem Teller (so zum Beispiel Meerschweinchen in Peru). Die Japanische und Thailändische Küche ist ihnen genau so bekannt wie die Schweizerische. Wir gehen zwar in Zürich fast nie ins Restaurant, auf unseren Reisen dafür umso mehr. Und zu guter Letzt bilden wir uns Eltern ein, dass wir einigermassen kochen können. Mindestens tun wir dies oft, gerne und mit frischen Zutaten (teilweise wieder aus eigenem Anbau).

Und dann dies: Als wir uns kürzlich wieder in einer Nostalgiephase an die Büchsenravioli erinnerten, entschieden wir uns, einen Test zu machen. Das Urteil der Söhne war vernichtend: Megafein.

Die obligaten „Learnings“ aus der Geschichte: Vielleicht sind unsere Kochkünste doch bescheidener als wir dachten. Oder – für uns etwas vorteilhafter – die kulinarische Beeinflussbarkeit der Kinder durch die Eltern ist bescheidener als wir dachten. Wir werden uns entsprechend mit Büchsen ausrüsten. Als Notvorrat getarnt.

Gaat oi nüüt aa

Monika Bütler

Mit etwas Verspätung hier meine letzte NZZ am Sonntag Kolumne, publiziert am 14. Juli 2013 unter dem Titel: „Die Privatsache der andern geht uns nichts an: Es geht uns allen am besten, wenn wir uns nicht gegenseitig unsere Freiheit beschneiden.“

Unser Jüngster, durchaus kommunikativ und umgänglich, wird einsilbig wenn er uns etwas über die Schule erzählen soll: „Das gaat oi nüüt aa!“, heisst es dann. Lange vor Edward Snowdens Enthüllungen verbat er sich jede Form von Überwachung. Wer seinen Schulthek auch nur von weitem ansieht, kriegt Ärger. Erzählt er sporadisch doch etwas, dann eher über eine zweckentfremdete Schere im Werken (zum gegenseitig Haare schneiden) als über den Mathetest.

Solange Reklamationen der Schule ausbleiben und seine Noten ungefähr seinem Potential entsprechen, lassen wir unseren Junior in Ruhe. Leistungsauftrag heisst das heute. Dass er dieselbe Informationspolitik – geht Euch nichts an – auch in seinen Aufsätzen zum Thema „Mein Wochenende“ verfolgt, geht uns dann nichts mehr an.

Des Buben Sinn für Nichteinmischung mag etwas ausgeprägt sein, er ist uns aber allen angeboren. Jugendliche wehren sich für mehr Freiräume, gegen die Bevormundung der Eltern, die Einmischung und Überwachung durch Schule und Staat. Sogar die Ökonomen – sonst über vieles uneinig – sind für einmal einer Meinung: Es geht uns allen am besten, wenn der Staat sich nur dann einmischt, wenn dritte – Kinder, die Umwelt, die Steuerzahler – sonst wehrlos zu Schaden kommen. Vorschriften, die in private Abmachungen eingreifen sind im besten Fall unnütz, meistens schädlich und immer teuer.

Schade nur, dass uns dieser Freiheitssinn so schnell abhanden kommt wenn es um andere geht. Die Freiheit der andern ist zwar OK, nur nicht grad im konkreten Fall – bei der Höhe der Fenstersims, in der Buchhaltung der Firma, bei der Zulassung des Kinderbetreuers. Über Politiker und Bürokraten zu schimpfen, greift allerdings zu kurz. Die Vorschläge zur Beschränkung der Löhne, zum Beispiel die 1:12-Initiative, stammen aus der Basis. Genau genommen aus Kreisen, die Freiraum für sich selber lautstark fordern. „Binz bleibt!“ hiess es bis vor kurzem in unserer Nachbarschaft. Den Unternehmen wird ihre legale Binz jedoch aberkannt obwohl wir alle davon profitieren. So ärgerlich sie sind, überrissene Löhne sind Privatsache, solange sie nicht über Steuern teilweise mitfinanziert werden. Beispielsweise in Firmen und Branchen, die direkt oder indirekt vom Staat unterstützt werden. Man wünschte sich, die Jusos würden mit derselben Verve für eine bessere (Finanzmarkt-)Regulierung kämpfen. Eine, die wirklich verhindert, dass sich eine Minderheit auf Kosten der Allgemeinheit Vorteile verschafft.

Die Freiheit der andern ist immer ein Problem. So verschwindet scheibchenweise die Freiheit aller. Widerstand gegen Eingriffe in private Entscheidungen regt sich nicht einmal mehr, wenn eine vorgeschlagene Massnahme direkt fast jeden trifft und niemandem wirklich nützt. So ist die von Bundesrat Berset vorgeschlagene Erhöhung des Mindestrentenalters im BVG von 58 auf 62 Jahre eine starke Einmischung in eine im Grunde rein private Abmachung zwischen Firma/Pensionskasse und den Angestellten. Verliert eine 59-jährige ihre Arbeit, wird sie nur schwer eine neue Stelle finden. Statt der Person einen grösstenteils selbstfinanzierten Rücktritt in Würde zu ermöglichen, generiert die Vorschrift eine individuelle Tragödie, verbunden mit sehr viel höheren Kosten für die Allgemeinheit. Ohne die Möglichkeit zur Frühpensionierung bleiben der Entlassenen nur die IV (wenn sie Glück hat) oder – unter Verlust eines Teils der Versicherungsleistung – ALV und später Sozialhilfe.

Viele Eingriffe in private Entscheidungen mögen für sich alleine genommen klein sein. Zusammen sind sie nicht mehr harmlos. Und mit jeder neuen Einschränkung wächst gerade bei Firmen die Angst, dass in der Zukunft noch mehr kommt. Umso erstaunlicher, wie leichtfertig wir anderen und letztlich gemeinsam uns selber den Ast der Freiheit absägen. Hätten wir doch öfter den Mut wie unser Bengel zu sagen: Das gaat oi nüüt aa!

Vor lauter Krippengezänk den Kindergarten vergessen

Monika Bütler

Meine zweitletzte NZZaS Kolumne, publiziert am 16. Juni 2013 unter dem Titel „Es stimmt etwas nicht mit der Betreuung unserer Kinder: Warum braucht eine Kinderkrippe viel mehr Personal als ein Kindergarten?“.

Schweizer Kinder machen zwischen vier und fünf Jahren einen phänomenalen Entwicklungssprung. Beim Eintritt in den Kindergarten brauchen sie nämlich viel weniger Betreuung als noch Wochen zuvor in der Krippe (oder KiTa, wie man heute sagen muss). In Zahlen: In der Krippe ist auf circa fünf Kinder eine Betreuerin vorgeschrieben. Im Kindergarten genügt eine Person auf 20 Kinder.

Der wirkliche Grund ist freilich weniger spektakulär. Während in den Kindergärten die kantonalen Bildungsdepartemente die Klassengrössen festlegen, werden für die Krippen meist die Empfehlungen des privaten Verbands KiTaS als verbindlich erklärt und durchgesetzt. Dieser hat in mehreren Kantonen auch bei der Ausarbeitung der Gesetzgebung mitgeholfen, sowie die Ausbildung zur Fachperson Kinderbetreuung mitentwickelt.

Nein, dies ist kein KiTaS-Bashing. Der Staat profitiert – und zwar freiwillig – vom Fachwissen privater Institutionen. Auch steht KiTaS mit seinen halbstaatlichen Aufgaben nicht alleine da. Die Richtlinien der ebenfalls privaten Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe Skos etwa gelten fast überall; an ihnen orientieren sich sogar die Gerichte. Branchenverbände unterschiedlichster Couleur beeinflussen die Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik des Landes.

Die Verflechtung von privaten Organisationen und dem politisch-administrativen System ist jedoch nicht unproblematisch. Erstens versuchen private Gruppen mit ihrem Wissensvorsprung, Marktprozesse zu ihren Gunsten zu regulieren. Als faktische Gesetzgeber machen sie der Politik Vorgaben, von denen sie direkt oder indirekt wieder profitieren. Kein Wunder gehen Regulierungsdichte und Ausbildungsanforderungen nur in eine Richtung: nach oben.

Zweitens drückt sich die Regierung durch die Übernahme privater Erlasse vor der Verantwortung. Mit Konsequenzen, die via Subventionen weit in die Finanzpolitik reichen. Die so ausgelagerten Entscheidungen entziehen sich oft der demokratischen Kontrolle.

Drittens verschleiern zahlreiche Outsourcings die wahre Regulierungsdichte im Lande. Wir Schweizer rühmen uns gerne eines schlanken Staates. Zählten wir alle externen marktbeschränkenden Regulierer zur zentralen Bürokratie, wäre unser Regulierungsapparat vielleicht gar nicht so viel kleiner wie der vielgescholtene Wasserkopf in Brüssel.

Nicht dass es in all den genannten Bereichen keine Regeln bräuchte. Zweifelhaft ist nur, ob die von privaten Verbänden ausgearbeiteten Richtlinien wirklich zu einem halbwegs optimalen Ergebnis führen. In der Kinderbetreuung haben wir – als seltenen Glücksfall – eine Vergleichsgrösse: Neben den privat regulierten Krippen gibt es mit den Kindergärten ähnliche, aber staatlich organisierte Institutionen. 

Und hier lässt das viermal höhere KiTa-Betreuungsverhältnis nur einen Schluss zu: Etwas stimmt hier nicht. Denn: Müsste die Grosszügigkeit in der Betreuung nicht eher umgekehrt sein? Immerhin ist der Kindergarten die erste Stufe unseres Bildungssystems, von welcher wirklich alle Kinder profitieren. Und von der wir, spätestens seit den Arbeiten des Nobelpreisträgers James Heckman, wissen, dass sie gerade für sozial benachteiligte Kinder die wichtigste ist. 

Die KiTas-Richtlinien umfassen ja nur den nicht-obligatorischen Bereich der Bildung, könnten man einwenden. Doch gerade dieser Bereich absorbiert viel politische Energie und enorme Steuermittel (weil eben die Regeln so streng sind). Viele benachteiligte Kinder kommen nie in den Genuss dieser Mittel. Sei es nur, weil deren Eltern nicht wissen, wie sie an einen subventionierten Krippenplatz kommen.

Traurig. Der Streit um die Finanzierung der personell so grosszügig zwangs-ausgestatteten Krippen lenkt ab von einer gesellschaftlich viel relevanteren Ausbildungslücke im Kindergarten. Auf den wundersamen spontanen Entwicklungssprung unserer vierjährigen Kinder warten wir nämlich vergeblich.

Bedingungsloses Grundeinkommen: Eine Absage

Monika Bütler

In den letzten Monaten habe ich dermassen viele Anfragen für eine Teilnahme an einer Diskussion zum BGE erhalten, dass ich mich entschlossen habe, meine Antwort aufzuschreiben. Spätere Anfrager erhalten einfach den Link.

Sehr geehrte Dame, sehr geehrter Herr 

Herzlichen Dank für Ihre Einladung, im Rahmen der Veranstaltungsreihe V (Geld; neue Gesellschaftsmodelle; Neuordnung der sozialen Sicherung; …) mit Herrn H (Enno Schmidt; Daniel Häni; Oswald Sigg; …) über das bedingungslose Grundeinkommen BGE zu diskutieren.

Ich muss Ihnen aus drei Gründen absagen.

  1. Ich fühle mich nicht kompetent genug, auf der philosophischen Ebene über das BGE zu diskutieren. (Ich habe ausser zwei, drei Tweets ohnehin noch nie über das BGE geschrieben). Oft wird schon in den Ankündigungen zu Veranstaltungen zum BGE auf die Notwendigkeit eines neuen – natürlich viel besseren Menschenbilds – hingewiesen. Abgesehen davon, dass mir die Idee eines anderen Menschenbilds historisch vorbelastet scheint, stellt sich für mich auch ganz naiv die Frage,  wie ein solches herbeigeredet werden kann. Ich fühle mich allerdings nicht nur nicht kompetent genug, ich habe auch keine grosse Lust, im Abstrakten zu diskutieren. Ohne konkrete Vorschläge wer was wie finanzieren soll, kann man als Gegnerin des BGE nur verlieren. Auch wenn ich in der Zwischenzeit damit leben kann, als unsozial und neoliberal beschimpft zu werden, freiwillig tu ich mir das nicht an.
    (In Klammern: Auf einer philosophischen Ebene kann man auch aus liberaler Sicht für ein BGE eintreten. Easy. Man braucht ja nicht zu sagen, dass man darunter 1200 Franken pro Monat als Grundeinkommen, sowie den Ersatz und aller Sozialversicherungsleistungen versteht. Ich halte diese Attitüde für etwas frivol).
    Sie können eher wieder mit mir rechnen, wenn es weniger um die abstrakte Idee geht, sondern um die politische Diskussion und finanzpolitische Umsetzung.
  2. Meine Woche hat nur 7 Abende, meine Söhne gehen noch zur Schule. Abends arbeite ich nur ausser Haus, wenn ich muss (was immer noch häufig genug ist) oder ich meine Abwesenheit den Kindern (Einschub neu: und meinem Mann) erklären kann. Das kann ich in diesem Fall nicht.  Denn gerade die Verfechter des BGE preisen ihr Modell vollmundig an als Möglichkeit, mehr Zeit für die Familie zu haben. So werden Sie und vor allem meine potentiellen Gegenspieler dafür Verständnis haben müssen,  dass ich die Idee „mehr Zeit mit der Familie“ lieber direkt und privat finanziert umsetze.
  3. Ich mag es nicht,  vor allem als Frau eingeladen zu werden. Es gibt genügend männliche Kollegen, die viel kompetenter als ich über das BGE diskutieren können.  Es ist ja nicht mein Fehler, dass die meisten Initianten männlich sind. Vielleicht allerdings auch kein Zufall (siehe unten).

Sie fragen mich nach Alternativen (eine Frau). Meinen jungen Kolleginnen aus der Ökonomie kann ich nur abraten, sie können nur verlieren. Vielleicht kann ich ihnen dennoch etwas weiterhelfen. Es gibt nämlich zwei Aspekte des BGE, die in der aktuellen Diskussion oft vergessen gehen. Vielleicht finden sie in diesen Kreisen interessante Diskussionsteilnehmer(innen).

  • Wir haben in der Schweiz bereits ein Grundeinkommen, es ist einfach nicht bedingungslos. Doch solange selbst renitente und nicht kooperative Sozialhilfeempfänger Leistungen nahe der heute oft genannten Höhe des BGE erhalten, ist die Bedingungslosigkeit so weit nicht weg. AHV und IV Rentner und Rentnerinnen haben – für mich unbestritten – ein Anrecht auf ein Einkommen, welches um einiges höher liegt als alles, was als BGE finanzierbar wäre. Fragen sie doch jemanden aus dem Bundesamt für Sozialversicherungen oder aus den AHV/IV Stellen (besser noch: eine betroffene Person) wie sinnvoll eine Abschaffung dieser bedingten Leistungen wäre. Wenn ein grosser Teil der Sozialleistungen auch unter einem BGE bedingt ausbezahlt wird, entfällt ein wichtiger Vorteil des BGE.
  • Das BGE wird uns oft als Lösung des Problems der unbezahlten Betreuungsarbeit verkauft. Auf den zweiten Blick scheint mir dies nicht mehr so offensichtlich. Es geht dabei ja nicht primär um die Entschädigung der Betreuungsarbeit, sondern vor allem darum, wer sie macht. Mit einem BGE können wir uns weiter um diese Frage drücken – unter dem Vorwand die Arbeit werde ja entschädigt (was natürlich so überhaupt nicht stimmt, denn das Grundeinkommen erhält man bedingungslos). Wer die Betreuungsarbeit leistet, bleibt ein Machtspiel. Am Schluss werden sich wohl, faute de mieux, meist Frauen in die Betreuungsarbeit schicken, obwohl auch sie mit dem BGE „grösseres“ vorhatten. Wer soll denn die vielen pflegebedürftigen Senior(inn)en der Zukunft betreuen?  Die jungen gesunden und kreativen Männer,  die so vehement hinter der Idee des BGE stehen, werden es bestimmt nicht sein.
    Mein Tipp: Suchen Sie sich für das Panel eine interessante Feministin, die sich schon entsprechend geäussert hat. Sie haben damit erst noch das Problem Frau gelöst.

 So wünsche ich Ihnen einen spannenden Abend und grüsse Sie freundlich

 Monika Bütler

Einkommensverteilung und Lebenszyklus

Monika Bütler

(meine 3.-letzte NZZ am Sonntag Kolumne: publiziert am 19. Mai 2013 unter dem Titel „Bildung bringt nicht mehr Lohngleichheit“)

Ich bin eidgenössische Durchschnitts-Verdienerin. Zugegeben: nicht heute, aber über die ganze Berufslaufbahn gerechnet. Ich habe in den letzten 30 Jahren ziemlich genau den schweizerischen Durchschnittlohn verdient. Dies ohne statistische Tricks: Meine früheren Löhne sind sauber hochgerechnet auf heutige Löhne. Trotzdem lag mein Einkommen während eines Drittels meines Arbeitslebens unter oder nahe der Armutsgrenze. Es ging mir natürlich auch in jenen „armen“ Zeiten gut –  in jungen Jahren dank dem Zustupf der Eltern; später half der Griff in den Sparstrumpf über die kargen Zeiten.

Bestünde die Schweiz nur aus verschiedenen Jahrgängen meiner selbst, betrüge der Gini-Koeffizient ungefähr 0,46. Der Gini ist ein Mass für die Ungleichheit zwischen null (alle verdienen gleich viel) und eins (einer kriegt alles). Mein „Lebens-Gini“ entspricht damit ungefähr dem der Einkommensverteilung in den USA; die Schweiz ist mit gut 0,3 deutlich ausgeglichener. Am Rande bemerkt: Würde ich heute als Chefin meine früheren Kopien anstellen, käme ich sogar in die Nähe von 1:12. Mehr als heute dürfte ich dann aber nicht mehr verdienen.

Glücklicherweise besteht die Schweiz nicht nur aus Jahrgangs-Klonen meiner selbst. Das Gedankenexperiment illustriert aber klar: Der punktuelle Blick auf die Einkommens- und Vermögensverteilung wird der Wirklichkeit oft nicht gerecht. Mein Einkommensprofil ist zwar nicht repräsentativ, aber auch nicht so aussergewöhnlich. Denn zu jedem Zeitpunkt leben in einem Land Menschen in den unterschiedlichsten Phasen im Lebenszyklus. Auch eine reiche Frau wird zwangsläufig manchmal in ihrer „Armutsphase“ registriert – sei es nur wegen eines Zweitstudiums oder einer umgebauten Küche.

Politische Vorstösse zur Einkommensverteilung haben Hochkonjunktur. Die Einkommensschere hat sich geöffnet, wenn auch moderat und nicht stärker als in den 1970er Jahren. Zudem ist für viele die fehlende Bodenhaftung einiger Spitzenverdiener das grössere Ärgernis als die Lohnschere an sich. Gerade deswegen ist es wichtig, die Rolle des Lebenszyklus in der Einkommensverteilung nicht zu vergessen. Die gemessene Ungleichheit kann nämlich ohne grundlegende Änderung im Lohngefüge zunehmen. Dies über drei Kanäle: Ausbildung, Berufstätigkeit der Frauen, Alterung der Gesellschaft.

Frauen: Früher zogen sich Mütter aus dem Arbeitsleben zurück, heute bleiben viele berufstätig – vor allem solche mit tiefen Löhnen (weil sie arbeiten müssen und die Kinderbetreuung subventioniert erhalten) und solche mit hohen Löhnen. Mütter aus dem Mittelstand hingegen werden mit einem absurden Subventions- und Steuerregime aus dem Arbeitsmarkt geekelt. Dazu kommt, dass sich das Bildungsniveau der Ehepartner immer mehr annähert; gleich und gleich gesellt sich heute lieber als früher. Beides zusammen führt im Quervergleich zu mehr gemessener Ungleichheit.

Demographie: Abschlussklassen einer Ausbildung ähneln sich alle; mit jedem Klassentreffen aber werden die Unterschiede innerhalb der Klasse grösser. Je mehr Menschen im fortgeschrittenen Alter es in einem Land gibt, desto grösser fallen auch die Einkommensunterschiede aus, ohne dass sich – ausser der Demographie – etwas ändert.

Ausbildung: Eine berufliche Weiterbildung oder eine akademische Laufbahn vergrössert die Einkommensunterschiede über den Lebenszyklus automatisch. Wie in meinem Fall: In jungen Jahren sind die Einkommen wegen Studium und Praktika gering, später schlagen sich die Ausbildungsinvestitionen (hoffentlich) in höheren Löhnen nieder.

Ironie der Politik: Gerade die Investitionen in die Bildung eint rechte und linke Kreise im Bestreben nach mehr Wohlstand. Mehr Gleichheit sollten sie dabei nicht erwarten: Bildungsinvestitionen mögen die gefühlte Ungleichheit verringern. Die gemessenen Einkommensunterschiede in der Volkswirtschaft verkleinern sie dagegen kaum.

 

 

Zur Emeritierung von Gebhard Kirchgässner

Monika Bütler

Mein HSG Kollege und Mit-Batzer Gebhard Kirchgässner wird auf Ende des Frühlingssemesters 2013 emeritiert (Nein, nicht eremitiert, wie es kürzlich einmal irrtümlich in einem Dokument stand). Gebhard wird uns an allen Enden und Ecken fehlen, als freundlicher aber auch immer wieder kritischer Kollege, als Lehrer. Als Freund, Forscher und Mit-Batzer bleibt er uns glücklicherweise erhalten. Hier meine Würdigung, die ich für den HSGFocus verfasst habe:

On Minimal Morals“, „Econometric Estimates of Deterrence of the Death Penalty: Facts or Ideology?”, “Introduction to Modern Time Series Analysis”, “The Effect of Direct Democracy on Income Redistribution: Evidence for Switzerland”, und “Kaderschmieden der Wirtschaft und/oder Universitäten? Der Auftrag der Wirtschaftsuniversitäten und -fakultäten im 21. Jahrhundert“. Die schwindelerregende Breite der von Gebhard Kirchgässner in Forschung und Lehre abgedeckten Themen stellte die School und die verantwortliche Dekanin vor ein unlösbares Problem. Es hätte mindestens drei Wissenschaftler gebraucht um die Lücken zu schliessen. Selbst in Zeiten ohne Budgetkürzungen ein frommer Wunsch.

Mit Gebhard Kirchgässner wird nicht nur die Vielseitigkeit in Person emeritiert, sondern auch eine moralische Instanz und ein Brückenbauer zwischen verschiedenen Strömungen der Ökonomie, zwischen Theorie und Praxis. Vor allem aber ein brillanter Volkswirt, hochgeschätzter Kollege und Freund.

Gebhard Kirchgässner studierte und promovierte an der Universität Konstanz. Nach seiner Habilitation an der Universität Konstanz und der ETH Zürich wirkte er als Oberassistent an der ETHZ bevor er 1985 als ordentlicher Professor für Finanzwissenschaft an die Universität Osnabrück berufen wurde. Trotz seines – aus heutiger Perspektive – eher traditionellen Werdegangs: Mit Gebhard Kirchgässner kam 1992 ein Vertreter der modernen Generation von Volkswirtschaftsprofessoren – forschungsorientiert und international vernetzt – an die HSG. Zusammen mit seinen damaligen Kollegen leitete er die Modernisierung der volkswirtschaftlichen Abteilung ein und legte so die Grundlage der Erfolge der School in Forschung, Lehre und Wirtschaftspolitischem Engagement.

In der Lehre ist Gebhard Kirchgässner kein Entertainer, er glänzt vielmehr durch Tiefgang und ein enormes Wissen auch in anderen Disziplinen, insbesondere der Philosophie und der Wissenschaftstheorie. Für die SEPS ist er ein wichtiges Bindeglied zwischen den beiden Disziplinen Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft. Gebhard prägte den Kontext lange bevor es das Kontextstudium an der HSG gab.

Gebhard Kirchgässner gehört seit Jahren zu den profiliertesten und erfolgreichsten Wirtschaftswissenschafter der Schweiz, was sich in mehr als 130 Aufsätzen in Fachzeitschriften (darunter auch in internationalen Top Journals) sowie zahlreichen weiteren Publikationen zeigt. Dabei schreibt er nicht nur für seine Forscherkolleginnen, sondern auch für Studierende, Politiker und die Allgemeinheit.

Die neue politische Ökonomie, die angewandte Ökonometrie, vor allem aber die Finanzwissenschaft mit all ihren Facetten gehören zu seinen Hauptforschungsgebieten. Gebhard Kirchgässner ist einer der Väter der empirischen Forschung zu Föderalismus und Fiskalpolitik. Die Schweiz mit ihren dezentralen Entscheidungsstrukturen und der Vielfalt politischer Systeme diente ihm dabei als Labor. Viele seiner Doktorand(inn)en, die ihn bei diesen Arbeiten begleiteten, sind heute selber erfolgreich in Forschung und Wirtschaftspolitischer Beratung im In- und Ausland tätig. So ist Gebhard sozusagen der akademische Vater von Frau Merkels Schuldenbremse(r).

A propos Schweiz: „Wie viel Schweiz muss in einem Produkt drin stecken, damit Schweiz draufstehen darf?“ fragte sich das Parlament kürzlich im Rahmen der Swissness Vorlage. Obwohl erst vor wenigen Jahren eingebürgert, steckt bei Gebhard Kirchgässner sehr viel Schweiz drin; seine lokale Verankerung ist beispielhaft. In seiner Wohngemeinde engagiert er sich in der Geschäftsprüfungkommission, er nahm unzählige politische Beratungsmandate für die Eidgenossenschaft wahr und präsidierte bis 2007 die eidgenössische Kommission für Konjunkturfragen.

Eine Würdigung von Gebhard Kirchgässner wäre unvollständig ohne einige Worte zu seiner Persönlichkeit. Zwei – nur auf den ersten Blick altmodische – Eigenschaften kommen mir dabei in den Sinn: Treue und Ehrlichkeit. Was Gebhard Kirchgässner sagt, meint er auch. Das ist natürlich ausgesprochen angenehm. Allerdings: Was er meint, sagt er auch. Das ist dann nicht immer so gemütlich, weil Gebhard auch unangenehme Wahrheiten ausspricht, wenn es der Sache dient.

Wer von Gebhard einen Rat erhält, tut gut daran, ihn zu befolgen. Oder aber sich genau und ehrlich zu überlegen, weshalb man seinen Rat nicht befolgen möchte. Gebhards Prinzipientreue und Aufrichtigkeit sind in unserer Zeit geradezu hochmodern.

Im Verlaufe seiner Forschertätigkeit erhielt Gebhard Kirchgässner zahlreiche Preise und Ehrungen. Die wichtigste Auszeichnung: Das Ehrendoktorat der Universität Freiburg im Uechtland im Jahre 2011. Hoch verdient, wie wir finden. Einen Ehrenplatz wird Gebhard in der School ohnehin erhalten. Allerdings hoffen wir, dass er uns als Sparringpartner und Lehrer noch lange erhalten bleibt. Als Freund sowieso.

Warum Deutsche weniger vermögend sind als Griechen

Monika Bütler

(Kolumne NZZ am Sonntag, 21. April 2013)

Wohlgenährte deutsche Häuslebauer, bedürftige Griechen – an die Bilder haben wir uns gewöhnt. Nun werden sie gestört: Die vor kurzem veröffentlichten Statistiken der Europäische Zentralbank wollen so gar nicht passen zu den armen Südeuropäern, die von den knausrigen Deutschen kurz gehalten werden. Deutsche Haushalte sind im Mittel weniger vermögend als die Haushalte in Italien, Spanien, Griechenland und Zypern.

Eine Sensation, würde man meinen. Anders als viele Studien, die es in die Schlagzeilen schaffen, stammen die Zahlen aus einer langjährigen und wissenschaftlich seriös durchgeführten Datenerhebung. Also: europaweit grosse Zeitungsartikel? Weit gefehlt: Die Resultate werden nur verschämt präsentiert. Selbst in Deutschland üben sich Medien und Politik nur ein einem: dem verzweifelten Versuch, Deutschland reich zu rechnen.

Viele Gründe werden angeführt, weshalb den Statistiken nicht zu trauen sei. Die Haushalte seien unterschiedlich gross. Die Hauseigentümer-Quoten und die Entwicklung der Immobilienpreise seien von Land zu Land sehr verschieden. Das stimmt alles. Nur: Die Lektüre des Berichts samt Methodenteil haben sich die Kommentatoren offenbar erspart: Da steht nämlich alles schon drin. Also auch, dass Haushaltgrösse und Immobilienpreise nicht reichen, um das Bild umzukehren. Wie man es auch immer dreht und wendet: Südliche Haushalte haben nicht weniger Vermögen als die nördlichen. Dabei behauptet niemand, Deutschland sei arm. Die Suche nach dem richtigen Trick, Deutschland doch noch reich aussehen zu lassen, ist ohnehin müssig. Viel gescheiter wäre es, zu fragen, weshalb die deutschen Haushalte im Vergleich zu den südlichen so arm an Vermögen sind. Oder mindestens so aussehen.

Mein Versuch einer Erklärung: Die Deutschen können, müssen und wollen weniger sparen.

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