Ergänzungen zu Ergänzungsleistungen

Viele Medien nahmen in den letzten Tagen (endlich) das Problem mit den Ergänzungsleistungen auf. An unserem Institut beschäftigt uns die Frage allerdings schon lange (siehe hier und hier und hier). Dass die Individuen auf Anreize reagieren ist wohl eines der robustesten Ergebnisse empirischer Forschungen.

Die Anreize sind gerade bei den Ergänzungsleistungen enorm: Wer im Alter 90% der vollen Rente aus der AHV erhält (circa 25‘000 Franken), nur ein kleines Vermögen besitzt (wenige 10‘000 Franken) und bei der Pensionierung weniger als circa 180‘000 Franken Alterskapital hat, fährt mit einem Kapitalbezug besser. Weshalb? Wenn die Person ihr Altersguthaben verrentet erhält sie zur AHV Rente eine jährliche BVG Rente von rund 12‘000 Franken. Zusammen also gerade etwa so viel wie wenn sie keine BVG Rente erhielte und den Rest ihres Lebensbedarfs mit Ergänzungsleistungen decken würde, rund 37‘000 Franken pro Jahr. Lieber also das Kapital beziehen und wenn es aufgebraucht ist, EL beantragen.

In der Realität sind die Anreize noch grösser: EL müssen im Gegensatz zu den BVG Renten nicht versteuert werden, viele Rentner haben Lücken in der AHV (sie bräuchten somit noch mehr BVG Kapital) und der Kapitalbezug wird gegenüber der Rente steuerlich begünstigt. Deshalb ist es auch für viele Mittelständer „günstiger“, das Kapital zu beziehen. Das ist ihnen nicht zu verargen. Von den zusätzlichen Anreizen, die von den EL als faktische Pflegeversicherung ausgeht, noch gar nicht zu reden.

Die Frage ist nur was tun. Hier sind einmal vier Möglichkeiten:

1)   Obligatorische Verrentung: Keine Kapitaloption mehr.

2)   Mindestverrentung: Obligatorische Verrentung bis zum Niveau, welches für durch die EL gesichert ist. Wer grössere Lücken in der AHV ist, muss entsprechend mehr verrenten.
Variante 2a) obligatorische Verrentung nur des obligatorischen Teils des BVG.

3)   Verschärfung der Bedürftigkeitsprüfung auf das Niveau der heutigen Sozialhilfe: Bevor EL beantragt werden können, müsste somit das ganze Vermögen verzehrt werden.

 Gemäss unseren Simulationen senken alle Möglichkeiten die zu erwartenden Kosten für die EL (siehe Tabelle unten). Alle haben Vor- und Nachteile. Die obligatorische Verrentung schränkt Menschen mit einer kürzeren Lebenserwartung massiv ein (und begünstigt daher eher die besser gestellten). Bei der Variante 2a) besteht die Gefahr, dass Anreize geschaffen werden – sowohl für Versicherte wie auch für Pensionskassen – Alterskapital als überobligatorisch auszuweisen. Option 3), welche keine Einschränkung des Kapitalbezugs vorsieht führt ebenfalls zu einer starken Reduktion der erwarteten EL Kosten. Dies aus zwei Gründen: Erstens direkt durch den vollständigen Vermögensverzehr. Zweitens indirekt: Für den Mittelstand wird der Kapitalbezug unattraktiver und ein grösserer Teil der Leute entscheidet sich für eine Rente.

Was würden die Individuen selber wählen, müssten sie sich für eine der 3 obigen Möglichkeiten entscheiden? Wir haben nachgerechnet: Wenig überraschend ist die obligatorische Verrentung des gesamten Alterskapitals für alle am wenigsten attraktiv (wir hätten uns verrechnet, wenn dies anders rausgekommen wäre). Die beiden anderen Optionen unterscheiden sich nur wenig. Insbesondere für die Versicherten mit kleinerem BVG Kapital schwingt die Variante 3) etwas oben aus: Lieber etwas strengere Bedürftigkeitsprüfungen als eine Einschränkung des Kapitalbezugs. Für den Staat wären die Kosten vergleichbar. (Legende: Meanstested benefits = Status quo; Mandatory annuitization = Option 1), obligatorische Verrentung; Minimum income requirement = Option 2); Consumption Floor = Option 3))

 

Tabelle: Kosten für verschiedene Formen der Grundsicherung im Alter in 1000 Franken für eine alleinstehende Person über die gesamte Rentenphase. Bei allen vier Massnahmen wird derselbe Mindestkonsum garantiert (3000/Monat für Alleinstehende). Konsumgarantie = Option 3), Verschäfung der Bedürftigkeitsprüfung.

Sollen Versicherungen Gentests verwenden dürfen?

Publiziert in der NZZ am Sonntag vom 20. Mai 2012 (unter dem Titel: Wenn Versicherungen Gentests verlangen dürften)

Die Wirklichkeit war wieder einmal schneller. Vor zwei Jahren schlug ich in der NZZ am Sonntag höhere Renten für Dicke und Raucher vor. Damit wollte ich nur zeigen, was die Forderung nach risikogerechten Prämien für Renten und Krankenkassen bedeutet. Zu dieser Zeit wurden in England allerdings bereits Verträge über sogenannte „enhanced annuities“ (aufgebesserte Renten) angeboten. Regelmässige Raucher, Übergewichtige oder ehemalige Minenarbeiter – also Menschen mit einer kürzeren Lebenserwartung – erhalten damit eine substantielle Rentenaufbesserung.

Von Risikoselektion profitieren manchmal auch Benachteiligte. Dennoch beschäftigen uns eher die Fälle, in denen sie darunter leiden. Wen Gentests zum Hochrisiko stempeln, kann sich nur noch unter höheren Kosten versichern oder – meistens – gar nicht. Richtig Angst macht, wenn genetische Informationen sogar über Leben entscheiden können. Weil die Eltern behinderter Kinder nicht nur die Betreuung bewältigen müssen, sondern auch noch finanzielle Folgen befürchten.

Wie würden Menschen entscheiden, bevor sie wüssten ob sie reich oder arm, gesund oder krank, als Mann oder Frau geboren werden? Klar: sie würden sich für Versicherungen entscheiden, die nicht nach angeborenen Risiken unterscheiden. Der „Schleier der Ungewissheit“ taugt allerdings wenig in einer Welt, die vor Informationen nur so strotzt. Schon vor mehr als 40 Jahren bemerkte der Ökonom Jack Hirshleifer, dass mehr Informationen nicht immer zu mehr Wohlstand führen. Eben weil sie die Möglichkeit nehmen, sich gegen gewisse Schäden zu versichern.

Doch was tun wir mit immer mehr Informationen, immer billigeren und zuverlässigeren Tests? Verbieten? Gar nichts?

Gar nichts ist oft besser als regulatorischer Übereifer. Wir vergessen, dass dieselbe Information für eine Versicherung ein Vorteil, für eine andere ein Nachteil ist. Beispiel Geschlecht – etwas, was man den meisten ohne Gentests ansieht: Frauen sind für die lebenslange Rente ein schlechtes Risiko (weil sie länger leben), für die Lebensversicherung hingegen ein gutes (weil sie länger leben). Viele Diskriminierungen heben sich daher gegenseitig ungefähr auf. Leider nicht alle: Wenn sich Menschen nicht mehr gegen wichtige Lebensrisiken versichern können, taugt Laisser faire definitiv nichts.

Heikle Informationen lassen sich auch nicht verbieten. Wer über vorteilhafte Informationen verfügt, wird diese auch kommunizieren wollen, wenn bessere Bedingungen locken. Wer dies nicht kann oder nicht will, hat das Nachsehen. Zudem: Wir geben scheinbar harmlose Informationen preis, ohne zu merken, dass diese versicherungstechnisch heikel sind. Der Schulabschluss verrät die Lebenserwartung, die Schuhgrösse das Geschlecht. Versicherungen wissen daher oft mehr über uns als wir selber – und zwar nicht wegen der nun kritisierten Gentests.

Kann denn den Versicherungen wenigstens untersagt werden, genetische Informationen in ihren Verträgen zu berücksichtigen? Rechtlich schon, in der Praxis wird es teuer – für alle. Denn Versicherungen und Versicherte passen sich an. Gewisse Verträge werden nicht mehr angeboten, andere nur noch als Paket. Die guten Risiken versichern sich nicht mehr, was eine Versicherung der schlechten Risiken noch schwieriger macht. Auch Wahlmöglichkeiten für die Versicherten sind heikel – sogar in obligatorischen Versicherungen: Sie erlauben nämlich eine Selbstselektion der guten Risiken.

Das heisst nicht, dass wir Menschen mit versicherungstechnisch ungünstigen Genen und Eltern behinderter Kinder keine Sicherheiten bieten können. Wir müssen sorgen, dass wenigstens die Sozialversicherung die Schwächsten angemessen gegen die finanziellen Folgen von Krankheit, Erwerbslosigkeit und Alter schützen. Sozialversicherung müssen die Individuen auch versichern gegen das Risiko ein schlechtes Risiko zu sein. Ohne Wenn und Aber.

SBB umgefragt

Heute habe ich per email die Einladung erhalten, an einer Umfrage unter GA Abonnenten teilzunehmen. Die teilweise absurden Fragen erinnerten mich an eine andere (telefonische) SBB Befragung, die ich vor ein paar Jahren aufzeichnete.

„.. Wir machen Sie darauf aufmerksam, dass 5% der Anrufe zu Ausbildungszwecken aufgenommen werden…“. Dann Frage nach den Personalien usw.

 „Mit welchem Fahrausweis reisen Sie meistens?“

„mit einem Generalabonnement der SBB“

„Benutzen Sie auch andere Fahrkarten wie Einzel- und Mehrfachkarten?“

„neben einem GA? Natürlich nicht“

„Besitzen Sie ein Halbtagsabonnement“

„Natürlich nicht“

„Wir stellen Ihnen nun einige Fragen zu von Ihnen unternommenen Fahrten in den letzten 4 Wochen. … Haben Sie in dieser Zeit eine Geschäftsreise unternommen? Wenn ja, von wann bis wann und wohin?“

„Ja, vom 4. bis 6. November nach Tilburg, Niederlande“

(im Rahmen einer Folgefrage zum Arbeitsweg) „Dann haben Sie also letzte Woche von Dienstag bis Donnerstag nicht gearbeitet?“

etwas später:

„Haben Sie in den letzten 4 Wochen eine Ferienreise unternommen?“

„Ja, von Zürich nach Lugano, am 15. Oktober“

„Wie viele km sind das?“

„etwa 200, aber das sollten Sie als Befragerin im Auftrage der SBB doch selber wissen“

„aha, 225km, wann genau sind Sie in Zürich abgefahren?“

„Das weiss ich nicht mehr „

„Sie wissen also nicht mehr genau, wann Sie abgefahren sind?“

„Nein. … Haben Sie denn keinen Eintrag „weiss nicht“?

„Nein“

„Dann schreiben Sie doch einfach 1 Uhr“

„Nein das geht nicht, wir müssen dies eben genau wissen und darum macht es keinen Sinn, mit Ihnen das Interview weiterzuführen. Ich kann nicht irgend etwas einfach etwas einfüllen, sonst kriege ich Schwierigkeiten.“

„Und Sie kriegen keine Schwierigkeiten, wenn Sie das Interview wegen einer komplett unwichtigen unvollständigen Information nicht weiterführen?“

„Nein, es ist eben sehr wichtig, diese Daten genau zu erheben zu können und so brechen wir das Interview hier ab.“

 In der verzweifelten Hoffnung, das Gespräch werde tatsächlich aufgenommen, habe ich der Dame dann noch versucht zu erklären, weshalb diese Umfrage wohl kaum geeignet ist, verlässliche Infos zu Benutzung von ÖV zu liefern.

Auf solchen Informationen basieren dann wohl Strategieentscheidungen der SBB.

 

Mehr Skepsis beim Lesen von Statistiken (Kolumne NZZaS)

„Chabis!“, riefen die Bauern vor Jahren, als die Statistiker beim Gemüse eine hartnäckige Teuerung errechneten. Sie hatten Recht. Wenn eine Gurke im Sommer einen Franken, im Winter zwei, im folgenden Sommer wieder einen Franken kostet, hat sich im Endeffekt nichts geändert. Die im Durchschnitt von Sommer und Winter gemessene Teuerung beträgt gleichwohl 25 Prozent! Im Winter plus 100%, im Sommer minus 50% – gibt im Schnitt 50% durch 2.
Was die Bauern nicht gefressen haben, wird uns fast täglich von neuem aufgetischt: Statistische Basis-Tricks. Der Magier lenkt unseren Blick auf den Zähler, um davon abzulenken, dass im Nenner etwas faul ist. Beispiel: Der Reingewinn der Migros „brach um über 20 Prozent ein“. Dass die arme Migros 2011 immer noch 650 Millionen verdiente und damit den Rekordgewinn vom Vorjahr zu mehr als drei Vierteln erreichte, bleibt dem Leser verborgen. Der Trick gelingt hier gleich in doppelter Ausführung: Der Gewinn als Bezugsgrösse (im Nenner) ist selbst schon eine Differenz. Das Resultat (der Gewinnrückgang im Zähler) scheint damit gross und ist im Jahr nach einem Rekordgewinn zwangsläufig eine negative Zahl.
Statistische Basistricks gehören zum Werkzeugkasten vieler Studien, insbesondere solcher mit politischen Zielen. Genauso wie Zuspitzungen, Ausblendungen und schräge (internationale) Quervergleiche. Die mitgelieferte Brille bestimmt mit, welche Aussagen wie wahrgenommen werden.
Auch die kürzlich erschienene Studie von economiesuisse wandte Basistricks an. Damit sollte eine massive steuerliche Entlastung niedrigerer Einkommen in den letzten 20 Jahren belegt werden. Die gewählte Prozent-von-Prozent-Brille vergrössert Veränderungen bei kleinen Einkommen stark. Wird ein Abzug um 1000 Franken erhöht (z.Bsp. für Krankenversicherungen) so sinkt die prozentuale Steuerbelastung bei einem steuerbaren Einkommen von 30‘000 Franken um 8%, aber nur um 0.8% bei 200‘000 Franken. Profitieren am Ende doch die Kleinen von den Abzügen? In Frankenbeträgen sehen die Ersparnisse anders aus: 100 Franken für die Kleinen, 350 Franken für die Grossen.
Die politische Gegenseite ist allerdings auch nicht zimperlich. Für die Berechnung der schweizerischen Vermögensverteilung blieben die für den Mittelstand anteilsmässig gewichtigen Pensionskassenvermögen unberücksichtigt. Die so gemessene Vermögensverteilung der Schweiz ist damit ähnlich „ungleich“ wie in Namibia. Nicht in den Studien erwähnt wurde, dass dies auch für Schweden gilt. Sowohl in der Schweiz wie in Schweden sorgen ausgebaute Sozialversicherungen dafür, dass der Mittelstand auch ohne zusätzliche Vorsorge gut abgesichert ist.
Schade – die Diskussion um die richtige Wirtschafts- und Sozialpolitik ist wichtig. Leider ist das Echo auf objektivere Beiträge gering. Mein Kollege Marius Brülhart zeigte, dass sich die Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen und Vermögen in den Jahren vor der Finanzkrise in der Schweiz zwar leicht öffnete. Trotzdem sind die Verteilungen heute gleichmässiger als in den 1970er Jahren, die Veränderungen sind weit geringer als in anderen Ländern. Das zunehmende Wohlstandgefälle der Linken gehört also ins selbe Märchenland wie die grosse Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen von economiesuisse.
Dass verschiedene (Interessen-)Gruppen die Zuspitzung oder Ausblendung für ihre Zwecke verwenden, ist ja nichts Neues. Viele Täuschungsmanöver beruhen aber auf dem Basis-Trick und wären deshalb ebenso leicht zu erkennen, wie der Wolf an seiner schwarzen Pfote. Nur leider scheint es attraktiver, eine statistische Legende zu erfinden oder zu verbreiten als eine zu entlarven. So geistert das Bild der Schweiz als Drittweltland in bezug auf die Vermögensverteilung noch immer herum. Ist Skepsis zu langweilig? Oder liegt es daran, dass die meisten von uns keine Bauern mehr sind, die noch merken: Chabis!

Steuerbelastung inflationsbereinigt

Monika Bütler

Mein Kollege Beat Hintermann von der Uni Basel und seine Mitarbeiterin Anja Roth haben sich die Mühe gemacht, die Steuerbelastungen für vier Einkommensgruppen für die Jahre 1990 und 2010 zu berechnen – INFLATIONSBEREINIGT (von 2010 zurückgerechnet). Nicht berücksichtigt ist die Reallohnentwicklung. Wer heute 50’000 Franken verdient, ist in der Einkommensverteilung weiter unten als jemand der im Jahre 1990 inflationsbereinigt denselben Lohn hatte. Beat Hintermann und Anja Roth haben  drei Grafiken gemacht: Änderung der Steuerbelastung in Franken, in Prozentpunkten und in Prozenten (*).

Die Zahlen zur Steuerentwicklung 1990-2010 bestätigen, was ich bereits vermutet hatte:
a) Die unteren Einkommen wurden tatsächlich entlastet. Allerdings sind die Entlastungen geldwertig klein. 31 Prozent entsprechen gerade einmal 1.6 Prozentpunkten oder circa 800 Franken.
b) Die mittleren Einkommen wurden nur wenig entlastet.
c) Die höheren Einkommen wurden tendenziell eher mehr entlastet als die mittleren.

Es zeigt sich allerdings auch eine riesige Heterogenität zwischen den Kantonen. Gewisse Kantone haben sowohl niedrige wie auch höhere Einkommen steuerlich entlastet. In einigen änderte sich nichts (Zürich),  andere erhöhten die Steuern in allen Einkommensgruppen.

PS (*): Die Veränderungen in Prozent von Prozent anzugeben, macht eigentlich überhaupt keinen Sinn. Wenn die Steuerbelastung von 2% auf 1% zurückgeht, so würde dies eine 50% Steuerreduktion bedeuten, auch wenn die Beiträge nur klein sind.


Leidet economiesuisse unter Geldillusion? (Fortsetzung)

 Monika Bütler und Christian Marti

Wir haben versucht, den Einfluss der Teuerung auf die Analyse der Steuersenkungen pro Einkommensgruppe in der Studie von economiesuisse herauszurechnen. Dies unter den Annahmen, dass es keine grundsätzlichen Änderungen am Steuersystem gab in den 20 Jahren und dass die kalte Progression ausgeglichen wurde. Die Graphik finden Sie hier für die Stadt Zürich.

Lesebeispiel: Bei einem Einkommen von 60‘000 Franken im Jahre 2010 hätte economiesuisse alleine aufgrund der Teuerung eine Steuerreduktion von 40% für Verheiratete mit 2 Kindern, 32% für Verheiratete ohne Kinder und 23% für Alleinstehende gefunden. Die Spalten für 30‘000 respektive 40‘000 Franken für Verheiratete mit Kindern fehlen, da diese Gruppen so wenig Steuern zahlen, dass ein Vergleich ohnehin sinnlos ist – umso mehr, wenn es um prozentuale Veränderungen geht.  

Grosszügig interpretiert kann der Rest der von economiesuisse gefundenen Steuerreduktionen in Grafik 4 als effektive reale Steuersenkungen interpretiert werden. Bei einem Einkommen von 60‘000 Franken wären dies 32% für Verheiratete mit Kindern, 16% für Verheiratete ohne Kinder und 5% für Alleinstehende: In Frankenbeträgen rund 500 Franken für Verheiratete mit und ohne Kinder, 250 Franken für Alleinstehende. Pro Jahr.

Allerdings ist bei dieser grosszügigen Interpretation Vorsicht am Platz. Erstens natürlich aus Datengründen. Wir haben den Effekt nur für die Stadt Zürich gemessen, und die Art der Berücksichtigung der Abzüge führt schnell einmal zu geldmässig kleinen, prozentuell aber grossen Abweichungen. Zweitens gab es in den letzten 20 Jahren auch real Einkommenszuwächse, welche die relative Position der Steuerzahler in der Verteilung beeinflussen.  Oder anders gesagt: Selbst wenn es keine Teuerung gegeben hätte, wäre jemand mit 60‘000 Franken Einkommen heute relativ gesehen ärmer als jemand mit einem Einkommen von 60‘000 Franken Einkommen vor 20 Jahren.

Wir teilen durchaus die Meinung von economiesuisse, dass „gewöhnliche“ Bürger von Steuersenkungen ebenfalls profitiert haben könnten, dies allerdings in weit geringerem Ausmass als economiesuisse uns weismachen will. Auch die Millionäre haben über den Teuerungseffekt hinaus von Steuersenkungen im Ausmass von rund 7% profitiert (oder rund 25‘000 Franken pro Jahr, auch diese Zahl ohne Gewähr). Einzige Gruppe, die nicht von realen Steuersenkungen profitiert zu haben scheint, ist der obere Mittelstand (+- 200‘000 Franken Bruttoeinkommen). Vielleicht täuschen wir uns hier. Auf jeden Fall liefert der economiesuisse Bericht keine Evidenz zu den wirklichen Nutzniessern der Steuersenkungen. Schade.

PS: Da die Teuerung nicht berücksichtigt wurde, ist auch die Grafik 5 im economiesuisse Bericht falsch – sie sagt absolut nichts über die Veränderung der Progression aus.

Leidet economiesuisse unter Geldillusion?

In der Schnelle (Details folgen): Economiesuisse behauptet, dass die Steuerbelastung vor allem für die unteren Einkommensklassen gefallen ist. Dies wird anhand eines Vergleichs der geschuldeten Steuern für die Jahre 1990 und 2010 für mehrere Einkommensgruppen dargestellt (Grafik 4).

NUR: 60’000 im Jahre 1990 sind nicht 60’000 Franken im Jahre 2010. Dazwischen liegen nicht nur 20 Jahre sondern vor allem 40% Inflation. Real entsprechen 60’000 Franken 2010 nur etwa 42’800 Franken im Jahre 1990. Wenn in den 20 Jahren nur schon die kalte Progression ausgeglichen wurde, dann hätte man in den 20 Jahren für Verheiratete folgende „Steuersenkungen“ gefunden: -40% (30’000 in 2010), -30% (60’000), -25% (150’000), -4% (1Mio). Das ist zwar etwas weniger als die von economiesuisse publizierten Zahlen, aber das Muster ist dasselbe. Alle Zahlen ohne Gewähr. Details folgen.

Ich kann mich selbstverständlich irren – bin gespannt auf Gegendarstellungen. Vielleicht hat economiesuisse ja die Einkommen tatsächlich deflationiert.

Zählen wir das, was zählt?

Erschienen in der NZZ am Sonntag vom 25. März unter dem Titel „Zählen und erzählen wir das, was wirklich zählt?“ ( Untertitel: Einschaltquoten und «Impact»-Statistiken führen zunehmend in die Irre)

„Wi taari säge?“ soll früher die höfliche St. Galler Metzgerin gefragt haben, wenn ein Kunde den Laden betrat, den sie als Doktor oder Professor verdächtigte. Auch der Wiener Musikverein will beim Online-Verkauf für Konzertkarten niemanden falsch anreden. Die Käuferin hat die Wahl zwischen nicht weniger als 76 Anreden – vom „Amtsrat“ über die „Kammersängerin“ bis zum „Univ.-Prof. Dr.“

Die Titelliste des Musikvereins amüsant, aber eigentlich völlig unwichtig. Dennoch stürmte sie die Hitparade: unter den 400 Einträgen in unserem Blog zu aktuellen Themen der Wirtschaftspolitik landete sie gleich auf Platz Drei – gemessen an der Anzahl Kommentare, den ausgelösten Tweets und den Erwähnungen in anderen (Online‑) Medien. Übertroffen wurde die Titelliste nur noch von zwei nebensächlichen Einträgen zu Urheberrechtsverletzungen. Erst auf dem vierten Platz folgt der erste Beitrag, der im weiteren Sinne etwas mit der Zielsetzung des Blogs zu tun hat: Ein Quiz zur Vermögensverteilung in verschiedenen Ländern. Noch weiter hinten dann die teilweise unter beträchtlichem Forschungsaufwand verfassten „seriösen“ Texte. 

Es soll uns zwar nicht besser gehen als anderen Informationsanbietern. Die früher unter „Unglücksfälle und Verbrechen“ zusammengefassten Meldungen sind nun einmal attraktiver als fundiert recherchierte Hintergrundartikel. Die Erfahrungen aus dem eigenen Blog bereiten mir dennoch Bauchweh. Aus einer Innensicht, weil das Ranglisten-Fieber letztlich auch die Art der Öffentlichkeitsarbeit von Forschern beeinflusst. Aus einer Aussensicht, weil die wirtschaftspolitische Debatte nicht nur im Blog, sondern auch in der „richtigen“  Politik mehr und mehr durch den Reiz medialer Strohfeuer (ab)gelenkt wird.

Zum ersten. Ich wäre die Letzte, die sich innerhalb der Hochschulen gegen eine Berücksichtigung der Öffentlichkeitsarbeit bei der Evaluation von Forschern wehrt. Es ist nicht nur jammerschade, wenn gute Forschung im Elfenbeinturm verdorrt. Es wäre auch ein Witz, wenn staatlich besoldete Wissenschaftler ausgerechnet wegen eines Diensts am Steuerzahler – der Aufbereitung von Forschungsresultaten für eine breitere Öffentlichkeit –  büssen müssten. Denn Medienarbeit kostet; Forschungszeit nämlich. Verständlich auch, dass die öffentliche Wirkung an messbaren Grössen abgelesen werden soll. Doch die leicht verfügbaren Indikatoren messen die Wirkung der Arbeit noch schlechter als bei der Forschung. Wer eine parlamentarische Kommission von einer ineffizienten Massnahme abhalten kann, spart dem Land vielleicht Millionen von Franken. Eine grosse Anzahl Zitationen, Kommentare, Tweets erhält er dadurch nicht. Wer messbaren Impact haben will, sorgt besser für moderaten Klamauk als für Aufklärung.

Zum zweiten. Unsere Erfahrungen im Blog finden sich in der politischen Debatte wieder. Gerade in den letzten Monaten dominierten die medial begleiteten und deshalb attraktiven Diskussionen aus der chronique scandaleuse. Die wirklichen Herausforderungen der Zukunft blieben hingegen liegen. Ein aktuelles Beispiel: Der kurz vor Weihnachten publizierte Bericht des Bundesrates zur Zukunft der zweiten Säule schien bis vor kurzem kaum jemanden zu interessieren. Dabei steckt in den 160 Seiten nicht nur viel Brisantes, die zweite Säule betrifft auch alle Bewohner der Schweiz direkt oder indirekt über Steuern und Immobilienpreise. Zudem zeigen uns die südeuropäischen Länder zur Genüge, was passiert, wenn man sich bei der Alterssicherung Illusionen hingibt. Dennoch: Wir debattieren in Presse und Politik lieber über die erzwungene Frühpensionierung der drei Schweizer Delphine als über die fehlenden Mittel zur Pensionierung der vie Millionen Arbeitenden im Lande. Als könnte die St. Galler Metzgerin dann schon jedem „eidg. dipl. Säule-2-Geschädigten“ täglich einen Zipfel Bratwurst zustecken.

Titelökonomie

Monika Bütler

Gestern Tickets für den Wiener Musikverein gebucht.
Etwas unsicher war ich bei der Registrierung. Hier die Auswahl an Titeln:

Amtsrat
ao. Univ.-Prof.
ao. Univ.-Prof. Dr.
Arch.
Arch. DI
BA
Botschafter
Botschafterin
Bürgermeister
DDI
DDr.
DI
DI (FH)
DI Dr.
DI Mag. Dr.
Dir.
Dkfm.
Dkfm. Dr.
Dkfm. Mag.
Dkfm. Mag. Dr.
Dott.
Doz. Dr.
Dr.
Dr.h.c
Drs.
Gen.Dir.
Gen.Sekr.
Graf
Gräfin
Hofrat
Hofrat Dr.
Hofrat Mag.
Ing.
Intendant
Kammersänger
Kammersängerin
Kammerschauspieler
Kammerschauspielerin
Konsul
KR
KR.DDr.
KD.Dkfm.Dr.
KR.Dr.
L.Abg.
Mag.
Mag. (FH)
Mag. DDr.
Mag. Dr.
MAS
MBA
MD
Min.Rat
Min.Rat Dr.
Min.Rat Mag.
MMag.
MMag. Dr.
o. Univ.-Prof.
o. Univ.-Prof. Dr.
Oberst
Obstlt
OSTR
Pastor
Pfarrer
PhD.
Präs.
Prim.
Prim. Dr.
Prof.
Prof.DDr.
Prof.Dr.
Prof.Dr.h.c.
Prokurist
RA
Reg.Rat
Senator
Univ.-Prof.
Univ.-Prof. Dr.

Buchpreisbindung: Nachlese(n)

Monika Bütler

Die Buchpreisbindung ist nun definitiv passé. Niemand verbietet allerdings den Verlagen, unverbindliche Preisempfehlungen zu machen. Die Frage ist nur, was diese bewirken würden.

Mein HSG-Kollege Stefan Bühler ging zusammen mit Dennis Gärtner der Frage nach, weshalb Hersteller den Händlern Endverkaufspreise empfehlen, wenn diese jederzeit von der Empfehlung abweichen können. Interessanterweise gibt es  auch für viele andere Produkte unverbindliche Preisempfehlungen (Retail-Price Recommendations, RPR). Eine überzeugende Erklärung, warum solche Empfehlungen gemacht werden fehlte bis heute.

Die Arbeit von Bühler und Gärtner zeigt, dass unverbindliche Preisempfehlungen als Kommunikationsinstrument in langfristigen vertikalen Vertriebsbeziehungen dienen können. Eine Annahme ist, dass die Hersteller (in unserem Falle die Verlage) private Information über die Produktionskosten und die Nachfrage nach den Produkten haben. Eine andere, dass der relationale Vertrag zwischen Hersteller und Händler so ausgestaltet ist, dass der Gewinn des (Buch-)Händlers unabhängig von den Produktionskosten ist.  Unter diesen Annahmen erlauben es unverbindliche Preisempfehlungen, den gewinnmaximierenden Endverkaufspreis zu implementieren. Interessant ist der Fall, bei dem eine Preisempfehlung direkt die Nachfrage beeinflusst (normalerweise gehen die Ökonomen davon aus, dass der Preis die Nachfrage bestimmt, nicht aber die Preisempfehlung per se): Mit einer geeigneten Preisempfehlung können die Verlage die maximale Zahlungsbereitschaft der Konsumenten abschöpfen. Was wiederum heissen würde, dass unverbindliche Preisempfehlungen sogar zu höheren Gewinnen (für die Verlage) führen als eine vertikale Preisbindung („Buchpreisbindung“).

Nach der Lektüre des Aufsatzes frage ich mich allerdings, weshalb sich die Verlage so stark für die Buchpreisbindung eingesetzt haben, wenn eine unverbindliche Preisempfehlung für sie sogar noch „besser“ sein kann? Ich bin gespannt auf Antworten – und die nächste Forschungsarbeit meiner Kollegen.

PS 1: Im Gegensatz zu anderen Ländern wurden in der Schweiz die Buchpreise nicht durch ein staatliches Gesetz vorgeschrieben, sondern durch eine privatrechtliche Vereinbarung der Verlage und Buchhändler (sogenannte Sammelrevers). Nach Einschätzung der Wettbewerbskommission stand diese Vereinbarung im Widerspruch zum Kartellgesetz. Der Bundesrat lehnte eine Ausnahme für ein Kartell ab, nachdem das Bundesgericht die Beurteilung der Buchpreisbindung durch die Wettbewerbskommission stützte.

PS 2: Der Aufsatz „Making Sense of Non-Binding Retail-Price Recommendations” wird in der American Economic Review erscheinen.