Nobelpreis an Diamond und Dybvig

Douglas W. Diamond und Philip Dybvig wurde heute – zusammen mit Ben Bernanke – der Wirtschaftsnobelpreis verliehen. Hier eine kleine Einordnung.

Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau beschrieb in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) eine Entscheidungssituation, welche den Ursprung sozialer Zusammenarbeit illustrieren sollte: Eine Gesellschaft von Jägern ist hinter einem Hirsch her. Anstatt auf dessen Fährte zu bleiben (Kooperation), können die einzelnen Jäger aber auch ausscheren und einen Hasen erlegen (Desertion). Wenn zu viele Jäger ausscheren, entwischt der Hirsch. Nur wenn genügend Jäger kooperieren, wird der Hirsch, die grosse Beute, erlegt. Kooperation ist also im kollektiven Interesse. Ob sich für Individuen dennoch die Desertion lohnt, hängt davon ab, wie viele andere Jäger desertieren.

Rousseaus Beispiel ist keineswegs rein theoretisch. Beim Ausbruch der Covid-19-Pandemie wurden plötzlich Schutzmasken gehamstert. Kollektiv gesehen wäre es gescheiter gewesen, wenn alle einige Masken erhalten hätten, als einzelne viele und viele gar keine. Das wichtigste praktische Beispiel ist jedoch der Bank Run: Selbst wenn alle Einleger glauben, die Bank sei eigentlich solvent, kann es sich aus individueller Perspektive lohnen, sein Guthaben sofort zurückzuziehen. Wenn nämlich genügend andere in Panik geraten, bleibt am Ende zuwenig Flüssiges in der Bank und die Bank falliert.

Ein schönes Beispiel lieferte der Run auf die britische Bank Northern Rock im September 2007. Northern Rock war kaum in jenen faulen Hypothekarpapieren investiert, welche die Finanzkrise 2007-08 auslösten. Hingegen war die Bank stark von der Finanzierung durch sogenannte wholesale deposits abhängig. Da nun die einen Gläubiger den anderen nicht trauten, zogen viele ihr Geld zurück. Dies führte auch zur Panik unter den Kleinanlegern. Einer von ihnen berichtete: Die Webseite war nicht erreichbar, da war es für mich klar: Nichts wie mein Geld holen.

Die ökonomische Theorie des Bank Run (Bankensturm) wurde von Diamond und Dybvig (1983) formalisiert. Die Individuen können für eine oder für zwei Perioden in eine gemeinsame Bank investieren. Die langfristige Investition bringt nach dem Ausreifen den höheren Ertrag. Muss sie jedoch vorzeitig liquidiert werden, bringt sie weniger ein, als investiert wurde. Die Individuen erfahren erst, nachdem sie investiert haben, ob sie früh sterben (und allenfalls langfristige Investitionen liquidieren müssen) oder spät. Ob jemand früh oder spät sterben wird, ist für die anderen nicht beobachtbar. Das Resultat: Wenn einige der langlebigen Individuen vorzeitig liquidieren, kommt Panik auf; die Bank bricht zusammen.

(Für ökonomische Gourmets: Das Diamond-Dybvig Modell beruht auf einem Overlapping-Generations-Modell, aus dem die zweite Lebenshälfte der jüngeren Generation herausgeschnitten wurde. Die integration eines Bankensektors in ein volles Overlapping-Generations-Modells scheint bis heute nicht gelungen.)

Die Rousseau-Diamond-Dybvig-Entscheidungssituation ist nicht etwa jene im berüchtigten Prisonners Dilemma. Dort lohnt sich individuell gesehen Desertion immer. Hier lohnt sich in einer genügend kooperativ eingestellten Gesellschaft die Kooperation. Die Theorie der recht vielfältigen kooperativen Situationen ist näher beschrieben in unserem guten alten Information Economics (2007), Kap. 9.

Während Diamond noch zahlreiche weitere Forschungsbeiträge lieferte, zog sich Dybvig weitgehend zurück und widmete sich seinem Hobby als Jazzmusiker. Douglas Diamond wurde im übrigen 2013 mit dem Ehrendoktorat der Universität Zürich geehrt.

Wie sogar unverbesserliche Warmduscher plötzlich zu Energiesparern werden

Monika Bütler

Meine Kolumne Geld & Geist: Vom unverbesserlichen Warmduscher zum Energiesparer (nzz.ch) in der NZZ am Sonntag vom 2. Oktober in einer etwas ausführlicheren Version, ergänzt mit Links zu Forschungsarbeiten.  

«Die Deutschen erhalten die Gasrechnung – und werden wütend» titelte der Tagesanzeiger vor gut einer Woche. Die Wut ist verständlich. Die Haushalte leiden stark unter den gestiegenen Preisen. Dazu kommt ein Ohnmachtsgefühl, wenn erstens die Rechnung für den Energiekonsum erst dann kommt, wenn er nicht mehr verändert werden kann. Und wenn zweitens den meisten gar nicht klar ist, wo und wie sich Energiesparen lohnt. 

Genau um die Sichtbarkeit des Energiekonsums ging es in einem Experiment vor einigen Jahren in Zürich. Die WissenschaftlerInnen Verena Tiefenbeck, Lorenz Goette, Kathrin Degen, Vojkan Tasic, Elgar Fleisch, Rafael Lalive und Thorsten Staake Overcoming Salience Bias: How Real-Time Feedback Fosters Resource Conservation | Management Science (informs.org)*  wollte herausfinden, ob eine sofortige Rückmeldung zum Verbrauch das Verhalten den Menschen beeinflussen kann. Zu diesem Zweck installierten sie zusammen mit dem EWZ (Elektrizitätswerk Zürich) in mehreren hundert Haushalten digitale Geräte zur Messung des Energieverbrauchs beim Duschen in Echtzeit. Die Daten der Testhaushalte wurden anschliessend mit denjenigen einer Kontrollgruppe ohne Geräte verglichen. 

Das verblüffende Resultat: das Feedback noch unter der Dusche reduziert den Energieverbrauch um ganze 22%, oder um deutlich mehr, als der durchschnittliche Haushalt für die Beleuchtung ausgibt. Dies ohne irgendwelche Belohnungen für die Testgruppe und in einer Zeit, in der die Energiekrise noch in weiter Ferne schien. 

Die Einsparungen waren höher, länger anhaltend und treffsicherer als Kampagnen («Ogi kocht Eier») oder als Interventionen, die den Energieverbrauch zeitverschoben oder aggregiert zurückmeldeten, zum Beispiel als Wochenrechnung. Die Echtzeitfeedbacks wirkten nicht nur in der Anfangsphase, sondern über die ganze Versuchszeit von mehr als zwei Monaten. Und das Schönste: Gerade diejenigen, die bisherigen Lang-Warm-Duscherinnen reduzierten beim Echtzeit-Feedback ihren Verbrauch am meisten. 

Das Sprichwort «Ab Aug’ ab Herz» gilt auch hier: Menschen haben die Tendenz, sich auf Dinge oder Informationen zu konzentrieren, die sichtbar sind und auffallen, während sie eher ignorieren, was nicht ins Auge fällt. Die Forschung spricht von einem Salience Bias (etwas schwerfällig als «Hervorhebungsverzerrung» übersetzt). Das heisst nicht, dass die Leute irrational oder faul sind. Nur ist Informationsbeschaffung und -verarbeitung oft zeitaufreibend und teuer. (Für Interessierte: Etwas Hintergrund zur Rolle von Salience bei ökonomischen Entscheidungen Pedro Bordalo, Nicola Gennaioli und Andrei Shleifer Salience | NBER)

Die Wirkung der Salience von Informationen auf unser Verhalten ist nicht auf den Energieverbrauch beschränkt. Die empirische Forschung zeigt klar, dass auch die Sichtbarkeit von Steuern und Gebühren einen Einfluss auf das Verhalten der Konsumenten und Steuerzahlerinnen hat. 

So zeigen die amerikanischen Forscher Raj Chetty, Adam Looney, and Kory Kroft Chetty_SalienceTaxation.pdf (harvard.edu), dass die Verkaufssteuer in Geschäften unterschiedlich wirkt, je nachdem, ob sie bereits auf den Preisschildern im Regal eingerechnet und somit sichtbar ist (wie in den USA üblich) oder erst statt nachträglich an der Kasse erhoben wird. Mit Preisschildern inklusive Verkaufssteuer war die Nachfrage im Lebensmittelgeschäft um 8 Prozent geringer.

Auch eine Alkoholsteuer, die in den angegebenen Preisen enthalten ist, reduziert den Alkoholkonsum stärker als eine Steuer, die an der Kasse zum Rechnungsbetrag addiert wird. Für die Geschäfte und den Fiskus ist es somit profitabel, wenn die Steuer erst dann erhoben wird, nachdem die Kaufentscheidung bereits gefallen ist. Doch die geringe Sichtbarkeit von Lenkungssteuern verändert das Konsumverhalten und unterläuft die angestrebte Prävention. 

Eine geringe Sichtbarkeit von Verbrauch und Gebühren für die Konsumenten wirkt sogar zurück auf Preise und Steuersätze. Amy Finkelstein E-ZTax: Tax Salience and Tax Rates | NBER analysiert dies am Beispiel der Strassengebühren: Werden die Gebühren elektronisch erhoben – das heisst so, dass die Autofahrer sie nicht jedes Mal direkt sehen können, wenn sie eine Bezahlstation passieren – liegen die Gebühren um etwa 20-40% höher im Vergleich zu einer manuellen Bezahlung.

Je sichtbarer („salient“) eine Steuer ist, desto grösser der politische Druck, den Steuersatz tief zu halten. Daten aus den USA zeigen, dass der Übergang zur Quellenbesteuerung – anstelle der in der Schweiz üblichen Steuererhebung beim Individuum – tendenziell zu höheren Steuern führte. Versteckte Steuern wie die Quellensteuern lassen sich besser erheben und erhöhen als klar sichtbare Steuern. 

Ein interessantes Beispiel dafür ist die US amerikanische property tax (eine Art Grundsteuer, die sich am Wert des Grundstücks/Immobilie misst und die auf Gemeindeebene erhoben wird), wie Marika Cabral und Caroline Hoxby The Hated Property Tax: Salience, Tax Rates, and Tax Revolts | NBER zeigen: Als sichtbarste Steuer wird sich am vehementesten bekämpft, inclusive Steuerrevolten. Dies obwohl die meisten Amerikaner viel mehr Einkommenssteuern als property tax bezahlen.

Wir unterschätzen nicht nur unseren (Energie)Verbrauch, sondern auch Gebühren und Steuern, wenn sie nicht direkt sichtbar sind. Mit weitgehenden Konsequenzen: Unvollständig informierte Menschen können sich schlechter anpassen und sich auch weniger wehren. Die Verzerrungen kosten; nicht nur den Einzelnen, sondern gerade im Energie- und Klimabereich der Gesellschaft insgesamt. 

Bequemerweise müssen wir zum Duschen keine Münzen mehr einwerfen (obwohl die Geräte noch im Handel sind). Wie im EWZ-Versuch kann die Digitalisierung, Informationen in unserem Alltag in Echtzeit verfügbar machen. Und wir können unsere Entscheidungen so treffen, wie wir wirklich möchten. 

Sichtbarkeit im Sinne von Salience bedingt auch Fokussierung. Ein Haushalt mit dem Armaturenbrett eines Jumbo-Jets ist nicht die Lösung. Gerade dort, wo der Staat eine Echtzeit-Messung fördert, lohnt sich eine Konzentration auf das Wichtigste. Sonst kippt die Informationslücke in eine Informationsflut. In einer Energiekrise nützt der Kilowattzähler am Eierkocher kaum mehr als an Sparkoch Ogi zu denken.