Ist eine drei in Mathe wirklich cool?

Monika Bütler

Wie alle Teenager wollte ich ab und zu meine Eltern ärgern. Dies gelang mit einem einfachen Rezept. Ich sagte ihnen abwechselnd, dass ich Ethnologie oder Japanologie oder Psychologie studieren möchte. Für meine Eltern war die akademische Welt schon weit genug weg, aber wenn schon unbedingt studieren, dann etwas „nützlicheres“. Mein Interesse an den drei genannten Fächern blieb auch im Mathematik- und Physikstudium. Japanologie hätte ich sogar als zweites Nebenfach abgeschlossen, wäre ich nicht an der damals noch existierenden Lateinhürde gescheitert.

Mit meinem Interesse auch für Geistes- und Sozialwissenschaften bin ich wohl eine ziemlich normale Vertreterin der Natur- und Ingenieurwissenschaften, auch wenn ich später in die Wirtschaftswissenschaften gewechselt bin. Umso mehr ärgert es mich, welch schlechten Ruf die Absolventen naturwissenschaftlicher und technischer Studienrichtungen haben: Fachidioten, Nerds, usw. Die heutige Kolumne in der NZZ am Sonntag trug ich daher schon lange in Gedanken (und in einigen Notizen) mit mir rum. Letztlich hat mir der Aufsatz von Michael Furger in der NZZaS vom 18. September den notwendigen Tritt gegeben, diese Kolumne endlich aufzuschreiben.

Hier also die Kolumne:

„Wer nur „Nützliches“ studiert, bleibt ein armer Tropf“, stand vor drei Wochen in dieser Zeitung. Stimmt genau, dachte ich mir. Nicht ganz aus demselben Grund wie der Autor jenes Artikels, Michael Furger.

Und tatsächlich: Wer eine technische oder naturwissenschaftliche Ausbildung wählt, muss sich ab und zu als Trottel fühlen. Das Studium ist anspruchsvoll und zeitraubend. Auf dem Arbeitsmarkt ist der Ingenieur zwar hoch begehrt, aber nur mittelmässig bezahlt. Und wenn dies nicht schon genug wäre: Die Mathematikerin und der Naturwissenschaftler gelten auch noch als weltfremd, asozial und unattraktiv, der Informatiker als Berufs-Autist. Auf gut neudeutsch: als Fachidioten ohne Reflexions- und kulturelle Kompetenz.

Kein Wunder tun sich dies viele nicht mehr an. Weshalb sollten sie: Die Nützlichkeit des Fachs klebt Ihnen doch wie Dreck an den Fingern. Die aristokratische Verachtung nützlicher Tätigkeiten gegenüber der Kontemplation fasst auch in der republikanischen Schweiz Fuss. Eine Firma, die aus Mangel an Ingenieuren ins Ausland abwandert, erregt die Gemüter kaum. Dies paradoxerweise in einem Land, dessen wichtigste Rohstoffe Ausbildung und Forschung sind, und das in Naturwissenschaft und Technik zur internationalen Spitzengruppe gehört.

Wo steckt der Wurm? Wer sich etwas umhört merkt schnell: In breiten Kreisen gilt als cool, wer in Mathematik schlechte Noten hatte. Kein Mathematiker käme hingegen auf die Idee, sich mit ungenügenden Sprachkenntnissen zu brüsten.

Technische Fähigkeiten stehen schon in der Schule hinten an. Das Mathematik-Übungsblatt ist nur auf den zweiten Blick als solches zu erkennen. Addieren und Multiplizieren alleine geht nicht, die Rechnungen werden in Geschichten verpackt. Dagegen hätte ich grundsätzlich nichts, wären neben der sprachlich angereicherten Mathematik nicht ohnehin eine Mehrheit der Prüfungsleistungen in sprachlichen Fächern abzulegen. Einseitig mathematisch begabte Kinder haben es schwerer als einseitig sprachbegabte.

Dass die bedauernswerten Tröpfe mit nützlichen Studien kein zweckfreies Wissen besässen, ist natürlich Unfug. Dazu müssten sie nicht nur während der gesamten Gymnasialzeit tief geschlafen haben, sondern auch nachher. Die ETH verlangt von allen Student(inn)en Leistungen in Sozial- und Geisteswissenschaften. An der HSG müssen sogar 25% der Credits im (mehrheitlich geisteswissenschaftlichen) Kontextstudium absolviert werden, nicht zuletzt auf Kosten der technischeren Methodenfächer. Von den Phil-I Fakultäten wären mir entsprechende Anforderungen in technischen Disziplinen hingegen nicht bekannt.

Der Ruf nach ganzheitlicher Bildung ist deshalb eine Einbahnstrasse geblieben. Der Eindruck, dass Naturwissenschaften und Technik, aber auch Wirtschaftswissenschaften im humanistischen Bildungsideal zweitklassige Wissenschaften sind, schlägt sich in den Köpfen nieder. Dabei spielt es keine Rolle, dass es ohne Physiker beispielsweise weder Computer noch andere elektronische Geräte gäbe.

Niemand wünscht sich eine Welt, in der nur direkt nutzbares Wissen Platz hat. Das Nachdenken über die Folgen der heutigen Entwicklung, deren historische und sozialpolitische Einordnung ist wichtig. Nur müssen wir aufpassen, dass uns vor lauter Reflexion nicht genau die Leute ausgehen, welche die Grundlage für diese Reflexionen erst schaffen. Immerhin ist bis heute noch keine Firma aus Mangel an Sozial- und Geisteswissenschaftlern ins Ausland abgewandert.

Nach einem halben Jahrhundert darf man sich zum Geburtstag etwas Utopisches wünschen. So wünsche ich mir heute mehr gesellschaftliche Anerkennung für Naturwissenschaft und Technik. Den Menschen, die sich damit befassen, verdanken wir nicht nur unseren Wohlstand. Denn – Hand aufs Herz – von wem, wenn nicht von Atomphysikern, Biochemikern und anderen, haben wir denn unser Weltverständnis?

8 thoughts on “Ist eine drei in Mathe wirklich cool?

  1. Von wem werden Mathematiker oder Naturwissenschaftler als „weltfremd, asozial und unattraktiv“ angesehen? Etwa von Ihnen, Frau Bütler? Sind diese Studiengänge wirklich „anspruchsvoller“ und „zeitraubender“ als andere Fächer? Ich bin erstaunt, dass die NZZ solchem Geplauder eine Plattform bietet.

  2. Zwei Gedanken zu Ihrem Artikel.

    1) Als einleitender Gedanke in Ihrem Artikel kommen Sie auf die vergleichsweise tiefen Löhne von Ingenieuren und Mathematikern (u.ä.) zu sprechen. Viel interessanter wäre aber in meinen Augen die Frage, was denn zum höheren Lohn von Absolventen der Wirtschaftswissenschaften (Ökonomen wie Betriebswirte) führt. Ist dieser fundamental gerechtfertigt oder kommt dieser ggf. durch Netzwerkeffekte zu Stande?

  3. 2) Ca. 30% der Nobelpreisträger in Wirtschaftswissenschaften (Sims eingeschlossen) haben einen Abschluss in Mathematik oder Statistik (BSc, MSc, PhD). Das alleine lässt in meinen Augen darauf schliessen, dass die Mathematik für die Ökonomie unabdingbar ist.
    Ebenso gibt es aber auch sehr erfolgreiche (gemäss pekuniärer Erfolgsmetrik) Mathematiker in der Industrie: Vekselberg, Beresowski (E-Technik, Mathematik), Jim Simons (sehr erfolgreicher Hedge Fund), etc.

    Wiederum drängt sich die Frage nach dem Mehrwert des Abschluss in Ökonomie auf.

    In grosser Vorfreude auf eine Replik
    DK

  4. Lieber Herr Klaus
    1) Eine ganz wichtige Frage – dafür umso schwieriger zu beantworten. Tatsächlich spielen Angebot und Nachfrage sowie Produktivität im Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle, aber nicht die einzige. Wir wissen aus der Forschung, dass viele andere vor allem psychologische Elemente, unter anderem die von Ihnen angesprochenen Netzwerkeffekte (gleich und gleich gesellt sich gern, usw) wichtig sind. Der Lohn korreliert mit dem Ansehen des Berufs in der Gesellschaft. Was das Problem einfach auf die nächste Ebene verschiebt: Eine klassische Huhn-Ei Situation

  5. Lieber Herr Klaus II
    2) Als Mathematikerin bin ich hier befangen. Aber aus der Tatsache, dass 30% der Nobelpreisträger ausgebildetet Mathematiker sind, lässt sich noch nicht schliessen, dass Mathematik für Ökonomie unabdingbar ist. Es könnte auch sein, dass die gescheitesten Studenten Mathematik zuerst studieren – auch wenn sie später in anderen Disziplinen landen. Für die Forschung von Sims ist eine mathematische Ausbildung höchst wertvoll, allerdings machte erst die Kombination mit ökonomischem Wissen den Nobelpreis aus.

  6. Lieber Herr Klaus III
    Zum Mehrwert der Ökonomieausbildung: Ich spreche hier nur von der Volkswirtschaftslehre. Ökonomie ist nicht Mathematik, die Mathematik ist lediglich ein Hilfsmittel, wenn auch ein nützliches. Sie hilft die Annahmen klar und transparent zu machen und aus ihnen Schlüsse zu ziehen, vor allem auch quantitative. Aber zuerst muss man wissen, was die Frage ist. Wer wirtschaftspolitisch relevante Fragen beantworten will (wie Sims und Sargent) braucht vor allem eine solide ökonomische Ausbildung.

  7. Herzlichen Dank für Ihre Replik.
    Ich gehe mit Ihnen einig, dass die Mathematik primär eine Hilfswissenschaft der Ökonomie darstellt, allerdings scheint mir, dass das ökonomische Wissen eine leidlich kurze Halbwertszeit hat. Um es pointiert (und provokant) zu formulieren: Hätte z.B. die Physik so wenig fundamentale Fortschritte wie die Ökonomie gemacht, sässen wir alle bei Kerzenlicht am Grammophon (drehend, nb). Unbestrittenerweise hat z.B. die Spieltheorie grosse praktische Relevanz (was streng genommen eine rein mathematische Disziplin ist, die ökomische Auslegung ist eine Anwendung davon).

  8. In Summe aber scheint mir, dass die Ökonomie ihrem Auftrag nicht gerecht wird: Jede Wissenschaft steht im Dienste der Gesellschaft. Für die Steuergelder, die in Lehre und Forschung investiert wurden, hätte man sich mehr verlässliche, vorausschauende und erhörte Prognosen erhofft, so dass Probleme, wie z.B. während den letzten 3 Jahren, erst gar nicht hätten entstehen können. Vielleicht müsste Adam Smith umfassender verstanden und gelehrt werden: Seine Sicht umfasst weit mehr als die unsichtbare Hand.

    Verbleibend mit den besten Wünschen, DK

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