Corona und die Kosten des Lockdowns

Reto Föllmi 
(Artikel aus Finanz und Wirtschaft)

Vielleicht ist es verfrüht, den Corona-Virus als Jahrhundertereignis zu bezeichnen. Das Jahrhundert ist noch jung und wir wissen nicht, was dieses Jahrhundert für uns alle noch bereithält. Mit Sicherheit ist es aber eine medizinische und wirtschaftliche Ausnahmesituation, die in jüngerer Zeit so nie vorgekommen ist. Die Wirtschaftspolitik muss bei einem so gewaltigen und plötzlichen Einbruch Vertrauen und Sicherheit schaffen. Arbeitnehmer und Selbständige brauchen dringend ihre Löhne und die Firmen benötigen weitere Liquidität, um weitere Rechnungen zu bezahlen.

Mit der grosszügig ausgestatteten Kurzarbeitsregelung werden die Löhne der betroffenen Branchen gesichert. Der Ausgleich ist aber nicht ganz 100%, so dass flexible Lösungen der Firmen in Arbeitszeit- oder Geschäftsmodellen wie Take-Aways belohnt werden. Dies schafft Sicherheit und ist auch aus Verteilungssicht sinnvoll, denn Arbeitnehmer aber auch Selbständige können sich gegen dieses Risiko nicht versichern.

Üblicherweise ist es Selbständigen verwehrt, auf die Kurzarbeit der ALV zuzugreifen, weil die Annahme von Aufträgen von ihnen selber abhängt. Der Einbruch aufgrund der Corona-Welle ist aber offensichtlich und in seiner Art einzigartig, was diese Hilfe für die Selbständigen eine gute und pragmatische Lösung macht. Allerdings sind auch selbständige Grafiker, Beraterinnen und Schreiner betroffen, deren Geschäftsaktivität nicht direkt behördlich geschlossen wurde. Es ist darum sinnvoll, dass der Bundesrat heute eine Ausweitung der Kurzarbeit auf diese Gruppen anbietet. Auch hier könnte die Differenz der Umsätze vor und während der Krise als Basis für die Entschädigung genommen werden.

Wie sieht es aber mit den übrigen Kosten und den Gewinnen, also der Entschädigung für das eingesetzte Kapital aus? Logischerweise muss hier die Liquidität für die Zahlung des Materials, der Mieten etc. sichergestellt sein, wie das mit den durch staatliche Bürgschaften gesicherten Covid19-Krediten der Banken geschehen ist. Die Kredite sind nach maximal 7 Jahren zurückzuführen, was für einen Geschäftskredit eine grosszügige Zeit ist und nicht zu exzessiver Schuldenlast führen muss. Die grosse Inanspruchnahme zeigt auch, dass dieses Programm auf eine grosse Nachfrage stösst.

In einer weiteren Auslegung des Versicherungsprinzips forderte mehrere Stimmen, dass der Gewinnentgang direkt über den Staat (teilweise) abgegolten werden sollte. Diese Forderungen lassen aber einen wichtigen Punkt ausser Betracht: das Kapital kann im Gegensatz zur Arbeit das Risiko weit besser tragen und bekommt für eben dieses Geschäftsrisiko ja in guten Zeiten eine Risikoprämie. Auch bei der Finanzkrise waren einzelne Branchen mehr betroffen und mussten die Verluste entsprechend selber berappen. Eine grossflächige Entschädigung oder nur teilweise Rückzahlung der Darlehen, um entgangene Gewinne zu kompensieren, wäre sehr teuer und würde auch hohe Mitnahmeeffekte von Unternehmern generieren, die auch noch davon profitieren wollen. In einer längeren Krise und wie von Lausanner Ökonomen angeregt wäre ein neues Programm denkbar, das nach dem Vorbild der australischen Studiendarlehen funktioniert, diese sehen im Erfolgsfalle eine raschere Rückzahlung vor. Prüfenswert ist auch eine Form der Brady-Bonds mit Abschlag nicht mehr für Staaten sondern für Firmen.

Auch wenn die Corona-Krise ist vielerlei Hinsicht einzigartig ist, stellt so eine Kompensation einen Präzedenzfall dar, der nur schwer aus der Welt zu schaffen wäre. Ähnliche Forderungen wären bei der nächsten Krise vorprogrammiert. Auch in der Finanzkrise waren einzelne Branchen stärker betroffen als andere. Wenn das Eigenkapital nun wiederholt einen von der Allgemeinheit zu berappenden Versicherungsschutz geniessen würde, womit liesse sich dann in Zukunft eine Risikoprämie für das Eigenkapital noch rechtfertigen? Dem schon in der Finanzkrise geäusserten Vorwurf, die Gewinne würden privat vereinnahmt die Verluste dann aber sozialisiert, käme erst recht eine gewisse Berechtigung zu.

Die Coronakrise ist eine Kombination von Nachfrage- und Angebotsschock. Die Nachfrage ist vielerorts eingebrochen und wir geben nichts mehr für Restaurants oder Anlässe aus. Aber das Angebot ist eben auch eingeschränkt. Weil viele wegen online Meeting, Kinderbetreuung etc. nicht gleich produktiv sind und Angestellte in Branchen wie Tourismus, Events gar nicht arbeiten können, liegt das ganze Produktionspotential tiefer. In «gewöhnlichen» Rezession wirksame Ankurbelungen der Wirtschaft sind darum im Moment wirkungslos. Eine Stimulierung der Wirtschaft während des partiellen Lockdowns ist gar nicht möglich und zudem aus Ansteckungsgründen gar nicht erwünscht.

Wegen des Produktionsabfalls können wir gar nicht den ganzen Kaufkraftverlust ersetzen. Würde im Extremfall der Staat 100% aller Ausfälle übernehmen und die Kaufkraft nominell voll erhalten, könnte nach Ende des Lockdowns eine gleiche oder wegen Nachholbedürfnissen noch gesteigerte Nachfrage auf ein verringertes Angebot treffen, das auch durch Überstunden nicht beliebig ausgeweitet werden kann. Das Resultat wäre zum ersten Mal seit Jahren Inflation nicht nur auf den Aktien- und Immobilienmärkten sondern auch für Güter und Dienstleistungen. Detailhändler verzichten bereits jetzt auf Aktionen und im Medizinalbereich sind Preissteigerungen schon eingetreten. Was die Zentralbanken in den vergangenen Jahren vergeblich zu erreichen suchten, wäre über einen nie vorausdenkbaren Weg eingetreten.

 

Wieso und wie der Staat die wirtschaftlichen Kosten des Lockdown übernehmen sollte: Lohnfortzahlungen und Corona-Darlehen

Jean-Philippe Bonardi, Marius Brülhart, Jean-Pierre Danthine, Eric Jondeau, Dominic Rohner

Unser Wirtschaftsmotor wird zur Zeit angesichts der Bedrohung durch das Corona-Virus künstlich gedrosselt. Um Menschenleben zu retten, verzichten wir alle vorübergehend auf Konsum und Freizeitsaktivitäten, und viele von uns sind für einen noch ungewissen Zeitraum zum wirtschaftlichen Nichtstun verdammt.

Dieser ökonomische Komazustand verursacht enorme privatwirtschaftliche Kosten. Die Umsätze brechen in vielen Branchen ein, und den betroffenen Firmen geht damit das Geld aus, um Löhne und andere Fixkosten zu zahlen.

Es herrscht grosse Einigkeit darüber, dass diese drohenden Zahlungausfälle verhindert werden sollten. Täglich erscheinen Medienberichte über Rufe nach immer grösseren Hilfsfonds. Was dabei allzu oft vergessen geht, ist die Frage, wieso und in welchem Mass es am Staat liegt, hier einzupringen, und wie genau man das Geld am intelligentesten verteilt, so dass Anreizwirkungen und Externalitäten Rechnung getragen wird. Wie schnell sich die Wirtschaft nach der Krise erholen und wie rasch sie danach wachsen kann, hängt in erster Linie von der Kreativität, den Handlungsmöglichkeiten und den Anreizen von Unternehmern ab – im Kleinen wie im Grossen. Darauf gehen wir in diesem Beitrag ein.

Ein wichtiges Grundprinzip ist hier, dass niemand Schuld trägt für den Ausbruch der Epidemie, und dass die wirtschaflichen Opfer somit möglichst breit zu verteilen sind. Die Logik ist mit einer Gebäudeversicherung vergleichbar: Sie wird von obligatorischen Prämien aller Immobilienbesitzer gespiesen und versichert gegen Schäden, von welchen einige ohne eigenes Zutun mehr betroffen sind als andere. Die sonst so wichtige Eigenverantwortung ist hier also ausnahmsweise weniger relevant, da die Krise unverschuldet über uns hereingebrochen ist. Und man kann von den meisten Firmen nicht erwarten, dass sie sich abgesichert haben gegen ein solches Jahrhundertereignis (dies ist erst das dritte Mal, dass Olympische Spiele nicht durchgeführt werden können, und das erste Mal nicht wegen einem Weltkrieg!).

Staatliche Kompensation der Corona-Kosten: effizient und gerecht

Alle schauen nun zum Staat: Er soll einspringen, um die Corona-Lücken in den Buchhaltungen und Lohnzahlungen der zwangsgeschlossenen Firmen und derer Mitarbeiter zu stopfen. Der Staat hat richtig gehandelt, indem er diesen Rufen Folge geleistet hat, und zwar sowohl aus Effizienz- wie auch aus Gerechtigkeitsüberlegungen.

Effizient ist eine Übernahme der Corona-Kosten durch den Staat aus einer ganzen Reihe von Gründen. Staatshilfen sind in der gegenwärtigen Ausnahmesituation weitgehend frei vom üblichen Makel der negativen Leistungsanreize: die Epidemie grassiert unabhängig von der Schweizer Wirtschaftspolitik. Zudem würde eine Welle von Konkursen die wirtschaftliche Erholung nach Ende der Corona-Krise verlangsamen. Es besteht hier also eine negative Externalität (Belastung der Konjunktur) von unternehmerischen Entscheidungen (einzelne Konkurse) – ein Lehrbuchbeispiel für effiziente staatliche Intervention. Zudem ist es wichtig, für nach der Krise noch eine solide Nachfrage zu sichern, indem man die Konsumenten und Produzenten nicht unnötig mit Schulden belastet. Schliesslich geniesst der Staat auf den internationalen Finanzmärkten bessere Kreditkonditionen als private Schuldner. Eine beim Staat gebündelte Schuldenlast kommt somit der Schweiz insgesamt billiger zu stehen.

Auch aus der Gerechtigkeitsperspektive spricht alles für ein starkes Engagement des Staats. Wenn wir die wirtschaftliche Überbrückung des Lockdown einzelnen Firmen und Personen überlassen, sind vor allem diejenigen betroffen, die in exponierten Branchen tätig sind und über wenig finanzielle Polster verfügen. Die Hauptbetroffenen des Corona-Stillstands – Gastgewerbe, persönliche Dienstleistungen, Non-Food-Detailhandel, Privatmedien etc. – sind aber nicht mehr oder weniger schuld an der Krise, als die vom Lockdown weniger tangierten Branchen, wie beispielsweise der öffentlichen Dienst oder die Landwirtschaft. Wieso sollte man die Kosten den unverschuldet exponierten Firmen aufbürden? Eine Kompensation der Opfer durch den Staat hat zudem den Vorteil, dass die finanzielle Last so von der gesamten Gesellschaft getragen wird, und zwar mit einem über den demokratischen Entscheidungsprozess fein austarierten Belastungsschlüssel namens Steuersystem. Wenn wir es ernst meinen mit einer breiten Verteilung der Lasten, dann kommt in erster Linie der Staat als sinnvoller Geldgeber in Frage.

Wieso der Staat dennoch nicht 100% der Kosten übernehmen sollte

Während der Staat also den Grossteil der Corona-Kosten übernehmen sollte, plädieren wir nicht für eine hundertprozentige Deckung. Hauptgrund dafür ist, dass auch in der gegenwärtigen Ausnahmesituation noch gewisse „moral hazard“-Anreizprobleme existieren. So würde ein voller Lohnersatz vielen Arbeitnehmern den finanziellen Ansporn nehmen, sich nach Tätigkeiten umzusehen, die während des Lockdown expandieren, beispielsweise im Gesundheitswesen oder in der Logistik. Unternehmen, die während der Corona-Krise neue Tätigkeitsfelder eröffnen könnten – man denke an Restaurants, die neu Heimlieferungen anbieten – hätten dazu auch kaum mehr Anreiz. Und mit Blick auf die Zeit der allmählichen Lockerung des Lockdown gilt es auch, der arbeitsfähigen Bevölkerung den Anreiz zu lassen, ihre Arbeit wieder aufzunehmen.

Durch den Corona-Lockdown bedingte Lohnausfälle gehen für die betroffenen Arbeitnehmer zudem mit mehr (wenn auch eingeschränkter) Freizeit und Kostenersparnissen (zum Beispiel für externe Kinderbetreuung) einher, was eine gewisse Lohneinbusse rechfertigen kann. Die vom Bund aufgegleiste weitgehende Übernahme der betroffenen Lohnkosten via Kurzarbeit und Erwerbsersatz scheinen uns somit vorbildlich: Die ausfallenden Löhne, Honorare, Gagen, etc. werden bis zu 80% vom Staat kompensiert.

Die Finanzhilfen für Kapitalkosten sind noch ungenügend

Ganz anders steht es um die Kapitalkosten (Mieten, Unterhaltskosten, Lagerkosten, Abschreibungen, Zinsen, etc.). Diese machen geschätzte 40% der Wertschöpfung der Schweizer KMU aus. Dafür sind bis jetzt bloss binnen maximal 7 Jahren voll rückzahlbare Darlehen vorgesehen. Die implizite staatliche Kompensation liegt hier somit sehr nahe bei Null. Dies ist weder effizient noch gerecht.

Die Ineffizienz einer reinen Darlehens-Politik liegt daran, dass ein rückzahlbarer Kredit im Umfang des Umsatzes von mehreren Wochen oder gar Monaten für viele Firmen eine grosse Belastung darstellen dürfte. Firmen mit knappen Margen und Polstern sähen sich angesichts einer solchen binnen sieben Jahren zurückzuzahlenden Schuldenlast gezwungen, Konkurs anzumelden. Dieses Phänomen würde mit zunehmender Dauer des Lockdown einen immer grösseren Teil der Firmen betreffen. Angesichts der grossen externen Kosten einer Konkurswelle ist eine Null-Kompensation der Kapitalkosten daher gesamtwirtschaftlich ineffizient.

Auch aus der Gerechtigkeitsperspektive ist die angedachte Politik fragwürdig: Wieso sollen die Eigner betroffener Betriebe die Einkommenseinbussen selber stemmen? Sie sind nicht mehr oder weniger schuldig an der Krise als Eigner zufälligerweise nicht betroffener Betriebe (beispielsweise Nahrungsmittelläden oder gewisse IT-Firmen). Die oben skizzierte Versicherungslogik gilt also auch für den Faktor Kapital.

Wie könnte eine praktikable Lösung aussehen? Auch hier sprechen Effizienzüberlegungen nicht für eine 100%-ige Kostenübernahme durch den Staat. Firmen, die während dem Lockdown noch ein gewisses Umsatzpotenzial besitzen, sollen keinen Anreiz haben, ganz am Tropf des Staates zu hängen. Zudem sollen keine eh marode Firmen künstlich am Leben gehalten werden.

Eine effiziente und gerechte A-fonds-perdu-Übernahme der Kapitalkosten betroffener Firmen dürfte somit im ähnlichen Prozentbereich liegen wie bei den Lohnersatzmassnahmen, das heisst bis zu 80%. Dieser Ersatzanteil könnte mit zunehmender Dauer des Lockdown und je nach Betroffenheit der Firma höher oder tiefer angelegt werden. Diese Zahlungen könnten durchaus auch in der Form von Darlehen durch die Geschäftsbanken an Firmen vergeben werden. Der Unterschied zu den gegenwärtig beschlossenen Massnahmen würde darin liegen, dass solche „Corona-Darlehen“ von Anfang an nicht nur mit einer staatlichen Bürgschaft sondern auch mit einem Versprechen verbunden wären, dass künftig bloss ein Teil davon zurückzuzahlen ist und vom Staat übernommen wird. Der präzise Abschlag wäre nach ausgestandener Krise festzulegen, je nach Dauer des Lockdown, Schwere der Beeinträchtigung der einzelnen Unternehmen, und derer Kostenstruktur. Für eine solche Prüfung bestände nach der Krise (im Gegensatz zu jetzt, sofort) ausreichend Zeit.

Vorbild Studiendarlehen?

Eine Zwischenform zwischen den aktuell vorgesehenen Darlehen und A-fonds-perdu-Zuschüssen wären Kredite, die nur bei künftig gutem Geschäftsgang rückzahlbar wären – vergleichbar mit Studiendarlehen in angelsächsischen Ländern, die im späterern Leben nur dann abzuzahlen sind, wenn die Absolventen genügend hohe Einkommen erzielen.
Solche bedingt rückzahlbare Kredite würden die Konkursgefahr wohl wesentlich schmälern im Vergleich zu einfachen Darlehen. Es könnte allerdings immer noch ungerecht erscheinen, dass Firmen in Lockdown-betroffenen Branchen dadurch mittelfrisig Gewinneinbussen zu gewahren hätten, von welchen nicht betroffene Firmen völlig verschont würden. Auch wäre es wichtig, dass die Rückzahlungen nicht den ganzen Gewinn wegfressen würden, da sonst Innovationsanreize beeinträchtigt würden.

Gewinnbedingt rückzahlbare Darlehen scheinen besonders sinnvoll für Firmen in Sektoren mit relativ tiefer Wettbewerbsintensität und somit hohen Gewinnmargen. Staatliche Hilfen an Firmen, die in Folgejahren grosse Gewinne und Boni ausschütten, wären trotz aller theoretischen Argumente für Gleichbehandlung politisch schwer vertretbar.

Ähnlich verhält es sich für Firmen, welche in Branchen operieren, wo globale Risiken zum täglichen Brot gehören, und so auch in den Gewinnmargen einkalkuliert werden sollten. Dies ist zum Beispiel in der Luftfahrt und Reisebranche der Fall, wo regelmässig Ereignisse wie 9/11, die Subprime-Krise, isländische Vulkane, SARS, etc. zu temporären Einbussen führen, und so quasi zum Geschäftsalltag gehören. Da die Corona-Pandemie in ihrer Wucht und Ausdehnung jedoch kaum vorhersehbar war, scheint auch für diese Sektoren eine gewisse staatliche Unterstützung gerechtfertigt.

Wie könnte eine praktikable Regel für „Corona-Darlehen“ aussehen? A-fonds-perdu-Kredite könnten beispielsweise denjenigen Sektoren vorbehalten bleiben, die Einnahmeausfälle während des Lockdown nicht oder nur sehr beschränkt durch aufgeschobene Nachfrage wettmachen können – man denke an die Gastronomie, persönliche Dienstleistungen oder Floristen. Andere Sektoren, wie zum Beispiel Möbelhäuser oder Baufirmen, haben grösseres Nachholpotenzial nach der Krise, womit gewinnbedingt oder gar voll rückzalbahre Darlehen dort sinnvoller sein könnten. Wichtig wäre, diese branchenspezifischen Kriterien möglichst rasch zu erarbeiten und zu publizieren, um die finanzielle Ungewissheit der kreditnehmenden Firmen auf ein Minimum zu beschränken. Für die Verzinsung könnte problemlos das bestehende Modell übernommen werden, mit Zinsätzen von 0% für kleine und 0.5% für grosse Kredite.

Whatever it takes

Aus Effizienz- wie auch Gerechtigkeitsüberlegungen empfehlen wir also eine grosszügige staatliche Kompensation der Umsatzrückgänge infolge des Lockdown. Wie gross sollte der Gesamtumfang dieser Zahlungen sein? In den berühmten Worten von Mario Draghi: Whatever it takes (was auch immer es braucht). Die Schweiz hat eine international beneidenswert tiefe Staatsverschuldung, welche gegenwärtig gar negativ verzinst ist. Auch eine Ausdehnung der Bundesverschuldung um einen dreistelligen Milliardenbetrag würde unsere Staatfinanzen nicht aus dem Lot bringen.

Es ist effizienter und gerechter, die Corona-Schulden im Bundeshaushalt mit demokratischer Kontrolle zu verwalten, als sie vom Virus zufallsverteilt der Privatwirtschaft aufzubürden.

Welches Medikament gegen die Corona-Rezession?

Urs Birchler

Die Kommentatoren sind sich einig: Der Corona (oder Sars-Covid-19) Virus schwächt die Weltwirtschaft. Die Menschen bleiben zuhause, statt zu Reisen; öffentliche Anlässe werden gemieden, wenn nicht zum vornherein verboten; Anschaffungen werden vertagt. Auch die OECD warnt in ihrem kürzlich veröffentlichten Bericht Bericht vor allem vor dem Rückgang der Nachfrage.

Der bekannte Ökonom Kenneth Rogoff erinnert deshalb in einem im Artikel im Guardian, dass das Problem mindestens so sehr auf der Angebotsseite liegt. Dutzende Millionen von Arbeitern bleiben dem Arbeitsplatz fern, globale Lieferketten zerfallen, Grenzen werden geschlossen, der Welthandel harzt.

All dies addiert sich zu einem „supply shock“, so Rogoff, wie ihn die Welt seit dem Ölschock der frühen siebziger Jahre nicht mehr gesehen hat. In einer solchen Situation sind zusätzliche Staatsausgaben gut und recht, aber das Angebotsproblem lösen sie nicht. Wichtig wäre es, Handelsbeschränkungen abzubauen und Handelskriege sofort zu beenden. Und — so würde ich anfügen –, den gehäuften Zusammenbruch längerfristig lebensfähiger Unternehmen zu vermeiden.

Nach einem negativen Angebotsschock, erinnert Rogoff, kann die Inflation trotz gleichzeitigem Rückgang der Nachfrage steigen anstatt fallen. Wie war es doch damals? Wir hatten im Studium eben gerade gelernt, dass schwere Rezessionen nicht mehr vorkommen könnten, da Geld- und Fiskalpolitik über genügende Munition verfügten, um die Nachfrage notfalls zu stützen. Da kam der Ölschock, und wir mussten ein neues Wort lernen: „Stagflation“ — das bis dahin als unmöglich erachtete Zusammengehen von Stagnation und Inflation. Oder: Die Strafe für den Versuch, eine Angebotslücke mit Nachfragestimulierung zu schliessen.

Wer hat, der erbt?

Marius Brülhart

In der Schweiz wird doppelt so viel Geld über Erbschaften und Schenkungen umverteilt wie durch die AHV: Geschätzten 95 Erbschafts-Milliarden stehen 46 Milliarden an ausbezahlten AHV-Renten gegenüber.

Während die AHV explizit darauf abzielt, Einkommensunterschiede zu reduzieren, werden Erbschaften gemeinhin als Treiber zunehmender wirtschaftlicher Ungleichheiten betrachtet. So sahen die Autoren der eidgenössischen Erbschaftssteuervorlage von 2015 ihre Idee als „Gegensteuer“ zu einer immer ungleicheren Verteilung der Vermögen.

Könnte es sein, dass die Initianten nicht nur mit ihrer Einschätzung der Mehrheitsverhältnisse – die Initiative konnte nur 29% des Stimmvolks überzeugen – sondern gar mit ihrer zentralen Prämisse falsch lagen? Befeuern Erbschaften die Vermögensungleichheit überhaupt?

Im Lichte neuer statistischer Befunde scheint die Antwort gar nicht so klar, wie man meinen könnte.

Die Berner Soziologen Ben Jann und Robert Fluder haben Steuerdaten aus dem Kanton Bern ausgewertet. Ihre Studie zeigt auf, dass 18 Prozent der Erbschaften an Erben fliessen, die eh schon zum Top-1-Vermögensprozent gehören. Die Autoren schliessen aufs Matthäus-Prinzip: „Wer hat, dem wird gegeben“.

Dieser Befund ist zweifelsohne korrekt. Aber er greift zu kurz, um Rückschlüsse auf die Verteilungswirkung von Erbschaften zu machen. Es ist nämlich denkbar, dass Erbschaften die Vermögensungleichheit verringern, auch wenn Reiche im Schnitt mehr erben als Arme.

Nehmen wir ein Zahlenbeispiel. Ein „armer“ Erbe mit 50‘000 Franken Vermögen erhält 100‘000 Franken, und sein Nachbar mit 5 Millionen Franken Vermögen erbt eine Million Franken. Der Reiche erbt zehnmal mehr als der Arme: Wer hat, dem wird vererbt.

Aber das Vermögen des Armen hat sich dank der Erbschaft verdreifacht, während das Vermögen des Reichen um bloss 20 Prozent gewachsen ist. Das Verhältnis ihrer Vermögen ist von 100:1 auf 40:1 gesunken. Obwohl der absolute Unterschied um 900‘000 Franken gewachsen ist, ist die Vermögensungleichheit gemäss aller gängigen Ungleichheitsmasse – Gini-Koeffizient, Perzentil-Verhältnisse, und wie sie alle heissen – geschrumpft.

Wenn 18 Prozent der Erbschaften Empfängern im Top-1-Vermögensprozent zugutekommen, klingt das zwar nach viel, aber der Anteil dieser gleichen Gruppe an den gesamten steuerbaren Vermögen liegt in der Schweiz mittlerweile über 40 Prozent. Die Top-1-Prozenter horten also einen grösseren Teil am Vermögenskuchen als sie gemäss der Berner Daten vom Erbschaftskuchen erhalten. Das würde bedeuten, dass sich Erbschaften ausgleichend auf die Vermögensverteilung auswirken.

Zu eben diesem Schluss kommt Peter Moser vom Statistischen Amt Zürich. In Zürcher Steuerdaten beobachtet er, dass die Vermögensdisparitäten unter Steuerzahlern im Alterssegment 57-67 markant zurückgehen. Da dies ein besonders stark von Erbschaften betroffener Lebensabschnitt ist, vermutet Peter Moser eine ausgleichende Wirkung der Erbschaften.

Meines Wissens gibt es in der Schweiz noch keine Studie, die den Effekt von Erbschaften und Schenkungen auf die Vermögensverteilung explizit und umfassend analysiert. (Die beiden vorliegenden Arbeiten lassen nur indirekt Rückschlüsse auf diesen Wirkungskanal zu.)

In Skandinavien sind solche Auswertungen dank einer besseren Datenlage möglich. Studien aus Dänemark und Schweden bestätigen, dass das Reich-Arm-Gefälle bei den Erbschaften etwas weniger stark ausfällt als bei den Vermögen. Die mittlerweile abgeschaffte schwedische Erbschaftssteuer scheint die Vermögensungleichheiten erstaunlicherweise eher verschärft als vermindert zu haben. Sie stellte nämlich trotz eines progressiven Steuertarifs einen höheren Anteil am Gesamtvermögen (Erbschaft plus existierendes Vermögen) von weniger vermögenden als von sehr vermögenden Erben dar.

Eine ebenfalls auf schwedische Daten gestützte aktuelle Studie zeigt hingegen auf, dass arme Erben ihr Erbe rascher aufbrauchen als reiche Erben. Über einen Zeitraum von zehn Jahren nach dem Erbgang konsumieren die meisten Leute ihr gesamtes Erbe. Dabei entfällt in den ersten Jahren nach der Erbschaft über ein Drittel dieses Konsums auf Autos. Zudem ist in den Daten auch ein zwischenzeitlicher Rückgang der Arbeitseinkommen erkennbar: viele Erben gönnen sich etwas mehr Freizeit.

Die grosse Ausnahme bilden Erben im Top-1-Vermögensperzentil. Deren geerbte Vermögen sind auch zehn Jahre nach Erhalt noch weitgehend intakt.

Der Unterschied beim Vermögensverzehr von Top-1-Prozentern und dem Rest der Bevölkerung führt dazu, dass Erbschaften in der langfristigen Betrachtung die Vermögensungleichheit halt doch vergrössern. Somit erscheinen Erbschaften durchaus wieder als potenzielle Treiber von dynastischer Vermögenskonzentration und langfristiger Ungleichheit.

Die Erkenntnisse aus den schwedischen Daten legen auch nahe, dass eine Erbschaftssteuer erst dann von oben nach unten umverteilt, wenn sie stark progressiv ausgestaltet ist. Konkret bedingt das eine markant stärkere Belastung des obersten Vermögensprozents. Die Erbschaftssteuer, über die wir 2015 abgestimmt haben, sah einen Freibetrag von 2 Millionen vor und wurde diesem Kriterium somit gerecht. Die noch existierenden kantonalen Erbschaftssteuern auf direkte Nachkommen jedoch haben viel tiefere Freibeträge – im Kanton Neuenburg zum Beispiel bei bloss 50‘000 Franken. Ob diese Steuern überhaupt progressiv wirken, ist unklar.

Fazit: Ärmere Erben erhalten anteilsmässig am bereits vorhandenen Vermögen eher mehr als reichere Erben, aber sie verbrauchen ihr Erbe auch schneller. In der langen Frist dürften Erbschaften die Vermögensungleichheit somit verstärken. In welchem Masse diese Befunde auf die Schweiz zutreffen, wissen wir nicht wirklich.

Ein ARTE-fakt zum Recht auf Wohnen

Urs Birchler

Gestern Abend verging mir bei ARTE-tv als Ökonom Hören und Sehen. Die „Dokumentation“ zum Recht auf Wohnen türmte in 90 Minuten ein Gebäude aus irreführenden und falschen Aussagen auf, das fast bis zu den Wolken reicht.

Dabei beginnt der Film witzig: „Wie merkst Du, dass Du Deine Wohnung verlierst?“ Antwort: „Wenn in der Nachbarschaft ein 2nd-Hand-Kleiderladen aufgeht.“ Weil: dann kommen die Künstler und anderen coolen Leute, das Quartier wird hip, und die Mieten steigen. Nicht für alle ist das witzig, weil sich einige die höheren Mieten nicht mehr leisten können.

Ökonomisch gesprochen, steigt die Nachfrage rascher als das Angebot, auch in der Schweiz: Die Leute verdienen mehr, geben mehr für’s Wohnen aus und beanspruchen mehr Wohnfläche oder zentralere und hippere Lagen — oder beides.

Der ARTE-Film will uns eine ganz andere Geschichte unterjassen: Das Problem sind „die Spekulanten“, „die Finanzmärkte“, „die Geier“, „Ausbeutung“, „die Eliten“. Schon die Terminologie macht deutlich, dass die Zuhörerschaft nicht zum Denken, sondern zum Fühlen angeregt werden soll.

Dort, aber, wo tatsächlich inhaltlich argumentiert wird, kommt’s strub:

Schon die Hauptthese ist verkehrt: Spekulanten kaufen Häuser, drücken die Preise nach oben, wodurch sich die Mieten verteuern. Diese Geschichte kann man auch beim Mieterverband lesen. Sie stimmt trotzdem nicht. Der Apfelbaum ist wertvoll, weil daran Äpfel wachsen. Und ein Haus ist wertvoll, weil man es vermieten oder darin wohnen kann. Nicht umgekehrt. Den Mieter kümmert es nicht, wieviel die Vermieterin für das Haus gezahlt hat. Noch nie habe ich in einem Wohnungsinserat einen Hinweis gelesen, das Haus sei teuer oder billig gewesen, als Argument für eine hohe Miete („Aufwendig renoviert“ zählt wegen des damit verbundenen Komforts, nicht wegen der Kosten.). Hingegen steht bei Immobilienangeboten oft: „Voll vermietet“ als Argument für einen hohen Kaufpreis. Kurz: „Spekulation treibt Mieten“ ist eine Schwanz-wedelt-mit-Hund-Geschichte.

Der vorliegende Fernsehbeitrag setzt aber noch einen drauf und behauptet, die Spekulanten liessen Häuser aus blanker Gier leerstehen. Wie das zusammengeht, erfahren wir nicht. Vielleicht macht die Regulierung einen vorübergehenden Leerstand lohnend, aber von Regulierung des Wohnungsmarktes ist im Beitrag nicht die Rede. Schade — gerade hier hätte man eine Geschichte von Eigennutz versus Gemeinsinn erzählen können: Generell mögen Bauherren Bauvorschriften nicht besonders; wie der The Economist, berichtet, befürworten jedoch diejenigen, die bereits ein Haus haben, oft Einschränkungen der weiteren Bautätigkeit in ihrem Quartier.

Der Fernsehbericht belegt die Ruchlosigkeit der Immobilienspekulanten jedoch mit dem (durch Mängel in Bau und Unterhalt mitverursachten) Brand des Londoner Grenfell Tower von 2017. Mit keinem Wort wird dabei erwähnt, dass das Hochhaus dem Kensington and Chelsea London Borough Council gehört, d.h. gerade nicht einem gierigen Privatspekulanten, sondern der dem Allgemeinwohl verpflichteten öffentlichen Hand!

Dann eher schräg: Die (in ihrem Fach durchaus renommierte) Soziologie-Professorin Saskia Sassen unterscheidet zunächst zwischen den „bösen“ Finanzmärkten und den (man höre und staune) „guten“ Banken. Sie beklagt, dass Finanzmärkte aus Gewinnsucht Dinge verkauften, die sie gar nicht haben. Die (seit der Finanzkrise permanent gescholtenen) Banken hingegen kümmerten sich echt um das Wohl ihrer Kunden, weil sie dereinst auch deren Kinder und Enkel bedienen möchten. Ferner hat die Soziologin den in ihren Augen haarsträubenden Umstand entdeckt, dass der Wert der Immobilien weltweit grösser sei als das globale BIP, d.h. das gesamtwirtschaftliche Jahreseinkommen. Es scheint der Soziologin bisher entgangen zu sein, dass die meisten Häuser (wohl auch ihr eigenes) selbstverständlich teurer sind als ein Jahreseinkommen ihrer Bewohner.

Überhaupt ist der Beitrag in erster Linie eine Selbstdarstellung der UNO-Sonderbeauftragten Leilani Farha, die zuhanden des UNO-Menschenrechtsrates die Einhaltung des Rechts auf Wohnung in verschiedenen Ländern und Städten beobachtet (im Film: Uppsala, London, Berlin, Valparaiso, New York). Kürzlich intervenierte Frau Farha, wie SRF berichtete, auch beim Bund. Sie will festgestellt haben, dass ein von der CS-Pensionskasse geplanter Neubau einer Wohnsiedlung in Zürich Wiedikon gegen die Menschenrechte verstösst, weil die Mieter in den abbruchbedrohten Liegenschaften zunächst ausziehen müssten. Der Bundesrat muss nun dazu Stellung nehmen.

Ich musste selber nachschauen: Was beinhaltet das Menschenrecht auf Wohnen? Grob gesagt: Es soll jede(r) ein Dach über dem Kopf haben, und zwar ein zumutbares (also beispielsweise mit Wasseranschluss). Ausdrücklich kein Menschenrecht ist jedoch der Verbleib in einer Wohnung im Falle von Renovation oder Neubau. Das offizielle UNO-Dokument sagt dazu klipp und klar: „The right to adequate housing does NOT prohibit development projects which could displace people“ (The Right to Adequate Housing, S. 7). Die Dame könnte auf einer ihren vielen von der UNO (d.h. den Steuerzahlern) finanzierten Reisen vielleicht einmal die eigenen Dokumente lesen, anstatt den Bundesrat mit der Strafaufgabe eines Berichts zur Wohn-Menschenrechtslage in Zürich Wiedikon zu beglücken. Aber, wie sie im Bericht selbst sagt (siehe Bild), es geht nicht um Fakten, „es ist eine Schlacht der Worte“.

Traurig hinterlässt mich nach neunzig Minuten, dass es ausgerechnet den sonst so sympathischen Sender ARTE-tv erwischt hat.

Vermögensungleichheit bei nicht-menschlichen Tieren

Monika Bütler

«We present the first description of “wealth” inequality in a non-human animal». Interessant – zumal die Vermögensungleichheit in diesem Blog schon mehrere Male diskutiert wurde (siehe hier und hier oder hier). Grund genug, die Batz-LeserInnen an den Resultaten teilhaben zu lassen.

Die Studie befasst sich mit der Behausung von Einsiedlerkrebsen. (Zur Erinnerung: Einsiedlerkrebse bewohnen leere Schneckenhäuser oder ähnlichen Behausungen, die von anderen Lebewesen stammen). Konkret messen die Forscher die Verteilung der Grösse der Schneckenhäuser (interpretiert als das Vermögen der Einsiedlerkrebse) und vergleichen sie anschliessend mit der Vermögensverteilung menschlicher Tiere.

Der gemessene Gini Koeffizient der Krebse ist um 0.32. Er ist somit deutlich kleiner als der Gini-Koeffizient heutiger Industriestaaten, bei denen die Gini Koeffizienten zwischen circa 0.50 (Slowakei) und 0.85 (das sehr vermögensungleiche Schweden) liegen. Zur Illustration habe ich die Lorenzkurve der Einsiedlerkrebse aus den Daten des Papers rekonstruiert und damit meine alte Graphik zum Vermögensverteilungsquiz (siehe hier und hier) mit den brandneuen Erkenntnissen angereichert. Tatsächlich liegt die Kurve deutlich über derjenigen der relativ vermögensegalitären Länder wie Irland und Japan.  Auf jeden Fall erreichen die Krebse eine Vermögensverteilung, von der Thomas Piketty nur träumen kann.

Die Forscher argumentieren, dass die gemessene Ungleichheit unter den Einsiedlerkrebsen eher mit derjenigen von kleineren Menschengruppen (Jäger und Sammler zum Beispiel) vergleichbar sei. Möglicherweise ist der Vergleich der Krebsimmobilien mit den menschlichen Vermögen nicht der richtige. Die Schneckenhäuser werfen ja – ausser dem Eigenmietwert – keine Rendite ab und können weder abgebaut noch aufgebaut werden. Eine Verschuldung – wie bei einem guten Viertel der Schweden beobachtet wird – ist auch nicht möglich. Zieht man als Vergleich die Verteilung der Einkommen menschlicher Tiere heran, ist die Übereinstimmung hingegen frappant.

Ob die Einsiedlerkrebse zum Verständnis der Ungleichheit unter den Menschen taugen, wie die Forscher suggerieren, ist meines Wissens noch nicht restlos geklärt.

PS: Wer sich für die Messung der Vermögensungleichheit interessiert, hier noch mein Beitrag für das Magazin Cicero.

Quelle: I.D. Chase, R. Douady and D.K. Padilla, A comparison of wealth inequality in humans and non-humans, Physica A (2019), doi: https://doi.org/10.1016/j.physa.2019.122962

Schuldenbremse: Woher der Reform-Unwille?

Marius Brülhart

Wieso tut sich die Schweizer Politik so schwer mit der überfälligen Anpassung der Schuldenbremse?

Der Bundesrat freut sich auch dieses Jahr wieder auf ein über Erwarten rosiges Finanzergebnis. Er rechnet mit einem Überschuss von 2.8 Milliarden Franken – mehr als doppelt so viel wie budgetiert.

Hauptursache für die regelmässigen Rechnungsüberschüsse ist die unvollständige Ausschöpfung der gesprochenen Kredite. Dieses Phänomen hat nachvollziehbare Gründe und ist Ausdruck einer funktionierenden Verwaltung. Die budgetierten aber ungebrauchten Mittel betrugen in den letzten zwölf Jahren jeweils durchschnittlich 1.1 Milliarden. Eine seit 2017 geltende budgettechnische Flexibilisierung hat die jährlichen Kreditreste nur unwesentlich, auf ca. 0.9 Milliarden, gesenkt.

Der Bundesrat selber bezeichnet Budgetunterschreitungen infolge von Kreditresten denn auch als „systembedingt“.

Und trotzdem hat er sich unlängst ausdrücklich geweigert, die Schuldenbremse an diese Gegebenheit anzupassen.

Eine entsprechende Ergänzung des Regelwerks wäre vergleichbar mit der geläufigen Praxis der Fluggesellschaften, ihre Maschinen zu überbuchen, weil sie genau wissen, dass ein kleiner aber stetiger Anteil der gebuchten Passagiere die Reise letztlich nicht antritt. Ohne diese Praxis wären die Flugzeuge chronisch unterbelegt. Und ohne eine entsprechende Praxis weist der Rechnungsabschluss des Bundes eben chronisch Überschüsse aus.

Stattdessen schlägt der Bundesrat vor, den Budgetvollzug weiter zu flexibilisieren. Das Phänomen Kreditreste werden solche Massnahmen aber nicht aus der Welt schaffen. Dies wäre nur durch einen verschwenderischen Umgang mit öffentlichen Geldern zu erreichen, denn Budgetreste gehen unweigerlich mit einer effizienten Finanzkontrolle einher.

Woher also die Renitenz gegenüber einer Ergänzung der Schuldenbremse? Was spricht dagegen, die alle Jahre wiederkehrenden Kreditreste vorausschauend in der Budgetierung zu berücksichtigen?

Das Zögern der Politik liegt wohl zumindest teilweise daran, dass jegliche Anpassung der Schuldenbremse intuitiv als Lockerung verstanden wird; wobei man unter „Lockerung“ einen Anstieg der Staatsquote versteht. Beispielhaft dafür ist ein Beitrag von leitenden Ökonomen aus der Bundesverwaltung. Die Autoren sehen keinen akuten Bedarf nach zusätzlichen Bundesausgaben und somit auch keinen Anlass zu einer Anpassung der Schuldenbremse. Sie setzen eine Anpassung der Schuldenbremse also implizit gleich mit Zusatzausgaben.

Dies ist ein Missverständnis.

Es gibt zwar in der Tat Reformvorschläge, die in höheren Ausgaben münden würden. Gemäss dem Vorschlag der Expertenkommission jedoch wäre eine Ergänzung der Schuldenbremse mit einer Steuersenkung verbunden und nicht mit einer Ausgabenerhöhung. Also absolut staatquotenneutral.

Oder vielleicht will man auch bloss das Regelwerk nicht verkomplizieren. Die Luzerner Ökonomen Christoph Schaltegger und Michele Salvi sprechen von einer „komplexen Anpassung“, die erforderlich wäre. Technisch wäre die vorgeschlagene Ergänzung allerdings ziemlich simpel, denn man müsste bloss den existierenden Konjunkturfaktor um einen einfach berechenbaren administrativen Korrekturfaktor ergänzen.

Oder gründet der Unwille zur Reform letztlich in einer tiefen und nicht immer rationalen Aversion gegenüber Schulden jeder Art? Bekanntlich hat bei uns der Begriff „Schuld“ gleichzeitig ökonomische und moralische Bedeutung, wogegen beispielsweise die englische Sprache zwischen „debt“ und „guilt“ unterscheidet. Vielleicht präsentieren unsere Politiker ganz gerne unerwartete Überschüsse, und sehen darin mitnichten ein Marketingproblem.

Wie dem auch sei: Dass die Schweizer Steuerzahler Jahr für Jahr eine Milliarde Franken hinblättern für eine ökonomisch kaum mehr zu rechtfertigende Reduktion der ohnehin rekordtiefen nominellen Staatschuld, geht in dieser Diskussion gemeinhin vergessen.

Libra für Eilige

Urs Birchler

Zur kürzlich von Facebook angekündigten Privatwährung „Libra“ ist bei SUERF ein Leitfaden erschienen. Autor ist Beat Weber, Ökonom bei der Österreichischen Nationalbank. Von ihm stammt auch das Buch
Democratizing Money? Debating Legitimacy in Monetary Reform Proposals (Cambridge University Press, 2018).

Webers Analyse lautet in (meinen) Stichworten:

  • Libra ist keine Kryptowährung, sondern eine private Digitalwährung. Solche Währungen haben durchaus Chancen, wie das Beispiel von Q-Coin (emittiert von Tencent) zeigt.
  • Libra beruht — im Gegensatz zu Bitcoin — auch nicht auf einem dezentralisierten System; zwar sind mehrere Unternehmen beteiligt, aber die Ausgabe und die Vewaltung von Libra erfolgt zentral durch einen Libra-Council, der eine private Zentralbank darstellt. Libra ähnelt dem Euro, einfach mit Firmen anstatt Staaten.
  • Libra beruht — entgegen der Aussage von Facebook — nicht auf einer Blockchain; die Konti werden nicht dezentral und unabänderlich geführt.
  • Libra ist konzipiert als „stablecoin“; der Wert wird — gemäss Ankündigung von Facebook — konstant gehalten im Vergleich zu einem Korb bestehender Währungen. Libra ähnelt daher einer Bankeinlage (die auch immer im Verhältnis von 1:1 in SNB-Franken eintauschbar ist. (Der Libra-Council kann daher auch nie als Lender of Last Resort auftreten oder eine aktive Politik führen.) Libra ist damit auch kein Hedge gegen Inflation der Währungen, die im korb enthalten sind.
  • Das Versprechen, den Wert von Libra konstant zu halten kann in Konflikt stehen mit dem Interesse der dahinter stehenden Unternehmen.
  • Geld existiert aufgrund von (oder: besteht in) Vertrauen. Bei Libra fehlt aber einstweilen eine Legitimation, die Vertrauen schafft.
  • Die Marktmacht der hinter Libra stehenden Unternehmen kann der Währung eine starken Rückhalt geben, auch wenn diese nicht im gesamtwirtschaftlichen Interesse liegt, für welches sie gemäss Facebook geschaffen ist.

Libra existiert bisher nur als Idee in einem White Paper. Wie sich die Behörden und Regulatoren verhalten werden, sollte Libra tatsächlich dereinst vom Stapellaufen, ist noch ungewiss.

Finanzelite macht Bargeld den Prozess

Urs Birchler

So lautet, leicht gekürzt, die Schlagzeile im Tagesanzeiger zu unserer kürzlichen Aufführung im English Theatre in Frankfurt.

Dass das Bargeld noch einmal freigesprochen wurde, ist das eine. Mir (und der Dramaturgin Barbara Ellenberger) ist etwas anderes wichtig: Man kann eine Konferenz von morgens 8:30 bis abends 17:00 so inszenieren, dass den ganzen Tag lang (mit 2-3 unwesentlichen kurzen Ausnahmen) kein(e) Teilnehmer(in) je aufs Handy schaut. Und so, dass alle Referent(inn)en exakt zum Punkt reden. Und keine(r) überzieht.

Fragen gerne an:
Barbara Ellenberger
Urs Birchler
SUERF