Jungfräuliche Abwertung

Monika Bütler

Eine Abwertung der Währung kann positive Auswirkungen auf die wirtschaftliche Situation eines Landes haben. Erstens reduziert sie den Realwert der ausstehenden Schulden (allerdings nur fall diese in der eigenen Währung ausgestellt sind). Zweitens
verbessert eine Abwertung das reale Austauschverhältnis (terms of trade)
zwischen In- und Ausland und somit die internationale Wettbewerbsfähigkeit.
Gerade dieser zweite Einflusskanal wäre für Länder wie Griechenland sehr
wichtig, um aus der Abwärtsspirale auszubrechen. Doch Griechenland und andere
Krisenländer haben keine eigene Währung.

In einem neuen Forschungspapier zeigen Emmanuel Farhi (Harvard), Gita Gopinath (Harvard) und Oleg Itskhoki nun, dass ein Land auch ohne eigene Währung – und somit ohne eigene Geldpolitik – „abwerten“ und so das reale Austauschverhältnis
verbessern kann. Eine geeignete „fiskalische Abwertung“, wie es die
Autoren bezeichnen, hat die gleichen Auswirkungen wie eine eigentliche
Abwertung der Währung. Erreicht wird eine solche fiskalische Abwertung durch
eine Erhöhung der Mehrwertsteuer mit einer gleichzeitigen Senkung der
Einkommenssteuern. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer verteuert die Importgüter
und verbilligt die Exporte im Vergleich zu den inländischen Verkaufspreisen, da
Exporte von der Mehrwertsteuer ausgenommen sind und die Lohnkosten wegen der
reduzierten Einkommenssteuer sinken. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer wirkt
damit ähnlich wie eine Steuer auf Importprodukten. Die gleichzeitige Reduktion
der Einkommenssteuer stellt sicher, dass sich die inländischen Produkte für die
Inländer real nicht verteuern. Der Gesamteffekt ist daher der gleiche wie eine
direkte Abwertung der Währung durch die Geldpolitik. Farhi, Gopinath und
Itskhoki zeigen, dass die Gleichwertigkeit einer „normalen“ Abwertung
und einer fiskalischen Abwertung unter den meisten realistischen Bedingungen
gültig ist.

Besteht demnach doch noch Hoffnung für Griechenland? Nur zum Teil. Die fiskalische Abwertung funktioniert nur, wenn die Exporte tatsächlich von der Mehrwertsteuer
ausgenommen werden. Für den für Griechenland so wichtigen Tourismus ist dies nicht  der Fall.

Nachtrag: Peter Moser (siehe Kommentar) hat mich drauf aufmerksam gemacht, dass in der ersten Version dieses Beitrags noch ein Fehler war: Fälschlicherweise habe ich angenommen, dass innerhalb der EU kein Ausgleich der Mehrwertsteuer an der Grenze besteht. Wie Peter Moser ausführt wird auch innerhalb der EU die inländischen Mehrwertsteuer zurückerstattet und die Mehrwertsteuer des Ziellandes belastet.

 

Höhere Renten für Dicke!

Monika Bütler

Der Bundesrat hat beschlossen, die Pensionskassen zu ermächtigen, Umwandlungssätze in der beruflichen Vorsorge nach Risikoverhalten abzustufen. Normalgewichtige  tragen mit ihrer Lebensweise massgeblich zur Explosion der Rentenkosten bei der AHV und den Pensionskassen bei. Dieses Risikoverhalten der Dünnen soll künftig durch eine Reduktion der BVG-Altersrenten um bis zu 15 Prozent kompensiert werden.

Natürlich stimmt diese Meldung nicht. Nicht ganz, respektive. Doch seit eine mehr als fragwürdige Studie einer 53% Mehrheit der Schweizer(innen) ein zu grosser Bauchumfang attestierte, geistert das Gespenst der risikogerechten Prämie in der Krankenversicherung wieder herum. Logisch zu Ende gedacht, müsste daher den (angeblich) Dicken nicht nur höhere Krankenkassenprämien in Rechnung gestellt werden. Nein, sie müssten im Gegenzug von der tieferen Lebenserwartung „profitieren“, das heisst für den kürzeren Ruhestand höhere Renten erhalten.

Risikogerechte Prämien in den obligatorischen Sozialversicherungen führen nicht nur zu bürokratischen Leerläufen sondern auch zu verteilungspolitische unerwünschten Resultaten.

Ärmere Menschen haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, übergewichtig zu sein. Beim Gewicht kann noch mit «Selbstverschulden» argumentiert werden. Doch die Grenze zwischen beeinflussbaren und nicht beeinflussbaren Risikofaktoren ist fliessend. Ebenso wichtig scheint mir eine andere Auswirkung von immer komplizierteren Versicherungsverträgen. Die Teilzeit arbeitende Städterin, die regelmässig das Fitnessstudio aufsucht, wird eher Zeit und den Zugang zu relevanten Informationen haben, den für sie günstigsten Vertrag in der «risikogerechten» obligatorischen Krankenversicherung zu suchen, als die ebenfalls schlanke Bergbäuerin.

Die beiden kursiv gedruckten Paragraphen stammen (leicht abgeändert) aus einer NZZaS Kolumne von mir (ich habe mich damals schon über die Forderung nach risikogerechten Krankenkassenprämien für Raucher und Dicke geärgert). Der ganze Text kann hier nachgelesen werden.

Glückwünsche im Multipack

Monika Bütler

Auf die Schnelle herzliche Gratulation an unsere wirtschaftspolitisch aktiven Kollegen:

  • Elsa Fornero (Universita die Torino) als Arbeits- und Sozialministerin in der neuen italienischen Regierung um Mario Monti.
  • Stefan Bühler (Universität St. Gallen) zur Wiederwahl als Vizepräsident der Wettberwerbskommision (WEKO).
  • Armin Schmutzler (Universität Zürich) und Winand Emonds(Universität Bern ) als neue Mitglieder der WEKO. 

     

 

Herzliche Gratulation Gebhard Kirchgässner

Monika Bütler

Eine grosse Ehre für unseren Mit-Batzer Gebhard
Kirchgässner. Am heutigen dies academicus der Universität Freiburg i.Ü. wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
verliehen. Die offizielle Würdigung findet sich hier.

Für uns ist Gebhard ein brillanter Denker und Lehrer, der
sich nie zu schade ist, in der aktuellen Debatte mitzumischen.

 

Die Franken und der Euro

Monika Bütler

Heute, wie fast jeden Mittwoch abend, mit unserem 4.-Klässler Diktat geübt – jeweils ein besonderes Vergnügen beiderseits. Auch weil die Texte meist so künstlich sind, dass es weh tut (Seeelefanten bei der Kleeernte). Doch diesmal war der Text in Ordnung:

„Wie eine Stadt zu ihrem Namen kam: In einem Krieg gegen die Sachsen musste Kaiser Karl der Grosse mit seinem fränkischen Heer fliehen. Als sie an den Main kamen, lag dichter Nebel über dem Fluss. Wo war die Furt, über die man sich ans andere Ufer retten konnte? In seiner Not kniete der Kaiser nieder und betete. Und siehe da: Wie durch ein Wunder trat die Sonne hervor. Die Franken konnten nun sehen, wie eine weisse Hirschkuh mit ihrem Kalb sicher den Fluss durchschritt. Rasche folgten sie ihr durch die Furt. Hinter ihnen schloss sich die Nebelwand wieder. Die Franken waren gerettet. An dieser Furt entstand eine Stadt. Weisst du, wie sie heisst?“

Aus Jux habe ich den drittletzten Satz abgeändert in „Der Franken war gerettet“. Wirklich? Fragte Peter und war nun definitiv wieder wach. Dann meinte er – deutlich besser gelaunt, ich müsse in meinem nächsten Zeitungsartikel unbedingt folgendes schreiben: Der Euro warte immer noch darauf, dass sich der Nebel lichte und sich eine Furt finden liesse, über die man sich ans bessere Ufer retten könne. Das habe ich hiermit getan (und mir dabei gedacht, dass wir daheim wohl zuviel über die Krise sprechen).

Vielleicht würde in der Eurokrise beten helfen. Aber wer müsste dann an Kaisers statt beten? Und ob sich dadurch die Sonne erweichen und eine Hirschkuh finden liesse, die den Weg weisen könnte? Vorschläge für zeitgemässe Begriffe an Stelle von Kaiser, beten, Sonne und Hirschkuh gerne als Kommentar.

Der Zirkus um Hort, Schule und Mittagstisch

Monika Bütler, Kolumne NZZ am Sonntag, 6. November 2011

Die Tagesstrukturen an unseren Schulen sind nicht kindergerecht.

Die für Bildung zuständige Zürcher Regierungsrätin Regine Aeppli hat ein ernstes Problem: Internationale (private) Schulen sind zu populär.  Konsequenterweise wird der Zugang für nicht belegbar internationale Kinder eingeschränkt. Über diesen Blödsinn lohnt sich eigentlich gar nicht zu schreiben. Wenn da nicht noch ein anderer Grund wäre, weshalb Eltern ihre Kinder unter hohen Kosten an internationale oder zweisprachige Institute schicken: Die Tagesschulstruktur.

Das neue Volksschulgesetz schreibt den Gemeinden zwar vor, eine Tagesbetreuung für die Kinder zu gewährleisten. Diese sieht dann aber so aus: Vorschulbetreuung im Hort mit Gruppe A, Unterricht in der Klasse im Schulhaus ennet der Strasse, Mittagstisch mit Gruppe B, Unterricht in der Klasse im Schulhaus, Nachmittagsbetreuung im Hort mit Gruppe C. Vier Wechsel, vier verschiedene Gruppen, zwei bis drei unterschiedliche Lokalitäten, mehrere Bezugspersonen. Kein Wunder konnten unsere damaligen australischen Nachbarn kaum glauben, dass wir dies in der Schweiz unserem Nachwuchs zumuten.

Oder eben nicht zumuten: Viele Eltern ersparen ihren Kindern die zerhackte Tagesstruktur und schicken sie lieber an private (internationale) Tagesschulen. Öffentliche Tagesschulen haben – Volksschulgesetz und Nachfrage hin oder her – in der Politpraxis keine Chance. Kaum packt eine Partei das Thema an, kommen die ABERs im Multipack. Erstens: Die Kinder litten unter der Tagesschule. Dafür gibt es zwar keine Belege, aber eigentlich spräche auch nichts dagegen, den Eltern die Wahl zu lassen. Ein Teilübergang zu Tagesschulen geht dann aber, zweitens, auch nicht, da Kinder in Tagesschulen Vorteile hätten. Eben dachten wir noch, dass die bedauernswerten Kinder unter Tagesschulen litten.

Kinder wollen, drittens, lieber zu Hause essen. Natürlich ist es daheim gemütlicher, vor allem wenn es keine Tagesschule gibt – und daher ein Elternteil da sein muss. Die Mütter organisieren sich lieber selber, statt die Kleinen dem Hort-Schule-Mittagstisch-Schule-Hort Karussell zu überlassen.

Viertens sei es den Kinder nicht zuzumuten, die Betreuungszeit im Schulhaus zu verbringen und die Mahlzeit im Schulzimmer einzunehmen. Das mitgebrachte Sandwich oder eine vorbereitete Mahlzeit im Tupperware ist natürlich viel zu ungesund. In der Schule gekochtes Essen wiederum bleibt an Hygiene- und Bauvorschriften hängen. Zum Beispiel weil es unmöglich ist, ein (vielleicht nicht einmal ordnungsgemäss gewaschenes) Salatblatt in regelkonformem Abstand an der WC-Tür vorbeizulotsen.

Es werde, fünftens, den Kindern im heutigen System viel geboten. Doch weshalb senden dann gerade gut ausgebildete Eltern ihre Kinder auf private Tagesschulen? Dort erhalten sie für das Doppelte der ziellosen Hort-Mittagstisch-Betreuung nicht nur eine Tagesschule aus einem Guss plus Fremdsprache; die Tageschule leistet auch erfolgreich Integration.

In Zeiten knappen Wohnraums leisten wir uns zudem eine unglaubliche Verschwendung von Platz. Eines der Gebäude, Hort oder Schulhaus, steht immer leer. Kein Wunder sind die Vollkosten der Tagesbetreuung mit 60 Franken pro Tag horrend. Die Kostenbeteiligung der Eltern von nur 20% dürfte gerade den Verwaltungsaufwand decken. Würde der Hort-Schul-Mittagstisch-Zirkus zu kostendeckenden Preisen kalkuliert, Tagesschulen wären wohl auch finanziell schnell zumutbar.

Es geht nicht darum, Mütter von Ihren Kindern zu trennen. Die Kinder nicht berufstätiger Mütter verbringen nämlich an Tagesschulen kaum mehr Stunden als im herkömmlichen Schulbetrieb. Alle anderen Kinder aber leiden heute unter einer perfektionistischen und gleichzeitig planlosen „Strategie“. Höchste Zeit, mit der ungeeigneten Tagesstruktur und der damit verbundenen Verschwendung von Steuergeldern aufzuräumen und Platz zu machen für richtige Tagesschulen – auch für nicht internationale Familien.

Im Andenken an Hans Wolfgang Brachinger

Monika Bütler

Am 30. Oktober ist unser Kollege Hans Wolfgang Brachinger, Professor für Statistik an der Universität Freiburg i.Ü. im Alter von nur 60 Jahren verstorben. Hans Wolfgang hat sich neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit auch immer stark in der Wirtschaftspolitik und der Öffentlichkeitsarbeit engagiert. Und er konnte ausgezeichnet schreiben, verständlich und klar. Kein Wunder fanden Beiträge zur gefühlten Inflation in der Presse viel Beachtung, seine Aufsätze in der Oekonomenstimme gehören zu den meistgelesenen. Es lag ihm sehr am Herzen, Missverständnisse in der Interpretation von Daten und Statistiken auszuräumen. Dieses aufklärerische Ziel verfolgt auch mein Lieblingsaufsatz von ihm, ein Beitrag zur Diskussion um das Buch von Thilo Sarrazin. Darin schreibt er zum Beispiel:

„Die statistische Naivität eines Thilo Sarrazins paart sich mit der statistischen Ignoranz der Bescheidwisser in den Medien.“

 

Wir werden ihn vermissen.

Wirtschaft auf dem Prüfstand: Wo steht die Schweiz? (Sternstunden der Philosophie)

Monika Bütler

Ein Hinweis in eigener Sache:

Die heutige Sternstunde der Philosophie des Schweizer Fernsehens SF1 befasste sich mit den Folgen der globalen Wirtschaftskrise für die Schweiz.

Die (nicht immer einfachen) Fragen stellte Katja Gentinetta. Die Sendung wird wie folgt wiederholt (und später im Internet verfügbar).

 

Nobelpreise gut geschüttelt

Monika Bütler

Dass es nicht ganz einfach ist, die Entscheidung aus
Stockholm zu antizipieren, ist verständlich. Aber die letzten zwei Jahre
präsent zu haben, sollte im Vorfeld der Wahl keine Hexerei sein. Dennoch meldet
Reuters froh:

„Im vergangenen Jahr wurden zwei Amerikaner und eine in Zypern geborene Britin für ihre Verdienste um die Arbeitsmarktforschung geehrt.“

Die in Zypern geboren Britin heisst Christopher Pissarides und der schien mir bei der letzten Begegnung ziemlich männlich. Bei der weiblichen Nobelpreisträgerin handelt es sich um Elinor Ostrom, welchen den Preis im Jahr zuvor erhalten hatte.

Die Agenturmeldung von Reuters wurde von vielen Zeitungen, selbst von der NZZ ungelesen übernommen.

Zu guter Letzt: herzliche Gratulation an Thomas Sargent (männlich) und Christopher Sims (männlich), sie haben den Preis hoch verdient!

 

Ist eine drei in Mathe wirklich cool?

Monika Bütler

Wie alle Teenager wollte ich ab und zu meine Eltern ärgern. Dies gelang mit einem einfachen Rezept. Ich sagte ihnen abwechselnd, dass ich Ethnologie oder Japanologie oder Psychologie studieren möchte. Für meine Eltern war die akademische Welt schon weit genug weg, aber wenn schon unbedingt studieren, dann etwas „nützlicheres“. Mein Interesse an den drei genannten Fächern blieb auch im Mathematik- und Physikstudium. Japanologie hätte ich sogar als zweites Nebenfach abgeschlossen, wäre ich nicht an der damals noch existierenden Lateinhürde gescheitert.

Mit meinem Interesse auch für Geistes- und Sozialwissenschaften bin ich wohl eine ziemlich normale Vertreterin der Natur- und Ingenieurwissenschaften, auch wenn ich später in die Wirtschaftswissenschaften gewechselt bin. Umso mehr ärgert es mich, welch schlechten Ruf die Absolventen naturwissenschaftlicher und technischer Studienrichtungen haben: Fachidioten, Nerds, usw. Die heutige Kolumne in der NZZ am Sonntag trug ich daher schon lange in Gedanken (und in einigen Notizen) mit mir rum. Letztlich hat mir der Aufsatz von Michael Furger in der NZZaS vom 18. September den notwendigen Tritt gegeben, diese Kolumne endlich aufzuschreiben.

Hier also die Kolumne:

„Wer nur „Nützliches“ studiert, bleibt ein armer Tropf“, stand vor drei Wochen in dieser Zeitung. Stimmt genau, dachte ich mir. Nicht ganz aus demselben Grund wie der Autor jenes Artikels, Michael Furger.

Und tatsächlich: Wer eine technische oder naturwissenschaftliche Ausbildung wählt, muss sich ab und zu als Trottel fühlen. Das Studium ist anspruchsvoll und zeitraubend. Auf dem Arbeitsmarkt ist der Ingenieur zwar hoch begehrt, aber nur mittelmässig bezahlt. Und wenn dies nicht schon genug wäre: Die Mathematikerin und der Naturwissenschaftler gelten auch noch als weltfremd, asozial und unattraktiv, der Informatiker als Berufs-Autist. Auf gut neudeutsch: als Fachidioten ohne Reflexions- und kulturelle Kompetenz.

Kein Wunder tun sich dies viele nicht mehr an. Weshalb sollten sie: Die Nützlichkeit des Fachs klebt Ihnen doch wie Dreck an den Fingern. Die aristokratische Verachtung nützlicher Tätigkeiten gegenüber der Kontemplation fasst auch in der republikanischen Schweiz Fuss. Eine Firma, die aus Mangel an Ingenieuren ins Ausland abwandert, erregt die Gemüter kaum. Dies paradoxerweise in einem Land, dessen wichtigste Rohstoffe Ausbildung und Forschung sind, und das in Naturwissenschaft und Technik zur internationalen Spitzengruppe gehört.

Wo steckt der Wurm? Wer sich etwas umhört merkt schnell: In breiten Kreisen gilt als cool, wer in Mathematik schlechte Noten hatte. Kein Mathematiker käme hingegen auf die Idee, sich mit ungenügenden Sprachkenntnissen zu brüsten.

Technische Fähigkeiten stehen schon in der Schule hinten an. Das Mathematik-Übungsblatt ist nur auf den zweiten Blick als solches zu erkennen. Addieren und Multiplizieren alleine geht nicht, die Rechnungen werden in Geschichten verpackt. Dagegen hätte ich grundsätzlich nichts, wären neben der sprachlich angereicherten Mathematik nicht ohnehin eine Mehrheit der Prüfungsleistungen in sprachlichen Fächern abzulegen. Einseitig mathematisch begabte Kinder haben es schwerer als einseitig sprachbegabte.

Dass die bedauernswerten Tröpfe mit nützlichen Studien kein zweckfreies Wissen besässen, ist natürlich Unfug. Dazu müssten sie nicht nur während der gesamten Gymnasialzeit tief geschlafen haben, sondern auch nachher. Die ETH verlangt von allen Student(inn)en Leistungen in Sozial- und Geisteswissenschaften. An der HSG müssen sogar 25% der Credits im (mehrheitlich geisteswissenschaftlichen) Kontextstudium absolviert werden, nicht zuletzt auf Kosten der technischeren Methodenfächer. Von den Phil-I Fakultäten wären mir entsprechende Anforderungen in technischen Disziplinen hingegen nicht bekannt.

Der Ruf nach ganzheitlicher Bildung ist deshalb eine Einbahnstrasse geblieben. Der Eindruck, dass Naturwissenschaften und Technik, aber auch Wirtschaftswissenschaften im humanistischen Bildungsideal zweitklassige Wissenschaften sind, schlägt sich in den Köpfen nieder. Dabei spielt es keine Rolle, dass es ohne Physiker beispielsweise weder Computer noch andere elektronische Geräte gäbe.

Niemand wünscht sich eine Welt, in der nur direkt nutzbares Wissen Platz hat. Das Nachdenken über die Folgen der heutigen Entwicklung, deren historische und sozialpolitische Einordnung ist wichtig. Nur müssen wir aufpassen, dass uns vor lauter Reflexion nicht genau die Leute ausgehen, welche die Grundlage für diese Reflexionen erst schaffen. Immerhin ist bis heute noch keine Firma aus Mangel an Sozial- und Geisteswissenschaftlern ins Ausland abgewandert.

Nach einem halben Jahrhundert darf man sich zum Geburtstag etwas Utopisches wünschen. So wünsche ich mir heute mehr gesellschaftliche Anerkennung für Naturwissenschaft und Technik. Den Menschen, die sich damit befassen, verdanken wir nicht nur unseren Wohlstand. Denn – Hand aufs Herz – von wem, wenn nicht von Atomphysikern, Biochemikern und anderen, haben wir denn unser Weltverständnis?