NZZ reitet auf totem Pferd — Kommentar von Oliver Kessler

Urs Birchler

Gestern habe ich einen Beitrag von Oliver Kessler in der NZZ kritisiert. Dazu ist folgende Stellungnahme des Autors eingegangen:

Vielen Dank für Ihre Zeilen und Ihren Beitrag, den ich im Sinne des Wettstreits der Ideen natürlich begrüsse und mit Interesse gelesen habe.

In Ihrem Beitrag erkenne ich drei Argumente, die die Thesen von Rothbard angeblich widerlegen:

1.) Die als „Beweis“ angeführten Käufe der FED von Staatsobligationen sind nur ein Teil des Ganzen: Die gleichzeitig auslaufenden Guthaben der FED werden dabei ausgeblendet.

Rothbard hatte konkret aufgezeigt, wie die Geldmenge von 1921-29 stark gewachsen ist. Es geht da nicht nur um Staatsanleihenkäufe, sondern um das Wachstum der Geldmenge, das eines der wichtigsten Kriterien für die Beurteilung ist, ob eine Geldpolitik expansiv oder restriktiv ist. Wächst die Geldmenge in nur 8 Jahren um satte 62 Prozent, kann man meiner Meinung nach nicht sagen, es sei falsch, hier von einer expansiven Geldpolitik zu sprechen. Sonst haben wir hier einfach unterschiedliche Definitionen von „expansiv“.

2.) Die FED war in diesen Jahren keineswegs autonom, sondern operierte unter dem Goldstandard. Unter diesem floss aber aufgrund der Entwicklung in Europa in grösserem Ausmass Gold in die USA. Die eigenständigen Massnahmen der FED zielten darauf ab, diese expansiven Einfluss wenigstens teilweise zu kompensieren.

Ob die Fed in diesen Jahren autonom war oder nicht, spielt für die Feststellung, dass eine expansive Geldpolitik zu Zeiten vor und am Anfang der Krise vorherrschte, letztlich keine Rolle. Der Grund für eine expansive Geldpolitik wäre eine andere Diskussion.

3.) Sie zitieren anschliessend noch aus dem Buch von Friedman und Schwarz:

Doch auch aus diesem Zitat entnehme ich ausser einer Behauptung keine Belege, die darauf hinweisen, dass es sich um eine restriktive Geldpolitik gehandelt haben soll.

Ich kann Ihnen daher nicht folgen, wenn Sie schreiben: „Die „übermässig expansive“ Politik der FED ist daher eine Legende“.

Gibt es noch andere (nicht genannte) Gründe, weshalb Sie zu diesem Schluss kommen? Diese würden mich interessieren.

Mit freundlichen Grüssen,
Olivier Kessler

Ich erlaube mir dazu zwei Bemerkungen:

  • War die Politik der FED expansiv, weil sie die durch den Goldstandard bedingten Zuflüsse nicht energisch genug oder nur mit unzulänglichen Mitteln bekämpfte? Hier besteht die Gefahr, um Worte zu streiten. Ich finde es etwas irreführend, die FED zu kritisieren für ein Problem, das letztlich am Goldstandard liegt.
  • Die Geldpolitik war weder besonders expansiv noch restriktiv, sondern ungefähr „akkomodierend“. Die von Rothbard behauptete Geldmengenexpansion von 1921-29 von 62 Prozent entspräche einer Wachstumsrate von 7.75 Prozent pro Jahr. Rothbard schliesst aber in der Geldmenge den Wert ausstehender Lebensversicherungspolicen ein, was bereits von Milton Friedman kritisiert wurde. Ohne diese Policen stieg die Geldmenge um 46 Prozent oder 5.75 Prozent im Jahr, das heisst ungefähr im Gleichschritt mit dem realen BIP.

Friedensvorschlag: Eine aus meiner Sicht faire Beurteilung gibt Mark Skousen in einem informativen Blog-Beitrag. Er weist auch darauf hin, dass die Vertreter der Österreichischen Schule Ludwig von Mises und Friedrich A. Hayek vor einer kommenden Krise warnten, während deren Gegner John M. Keynes und Irving Fisher völlig überrascht und mit herben finanziellen Verlusten bestraft wurden. (Keine Rehabilitation erfährt jedoch Murray Rothbard).

NZZ reitet auf totem Pferd

Urs Birchler

In der NZZ von gestern präsentiert der Direktor des Liberalen Instituts, Oliver Kessler, unter dem Titel „Falsche Lehren aus der Grossen Depression“ eine alte, längst widerlegte Kritik an der amerikanischen Zentralbank FED.

Die Federal Reserve soll die Krise von 1929 mit einer übermässig expansiven Geldpolitik (mit)verursacht haben. Kessler bezieht sich auf den 1995 verstorbenen radikalen Vertreter der (staatskritischen) Österreichischen Schule (Mises, Hayek u.a.) Murray Rothbard, Autor des Buches America’s Great Depression (1963).

Das Argument von Rothbard/Kessler, die FED habe in den Jahren 1921-29 die Geldmenge ausgeweitet, ist aber falsch:

  • Die als „Beweis“ angeführten Käufe der FED von Staatsobligationen sind nur ein Teil des Ganzen: Die gleichzeitig auslaufenden Guthaben der FED werden dabei ausgeblendet.
  • Die FED war in diesen Jahren keineswegs autonom, sondern operierte unter dem Goldstandard. Unter diesem floss aber aufgrund der Entwicklung in Europa in grösserem Ausmass Gold in die USA. Die eigenständigen Massnahmen der FED zielten darauf ab, diese expansiven Einfluss wenigstens teilweise zu kompensieren.

Die „übermässig expansive“ Politik der FED ist daher eine Legende, bzw. eine Folge des Goldstandards, der gerade bei der Östereichischen Schule einen guten Ruf geniesst. Auch die Interpretation des Börsenbooms bis 1929 als „verdrängte Inflation“ wurde schon von Friedmann und Schwarz „A Monetary History of the United States 1867-1960“ — nach wie vor dem Standardwerk zur amerikanischen Geldgeschichte (siehe zum Beispiel die detaillierte Diskussion durch Michael Bordo) — ausdrücklich verworfen:

„The widespread belief that what goes up must come down … plus the dramatic stock market boom, have led many to suppose that the United States experienced severe inflation before 1929 and the Reserve System served as an engine of it. Nothing could be further from the truth.“ Noch weiter von der Wahrheit entfernt dürfte dennoch Rothbards Behauptung sein, die FED sei nach dem Börsencrash von 1929 zu expansiv gewesen.

Die NZZ und der Leiter des Liberalen Instituts reiten hier auf einem zumindest lahmen Pferd. Das ist schade: Wer selber liberal fühlt (wie der Autor dieses Beitrags) wünscht sich den Wettstreit der (gerne auch neuen) Ideen und nicht das Aufwärmen längst abgetischter Irrtümer.

P.S.: Dieser Beitrag ist in keiner Weise gemeint als Verharmlosung der Geldmengenexpansion der meisten Notenbanken seit Beginn der Finanzkrise von 2007.

Das Theater mit dem Virus

Urs Birchler

Am Zürcher Theaterspektakel inszeniert der in Genf lebende holländische Regisseur Yan Duyvendak das Stück Virus. Bemerkenswert ist, dass er dieses vor der Corona-Zeit konzipiert hat. Bemerkenswert ist auch, dass im Stück die Zuschauer selbst mitspielen. Duyvendak hat die Zuschauer schon 2013 als Richter/innen darüber entscheiden lassen, ob Hamlet am Tod von Ophelia schuldig ist. Ein bisschen waren wir vermutlich davon inspiriert, als wir mit Cash on Trial (Zürich 2015, Frankfurt 2019) die Teilnehmer über das Bargeld zu Gericht sitzen liessen. Hier aber geht es um die Kontrolle eines plötzlich aufgetauchten Virus.

Duyvendak lässt (Zitat NZZ) „sein Publikum «Virus» spielen und dabei versuchen, in der Rolle eines real existierenden Players – eines Vertreters der Wirtschaft, der Forschung, der Sicherheit, der Gesundheit, der Presse zum Beispiel – eine globale Pandemie in den Griff zu bekommen.“

Nicht überraschend für die bei James Buchanan geschulten Ökonomen läuft dabei, wie die NZZ berichtet, nicht alles rund: „Mit einem Schlag erhalten Partikularinteressen mehr Gewicht als verbindende Strategien. Die «Sicherheit» will Polizei an die Grenze stellen und sucht dafür bei der «Wirtschaft» nach Geld. Die Gruppe «Presse» wiederum verlautbart ihre Krisencommuniqués, die im Tumult ungehört bleiben, jeder ist mit sich selbst beschäftigt und mit wildem Aktivismus.“

Die Leserschaft der NZZ mag grossenteils, ohne zu husten auch den folgenden Satz geschluckt haben: „Die «Forschung» aber sieht ihre Stunde gekommen und stellt bei ihren Mitspielern reihum irrwitzig hohe finanzielle Forderungen.“ Ich nicht. Ich habe mich nicht nur verschluckt, sondern auch fast noch die Kaffeetasse fallen lassen. Nicht nur, weil die Pharma-Industrie mit vielen Beispielen bewiesen hat, dass sie in einer allgemeinen Notlage Gemeinnutz über Gewinnstreben stellen kann. Vielmehr ist der Kaffee auf meinem Hemd dem Gedanken an die Covid-19 Task Force geschuldet: Als Ehemann eines Task Force Mitglieds kann ich bezeugen, dass die Mitglieder der Task Force (und ihrer Untergruppen) über Wochen fast tägliche Videokonferemzen abhielten, dazwischen Forschungsergebnisse aufbereiteten und die Diskussionsergebnisse zu (elektronischem) Papier brachten, und dies — la réalité dépasse le théatre — gratis und franko, in Fronarbeit als Dienstleistung an die Schweiz. Da alle Mitglieder daneben einen „Job“ haben, wie z.B. die Leitung eines Spitals, des Schweizerischen Nationalfonds, oder eines Forschungsinstituts, fanden die Konferenzen in der Regel abends und an den Wochenenden statt. Nicht immer zur Begeisterung der Familien.

Wenn laut NZZ das Theaterstück (das ich in keiner Weise kritisieren möchte!) „eine fiese Lektion in Menschenkunde“ darstellt, bietet die Realität (auch der Einsatz des Gesundheitspersonals und vieler anderer an der viralen „Front“ bis hin zu freiwilligen Maskenträgern) auch die eine oder andere eine Lektion in Gemeinsinn.

Die Schweiz hat, wovon Amerika träumt

Patrick Chuard und Veronica Grassi

Je weniger man weiss, desto einfacher lässt es sich predigen. So scheint es auch mit der Chancengleichheit in der Schweiz zu sein. Sie gilt über das gesamte politische Spektrum als erstrebenswert, obwohl wenig darüber bekannt ist. Die linke Seite klagt, sie sei zu niedrig, während die rechte darauf pocht, dass sie gerade in der Schweiz hoch sei. Widersprechen konnte man bisher keiner Seite. Zuverlässige Studien zur Einkommensmobilität in der Schweiz gab es keine, weil bis anhin schlicht die Daten fehlten.

In unserer aktuellen Studie können wir die Einkommensmobilität in der Schweiz anhand von neuen Daten aus der AHV-Statistik messen. Unsere ersten – noch nicht peer-reviewten – Resultate zeigen, dass die Einkommensmobilität in der Schweiz hoch ist: Im Vergleich zu anderen Ländern hängt der eigene Lohn weniger vom Lohn der Eltern ab – wesentlich weniger als in den USA und Italien, und gar weniger als in Schweden. Gleichzeitig sehen wir, dass die Bildungsmobilität tief ist: Kinder von gutverdienenden Eltern besuchen viel häufiger das Gymnasium oder die Universität. Wie passt das zusammen?

Einkommensmobilität messen

Es gibt verschiedene Kennzahlen, um die Chancengleichheit bezüglich Einkommen zu messen. Ein herkömmliches Mass ist die Intergenerations-Elastizität: Ein um 10 Prozent höheres Einkommen der Eltern geht einher mit einem um z.B. 3 Prozent höheren Einkommen der erwachsenen Kinder. Die Intergenerations-Elastizität hat aber verschiedene statistische Nachteile (z.B. Nicht-Linearität).

En vogue ist deshalb die «Rang-Rang Steigung» (rank-rank slope). Dabei vergleicht man das Einkommen der Eltern und Kindern nicht direkt in Franken, sondern man teilt die Einkommen erst in hundert Ränge ein. Das Prozent der Bevölkerung, das am meisten verdient, in Rang 100; das Prozent, das am wenigsten verdient, in Rang 1. Da das Einkommen vom Alter abhängt, erhält jeder Jahrgang eine eigene Rangliste. Anschliessend messen wir den Zusammenhang zwischen den Einkommensrängen der Eltern und derjenigen ihrer Kinder. Ein stärkerer Zusammenhang geht mit einer höheren Rang-Rang Steigung einher und entspricht einer tieferen Einkommensmobilität. Der Zusammenhang zwischen den Rängen von Eltern und Kindern ist (anders als bei der Intergenerations-Elastizität) fast linear. Dies vereinfacht viele Analysen.

Wir beschränken uns auf die Kinder-Jahrgänge 1967 bis 1984. Diese Jahrgänge sind genügend jung, dass noch Daten zum Einkommen ihrer Eltern vorhanden sind – und dennoch alt genug, dass ihr Einkommensrang einigermassen stabil bleibt. Einkommen der Kinder messen wir zwischen 30 und 33 Jahren, das Einkommen der Eltern dann, wenn ihre Kinder zwischen 16 und 20 Jahre alt sind. Wird das Einkommen von Kindern zu früh gemessen, läuft man Gefahr, die Einkommensmobilität zu überschätzen, weil Kinder von reichen Eltern tendenziell mehr verdienen, wenn sie älter sind.

Einkommensmobilität in der Schweiz

Abbildung 1: Einkommensrang des Vaters und durchschnittlicher Einkommensrang der Kinder. Je höher die Steigung der Geraden, desto stärker hängt das Einkommen der Kinder vom Einkommen des Vaters ab. Jahrgänge der Kinder: 1967 bis 1984. Einkommen der Kinder wird gemessen, wenn sie zwischen 30 und 33 Jahre alt sind; das Einkommen des Vaters, wenn die Kinder zwischen 15 und 20 Jahre alt sind. (Chuard & Grassi, 2020)

Wie steht es nun um die Einkommensmobilität in der Schweiz? Abbildung 1 zeigt den Zusammenhang zwischen dem Einkommensrang des Vaters und dem Einkommensrang des Kindes. Die Punkte zeigen für jeweils zwei zusammengefasste Ränge des Vaters den durchschnittlichen Rang der Kinder. Kinder mit einem Vater im tiefsten Rang 1, erreichen im Durchschnitt Rang 42. Kinder mit den reichsten Vätern enden im Schnitt auf Rang 57. Je steiler die Gerade, also je höher die «Rang-Rang Steigung», desto schlechter steht es um die Chancengleichheit.

In der Schweiz beträgt diese Steigung 0.15. Das bedeutet, dass es immer noch beträchtliche Unterschiede gibt im Einkommen von Kindern aus einkommensreichen und -armen Elternhäusern. Rechnet man die Ränge zurück in Franken, erhält man einen Lohnunterschied von rund 12’000 Franken pro Jahr zwischen Kindern der ärmsten und reichsten Väter. Das ist zwar nicht wenig, aber im Vergleich zu anderen Ländern doch ziemlich gering.

Leider gibt es erst zu wenigen Ländern zuverlässige Studien. Aber ein paar interessante sind dennoch dabei. Die USA – das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ja der Entstehungsort des «American Dream» Mythos – schneidet schlecht ab. Die Rang-Rang Steigung in den USA beträgt 0.34. Fairerweise muss man sagen, dass USA nicht gleich USA ist. Es gibt Gebiete mit hoher Chancengleichheit, aber auch Provinzen, die eher an einen amerikanischen Albtraum erinnern. Spannende Informationen gibt es hier im Opportunity Atlas. In Italien beträgt die Rang-Rang Steigung 0.25. Sogar im als egalitär gepriesenen Schweden ist die Chancen-Ungleichheit gemessen anhand der Rang-Rang Steigung mit 0.18 höher als in der Schweiz.

Heisst das nun, dass das «Glück der Geburt» bestimmt, in welchem Einkommensrang man später endet? Nein. Wichtig zu verstehen ist, dass die Streuung sehr gross ist. Zwar erhalten Kinder von ärmeren Eltern im Schnitt ein tieferes Einkommen, dennoch schaffen es viele von ihnen in hohe Einkommensränge. Genauso gibt es viele Kinder von reichen Eltern, die in tiefen Einkommensrängen enden. Man spricht davon, dass der Erklärungsgehalt dieses Modells tief ist (R^2 ist ungefähr 0.02). Es gibt also neben dem Einkommen der Eltern viele andere Gründe oder einfach viel Zufall, die den Lohn bestimmen.

Hier ist die «American Dream» Kennzahl spannend. Sie gibt an, wie viele Kinder aus einkommensarmen Verhältnissen an die Spitze kommen. Genauer gesagt, wie hoch der Anteil der Kinder der 20 Prozent einkommensärmsten Eltern ist, die es später in die reichsten 20 Prozent schaffen. In unserer Studie für die Schweiz sind dies 13 Prozent, in Italien 10 Prozent, und in den USA nur gerade 8 Prozent. Schweden schneidet hier mit knapp 16 Prozent etwas besser ab. Zur Einordnung: Wären die Einkommen der Kinder völlig unabhängig von denen der Eltern betrüge diese Kennzahl 20 Prozent.

Bildung und Einkommen der Eltern: Verlorene Einsteins?

Weshalb prägen die Einkommen der Eltern jene ihrer Kinder in der Schweiz weniger als in anderen Ländern? Ein üblicher Verdächtiger ist das Bildungssystem. Höhere Bildung für alle, gleich höherer Lohn für alle, gleichere Chancen – würde man denken. Doch: falsch gedacht. Zumindest auf den ersten Blick.

Abbildung 2 zeigt für jeden Einkommensrang des Vaters (horizontale Achse), den Anteil der Kinder im Gymnasium (blau) oder in der Lehre (rot). Die Einkommensdaten stammen wiederum aus der AHV-Statistik, Informationen zur Bildung stammen aus der Strukturerhebung des Bundesamtes für Statistik.

Abbildung 2: Bildungsweg und Einkommensrang des Vaters. (Chuard & Grassi, 2020)Bildungsweg und Einkommensrang des Vaters. (Chuard & Grassi, 2020)

Der Bildungsweg – Gymnasium oder Lehre – hängt stark mit dem Einkommen der Eltern zusammen. Bis zum väterlichen Einkommensrang 50 besuchen weniger als 15 Prozent der Kinder ein Gymnasium. Bei den 10 Prozent reichsten Eltern gehen mehr Kinder auf ein Gymnasium als in die Lehre. Die Bildungsmobilität in Bezug auf «Gymnasium versus Lehre» ist also tief, weil sie stark vom Einkommen der Eltern abhängt.

Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Die grünen Punkte zeigen tertiäre Bildung irgendeiner Art. Diese Stufe beinhaltet nicht nur Universitäten, sondern auch Fachhochschulen und andere höhere Berufsausbildungen. Nun ist die Bildungsmobilität wesentlich höher. Selbst in den untersten Rängen der elterlichen Einkommensverteilung haben fast 40 Prozent der Kinder irgendeine Form von tertiärer Ausbildung. Die Einkommensmobilität ist also tief, was die «gymnasial-universitäre» Ausbildung angeht – aber wesentlich höher, wenn der Bildungsbegriff ausgeweitet wird. Die oftmals gelobte Durchlässigkeit des dualen Bildungssystems wird also auch durch diese Daten bestätigt.

Man könnte nun die These wagen, dass unser Bildungssystem ein guter «Moderator» ist – vielleicht ein gutschweizerischer Kompromiss. Die hohe Durchlässigkeit erlaubt einer breiten Masse ein gutes Einkommen – einigermassen unabhängig vom Einkommen der Eltern. Die tiefe gymnasiale und universitäre Bildungsmobilität deutet aber daraufhin, dass das Bildungssystem in der Talentselektion weniger gut ist. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, aber dennoch unwahrscheinlich, dass akademische Begabung dermassen stark mit dem Einkommen der Eltern einhergeht. Wir sehen auch, dass Kinder aus den untersten 20 Prozent, die das Gymnasium besuchen, eher in die Top 20 aufsteigen, als solche die eine Lehre absolvieren. Das würde auch erklären, weshalb der «American Dream» in der Schweiz etwas weniger häufig erreicht wird als in Schweden.

Die Literatur spricht in diesem Zusammenhang auch von «Lost Einsteins»: Das Phänomen, dass schlummernde Talente ihr Potential nicht ausschöpfen, weil ihnen der Zugang zu Universitäten verwehrt bleibt. Dies ist nicht nur ein moralisches, sondern auch ein wirtschaftliches Problem, da gute Ideen von hellen (und in aller Regel gut gebildeten) Köpfen die Haupttreiber des Wirtschaftswachstums sind. Wenn die Schweiz also bezüglich der in den Einkommen sichtbaren Chancengleichheit im internationalen Vergleich relativ gut dasteht, bestehen doch Ungleichheiten, zum Beispiel in Form von Hürden für die Kinder aus der Unterschicht beim Übertritt ins Gymnasium.

Diese Studie zeigt erste Resultate und ist noch nicht peer-reviewed. Fehler sind daher nicht augeschlossen.

Chuard und Grassi (2020). Switzer-Land of Opportunity: Intergenerational Income Mobility in the Land of Vocational Education. SEPS Working Paper no. 2020-11. (Link)

Weitere Informationen unter http://swopp.ch

19 Tage lang 1. August

Yvan Lengwiler

Dieser Blog ist auf https://unibaswwzfaculty.blog/ erschienen. Der Inhalt basiert auf einer ausführlicher dokumentierten Studie, welche hier verfügbar ist: https://ideas.repec.org/p/bsl/wpaper/2020-07.html

Am 24. Februar 2020 wurde die erste Infektion mit SARS-CoV-2 in der Schweiz registriert. Am 5. März war das erste Opfer zu beklagen. Am 16. März verfügte der Bundesrat die Schliessung wesentlicher Teile der der Volkswirtschaft [1] . Solche annähernd kriegswirtschaftlichen Massnahmen können für die Wirtschaft nicht folgenlos bleiben.

Bei der Gestaltung der Massnahmen stehen mit Sicherheit gesundheitliche Erwägungen im Vordergrund. Allerdings ist die Schliessung ganzer Branchen und die Gefahr weitreichender Arbeitslosigkeit und Betriebsschliessungen gesundheitlich ebenfalls nicht folgenlos. Die Entscheidungsträger müssen deshalb eine schwierige Abwägung vornehmen. In einer solchen Situation sind schnell verfügbare Indikatoren äusserst nützlich.

Die Informationen zu COVID-19 bedingten Erkrankungen werden täglich nachgetragen, wobei die Dunkelziffer wohl gross ist. Die Daten über die Entwicklung der Pandemie sind entsprechend wohl weniger gut, als wir uns wünschen würden. Die Daten über die wirtschaftlichen Folgen der Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie sind allerdings noch weit schlechter. Unser wichtigster Indikator, das Bruttoinlandprodukt BIP, wird quartalsweise und mit erheblicher Verzögerung ermittelt. Ausserdem wird es oft später revidiert, weil die Schätzungen (ja, das BIP wird nicht gemessen; es wird geschätzt) angepasst werden müssen.

Für Entscheidungsträger ist das nutzlos. Wir benötigen einen Indikator, der ungefähre Auskunft zur Frage geben kann: «Wie läuft die Wirtschaft? In diesem Moment?»

Verschiedene Indikatoren kommen für diesen Zweck in Betracht. Beispielsweise könnte man die Fahrzeugbewegungen (besonders die von Lastwagen) auf Autobahnen zu Rate ziehen. Oder man könnte versuchen, Daten über die Häufigkeit von Zahlungsströmen zu nutzen. Oder, wenn es schlecht geht, könnten auch Insolvenzanmeldungen eine Informationsquelle darstellen. Eine weitere Datenquelle, die hier erörtert werden soll, ist der Stromverbrauch.

Strom wird weitgehend auf Verlangen produziert, oder er wird von den Produzenten zwischengespeichert (beispielsweise in Wasser-Speicherbecken). Auf Seiten der Verbraucher wird hingegen kaum Strom gespeichert. Aus diesem Grund ist der Stromverbrauch potentiell ein gutes Mass für wirtschaftliche Aktivität. Seit die Swissgrid am 1. Januar 2009 ihren Betrieb aufgenommen hat haben wir hochfrequente Daten zum Stromverbrauch in der Schweiz. Die Messungen werden im 15-Minuten Takt aufgezeichnet. Wir werden diese Daten hier zu Tagesdaten aggregieren.

Muster im Stromverbrauch

Der Stromverbrauch der Schweiz ist in den letzten zwölf Jahren im Wesentlichen konstant geblieben. Er ist sogar etwas gesunken. In diesem Zeitraum hat die Wohnbevölkerung der Schweiz um 10% zugenommen, und das jährliche BIP ist heute 21% höher als zu Beginn dieser Periode. Die Fortschritte der Energieeffizienz haben das Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum (mehr als) kompensiert. Das ist bemerkenswert.

Wir stellen zudem fest, dass der Stromverbrauch sehr saisonal ist. Im Winter verbraucht die Schweiz etwas 190 GWh pro Tag, im Sommer 110 GWh. Ausserdem verwenden wir am Wochenende etwa einen Viertel weniger Strom als an Arbeitstagen. Der Strombedarf wird zudem deutlich vom Wetter beeinflusst. Wenn wir alle diese Effekte herausrechnen verbleiben weitere Effekte, die vom Kalendertag abhängen. An wichtigen Feiertagen erleben wir alljährlich wiederkehrend natürliche Shutdowns: Am Karfreitag, Ostermontag und an Auffahrt ist der Stromverbrauch etwa 20%, an Weihnachten 18% und am 1. August 33% tiefer. Werden alle Kalendereinflüsse und Einflüsse des Wetters sowie der ganz langsamen fallende Trend herausrechnet, verbleibt die prozentuale Abweichung des korrigierten Stromverbrauchs vom Trend, siehe Abbildung.

Um Kalendereinflüsse, Einflüsse des Wetters und langfristigen Trend korrigierter Stromverbrauch.
(schwarz punktiert sind Tagesdaten, blau ist der 30-Tage gleitende Durchschnitt, Daten bis 31. März 2020)

Stromverbrauch und wirtschaftliche Aktivität

Die Schwankungen, die in dieser korrigierten Reihe sichtbar sind, müssen anderen Ursprungs sein als Wetter, Kalender und Entwicklung der Energieeffizienz. Zu vermuten ist, dass ein wesentlicher Einfluss die wirtschaftliche Aktivität ist.

Wir sehen beispielsweise im Jahr 2009 einen recht deutlich sichtbaren Einbruch. Zu dieser Zeit herrschte die Eurokrise, eine Folge der Bankenkrise, die zwei Jahre früher ihren Anfang nahm. 2009 war es nicht klar, ob der Euroraum in seiner existierenden Form überleben würde. Einzelnen Staaten drohte der Konkurs. Die Schweiz erlebte, wie viele andere Länder auch, eine tiefe Rezession. Im Stromverbrauch äussert sich dies in einer temporären Abnahme um etwa 5% (gemessen am 30-Tage gleitenden Mittel, in der Abbildung blau dargestellt).

Die Schliessung wesentlicher Teile der Wirtschaft, die zur Eindämmung der gesundheitlichen Folgen der COVID-19 Pandemie ergriffen wurden, sind ebenfalls sehr deutlich sichtbar. Der Stromverbrauch hat dramatisch abgenommen. Die Kurve zeigt fast senkrecht nach unten. Wir messen einen Rückgang von 12% auf Tagesbasis, oder fast 10% des 30-Tage gleitenden Durchschnitts. Einen derartigen Einbruch hat es bislang noch nie gegeben. Aus ökologischen Gründen mag das erfreulich sein. Aber es ist ein Indikator der zeigt, dass die wirtschaftlichen Folgen massiv sind.

Um eine Intuition der Grössenordnungen zu entwickeln, sind folgende Vergleiche vielleicht nützlich: Der COVID-19 Showdown hat den Stromverbrauch etwa doppelt so stark reduziert, wie das die Eurokrise von 2009 getan hat. Der Einbruch ist etwa ein Drittel so stark wie der alljährliche «natürliche Shutdown», der am 1. August stattfindet. Der Bundesrat hat beschlossen, am 11. Mai die Einschränkungen weitgehend aufzuheben. Möglicherweise werden weitere Massnahmen nötig werden, wenn die Krankheit sich wieder unkontrolliert ausbreiten sollte.

Bislang hat der Shutdown acht Wochen lang gedauert. Das entspricht, gemessen am Stromverbrauch, etwa einem 19-tägigen 1. August. Wir werden wohl die tiefste Rezession gewärtigen müssen, die wir je erlebt haben.

[1] Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19), https://www.admin.ch/opc/de/official-compilation/2020/773.pdf

Vom Unsinn des wirtschaftlichen Darwinismus in der Jahrhundert-Pandemie

Marius Brülhart und Thomas von Ungern-Sternberg

Doppelmoral in Bundesbern: Für die Arbeitnehmer hat die Regierung schnell und pragmatisch ein engmaschiges Corona-Auffangnetz ausgebreitet; aber wenn es darum geht, KMU durch die Krise zu retten, triumphiert Ideologie über Pragmatismus.

Es sollen nämlich nur diejenigen Unternehmen überleben, deren Gewinnmargen hoch genug sind, dass sie den Umsatzeinbruch (abzüglich der staatlichen Lohnbeiträge) selber wettmachen können. Die anderen mögen über die Klinge springen. Der Economiesuisse-Präsident schaut der resultierenden „natürlichen Strukturbereinigung“ gelassen entgegen, und unser Finanzminister warnt gar vor „Strukturerhaltung“. In Kommentarspalten wird von „reinigendem Gewitter“, „natürlicher Auslese“ und „schöpferischer Zerstörung“ geschrieben.

Dieses Zurückgreifen auf Floskeln des Wirtschaftsdarwinismus ist in der jetzigen Situation nicht nur moralisch unanständig, es ist auch wirtschaftlich hoch riskant.

Darwinismus heisst eigentlich, dass derjenige überleben soll, der seiner natürlichen Umgebung besonders gut angepasst ist, und nicht derjenige, der zufälligerweise weit weg vom Meteoriteneinschlag am Grasen war. Breiten Teilen der Wirtschaft sind über Nacht die Einkommen auf Null gedrückt worden, nur weil dort Distanzregeln zwischen Menschen nicht eingehalten werden können und sie nicht überlebensnotwendige Güter produzieren. Eine „Strukturanpassung“ in Form eines Massensterbens von Betrieben in diesen Branchen wäre nur zerstörerisch; schöpferisch wäre daran nichts.

Aber nicht nur zwischen mehr und weniger Corona-gebeutelten Branchen unterscheiden sich die Überlebenschancen, sondern auch innerhalb der jeweiligen Branchen. Wer überlebt, wenn der Umsatz einbricht aber Fixkosten weiterlaufen? Die Fittesten und Besten? Nicht unbedingt. Überleben werden primär diejenigen, die über ein gutes Kapitalpolster verfügen. Bisweilen eher “survival of the fattest” als „survival of the fittest“.

Die volkswirtschaftliche Fitness eines Unternehmens misst sich nämlich nicht an seinem Gewinn sondern an seiner Wertschöpfung – in etwa der Summe von Gewinn und Löhnen. Gemäss Steuerstatistik weisen 57% der Schweizer Firmen keine steuerbaren Gewinne aus. Wichtig sind diese dennoch. Ein Restaurant, das null Gewinn verbucht aber eine halbe Million an Löhnen generiert, ist volkswirtschaftlich nicht weniger wertvoll als eine Softwarefirma, die eine Viertelmillion Gewinn ausweist und eine Viertelmillion an Löhnen auszahlt.

Die Schweizer Wirtschaftspolitik ist derzeit darauf ausgerichtet, Firmen, die den Corona-Ausfall auf Fixkosten nicht selber stemmen können, zugrunde gehen zu lassen. Wenn ein Betrieb sechs Monate Totalausfall verkraften muss und 40% seiner Kosten auf Posten wie Miete und Abschreibungen anfallen, dann gälte es in den folgenden fünf Jahren jeweils 4% des Gesamtumsatzes zur Schuldentilgung aufzubringen. Bei einem Jahr Ausfall, wären es dann 8% des Umsatzes, der für Corona-Schuldentilgung draufginge. Das werden sich viele nicht antun (können). Kein Wunder gibt über die Hälfte der Selbständigerwerbenden und Kleinbetriebe an, nicht mehr als drei Monate im Lockdown überleben zu können.

Unternehmen mit tiefen Margen an den Corona-Umsatzeinbussen scheitern zu lassen, wäre aus drei Gründen falsch. Erstens, weil damit Wertschöpfung in Form von Löhnen verloren geht. Zweitens, weil die Wirtschaft ein vernetztes System ist und Konkurse einzelner Firmen andere Firmen (Zulieferer und Abnehmer) mit in den Strudel reissen. Und drittens, weil die überlebenden Firmen dann mit weniger Konkurrenz wirtschaften und ihre Margen noch höher schrauben könnten. Die Fetten würden fetter, aber die Wirtschaft als Ganzes würde unnötig schrumpfen.

Angst essen Wirtschaft auf

Monika Bütler (erschienen in NZZaS 26.04.2020)

Für einmal waren einige Epidemiologen schneller als fast alle Wirtschaftsbeobachter. Während erstere Anfangs Februar ihre Aktien verkauften, prognostizierten letztere noch einen überschaubaren Rückgang des Weltwirtschaftswachstums. Von Rezession oder gar Depression war nicht die Rede. Nur wenige Wochen später und mit vollständigen oder partiellen Lockdowns in vielen Ländern wissen wir: Die Kosten der COVID19 Krise werden gigantisch sein (z.B. Studie Atkeson, Studie BIS). Gleichzeitig keimt bei Vielen die Hoffnung auf, dass eine Lockerung der staatlichen Einschränkungen einen grossen Teil Einbruchs wieder wettmachen könnte.

Doch was wissen wir überhaupt über die Kosten des Virus? (Spoiler: schuld sind nicht nur staatliche Massnahmen.) Was sind die Grundkonflikte, die sich der Wirtschaftspolitik in dieser Krise stellen? (Es ist kompliziert.) Und was soll die Wirtschaftspolitik tun, um die langfristigen Schäden möglichst gering zu halten und der Gesellschaft nach einer – so hoffen wir möglichst schnellen – Eindämmung des Virus einen gelungenen Neustart zu ermöglichen? (In den Worten Mario Draghis: whatever it takes)

Zum ersten: Erste Schätzungen und Daten zeigen klar: Die wirtschaftlichen Kosten der Pandemie sind nicht allein die Folge der staatlichen Restriktionen. Die Pandemie selbst hat direkte Kosten in Form von Arbeitsausfällen wegen Krankheit oder Quarantäne, Schutzmassnahmen, der Betreuung erkrankter Menschen und der mit der Krankheit verbunden organisatorischen Massnahmen (Studie Kahn). Die KOF schätzt deren Beitrag auf rund 10-15% des Wirtschaftseinbruchs. Staatliche Einschränkungen und individuelle Verhaltensänderungen machen weitere rund 30-40% des Einbruchs in der Schweiz aus. Meist wird unterschätzt, dass die Menschen in einer Pandemie aus Vorsicht oder Angst vor Ansteckungen ihr Verhalten freiwillig anpassen (KOF Studie). So zeigen Restaurantbuchungen vor den Lockdowns in den USA, dass rund zwei Drittel des Rückgangs nicht auf die staatlich verordneten Schliessungen, sondern auf die Vorsicht der Kunden – von den Ereignissen in Europa gewarnt – zurückgehen (Studie Gupta). Selbstauferlegte Restriktionen führten selbst im liberalen Schweden zu massiven Einbrüchen in Konsum und Mobilität (Studie Dahlberg).

Der Rest, also rund die Hälfte, ist der internationalen Entwicklung geschuldet. Die Nachfrage nach Schweizer Gütern ist eingebrochen, Aufträge werden in die Zukunft verschoben, die Grenzen sind geschlossen und Lieferketten sind gerissen (Studie Baldwin, KOF Indikatoren, Global Trade Alert). Dies alles liegt teilweise auch an staatlichen Restriktionen im Ausland – nur können wir diese nicht beeinflussen.

Ernüchternde Folgerung: Selbst wenn die Schweiz sämtliche Restriktionen lockerte, hätten wir wohl noch immer eine deutlich geringere Wirtschaftsleistung. Profitieren wird das Land hingegen von allfälligen Normalisierungen im Ausland.

Zum zweiten: Gesundheit oder Wirtschaft? Unbestritten und empirisch belegt ist, dass Lockdown-Massnahmen (zu denen auch freiwillige Einschränkungen gehören) Menschenleben retten, je früher desto mehr. Gleichzeitig treiben diese Massnahmen aber auch die Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit in die Höhe. Ob langfristig gesehen zwischen Gesundheit und Wirtschaft ein Zielkonflikt besteht, ist sehr viel schwieriger zu beurteilen. Nicht nur weil das Aufwiegen Menschenleben gegen Wirtschaftsleistung heikel ist, oder weil bei Covid19 mit der Überlastung des Gesundheitswesens eine weitere Komplikation dazu kommt. Sondern weil wir viel zu wenig wissen sowohl über die weitere Entwicklung der Krankheit (Spätfolgen, Immunitäten, medizinischer Fortschritt), als auch über die Mechanismen eines Aufschwungs. Wenn das Virus besiegt ist, wird die Welt anders aussehen. Wie wissen wir noch nicht.

Möglicherweise ist der Zielkonflikt zwischen Gesundheit und Wirtschaft gar keiner. Bei der Spanischen Grippe von 1918/19 hatten jene Städte, die früh Massnahmen trafen (Lockdowns, social Distancing) nicht nur weniger Menschenopfer zu beklagen, sondern hatten später auch einen stärkeren Aufschwung. Die Wirtschaft erkrankte an der Grippe, nicht am Lockdown (Studie Correia). Ein oft genannter Einwand gegen staatliche Restriktionen ist, dass nicht nur das Virus, sondern auch eine Rezession zu Todesfällen führt. Empirisch gilt dies in den Industrieländern allerdings nicht. Tiefe Rezessionen führen zu psychischen Problemen, aber nicht zu mehr Todesfällen, wie eine Studie des Nobelpreisträgers Angus Deaton zeigt (Studie Deaton, Studie van den Berg oder Studie Ruhm).

“Angst essen Wirtschaft auf” – so könnte man in Abwandlung des Filmtitels von Rainer Werner Fassbinder den Zusammenhang zwischen Virus und Wirtschaft zusammenfassen. Die Menschen haben Angst vor Ansteckungen. Dies zeigen Auswertungen der Anrufe bei “Die Dargebotene Hand” (Studie Brülhart und Lalive). Und diese Angst lähmt die Wirtschaft. Es ist eine alte und sehr gut dokumentierte Lehre aus der ökonomischen Analyse: Das Vertrauen der Menschen erklärt einen wesentlichen Anteil ihrer Investitions- und Konsumentscheidungen. Die Wirtschaftspolitik muss deshalb die schwierige Balance finden zwischen Öffnung und Beruhigung.

Sei es wegen Lehren aus früheren Krisen, ersten Erkenntnissen von COVID19 in China und Italien, oder Unsicherheiten über den weiteren Verlauf der Seuche, die Krise führte zu einem ungewohnten Konsens unter der Ökonom(inn)en amerikanischer Spitzenuniversitäten: Tiefe wirtschaftliche Einbrüche müssten in Kauf genommen werden, um die Verbreitung des Virus einzudämmen und eine zweite, wirtschaftlicher vermutlich viel verheerende Welle zu verhindern (IGM Forum).

Was uns zum dritten führt: “Was tun?” Kaum jemand bestreitet die Notwendigkeit einer grosszügigen Abfederung der Krise in den nächsten Monaten. Wenn gesunde Unternehmen illiquid sind, zerbrechen für den Neustart wertvolle Strukturen im Konkurs. Insbesondere die Möglichkeit der Kurzarbeit, um die uns viele Länder beneiden, sichert den Angestellten einen grossen Teil des Einkommens und erlaubt es den Betrieben, ihr Personal zu behalten.

Im Gegensatz zu normalen Rezessionen sind in der COVID19 Krise die Firmen sehr unterschiedlich exponiert. Zudem machen bei KMUs, die wegen des Lockdowns ihren Betrieb einstellen mussten oder nur im reduzierten Masse arbeiten, die Kapitalkosten rund 40% der Wertschöpfung aus. Eine teilweise Kompensation dieser Kosten durch den Staat versichert nicht nur die unverschuldeten Einkommenseinbrüche, sondern führt auch zu einer breiteren Verteilung der Lasten.

Die Crux der Politik ist, dass sie es eigentlich nur falsch machen kann, sei es im Lockdown, sei es in der Wirtschaftsrettung. Reagiert sie zurückhaltend und spät, sind die Schäden an Menschen und Wirtschaft gross. Reagiert sie kühn und rechtzeitig (oder allenfalls zu früh), wird der Vorwurf laut, sie hätte überreagiert und so den Schaden verursacht. Auch die Politik ist vom Missverhältnis zwischen Wissen und Risiken schlicht überfordert. Denn, wie die Epidemiologen schon im Februar richtig erkannten: Der Boss ist das Virus.

 

Erstaunlich: Das Sorgentelefon läuft im Lockdown nicht heiss

Marius Brülhart und Rafael Lalive

Einsamkeit, Stress, Alkoholmissbrauch, Depressionen, häusliche Gewalt: diese und andere psycho-soziale Nebenwirkungen haben auch wir vom Lockdown erwartet. Wir malten uns nach dem bundesrätlichen Lockdown Beschluss vom 13. März 2020 aus, solche Probleme könnten sich ähnlich wie das Virus über die Zeit exponentiell verschärfen, wenn sich Frustration, Ängste und Spannungen nach und nach kumulieren.

Um diese naheliegenden Vermutungen mit einer gewissen Wissenschaftlichkeit zu prüfen, haben wir die Zahl der Anrufe ans Schweizer Sorgentelefon Die Dargebotene Hand (Tel. 143) aus neun Kantonen bis und mit 23. April ausgewertet. Unsere Ergebnisse sind in einer kurzen Studie zusammengefasst.

Die wichtigsten Befunde vorweg: Eine überdurchschnittliche Beanspruchung des Sorgentelefons in der Coronakrise ist bislang nicht auszumachen. Der Anstieg der Anrufe von etwas mehr als 5% gegenüber März-April 2019 (s. Abbildung 1) entspricht ziemlich genau dem durchschnittlichen Anstieg der letzten Jahre. Auch ist keine ausserordentliche – geschweige denn exponentielle – Zunahme seit dem 13. März erkennbar.

Abbildung 1

Überdurchschnittlich angestiegen ist der Anteil der Anrufe von Menschen im Rentenalter. Neu gegenüber dem Vorjahr ist auch, dass 15% der Anrufe zumindest teilweise aus Angst vor einer Infektion getätigt wurden. Der Schluss liegt nahe, dass das Sorgentelefon im Lockdown-Frühling sogar weniger beansprucht wird als im Vorjahr, wenn man die aus „rein medizinischen“ Ängsten vorgenommenen Anrufe herausrechnet. Anrufe wegen häuslicher Gewalt liegen beispielsweise klar unter dem Vorjahresniveau (Abbildung 2, erste Grafik). Somit scheint es um die psycho-soziale Befindlichkeit der Schweizer Bevölkerung im Lockdown bis jetzt nicht schlechter zu stehen als in normalen Zeiten.

Spannend an den Sorgentelefon-Daten ist auch, dass man diese tagesgenau verfolgen kann. Somit können wir beobachten, wie sich die Anzahl Anrufe in einzelnen Problembereichen seit dem 13. März entwickelt. Dabei stellen wir im ersten Lockdown-Monat einen Anstieg der Problembereiche „Familie und Beziehungen“ (Abbildung 2, mittlere Grafik) und „Suchtverhalten und Suizidalität“ fest. Diese Anstiege sind in den letzen beiden Wochen jedoch wieder teilweise abgeklungen.

Umgekehrt verhält es sich mit dem Problembereich „materielle Sorgen“: Nach einem starken Rückgang in den ersten drei Lockdown-Wochen sind diese wieder am Zunehmen (Abbildung 2, dritte Grafik). Hier liegt die Vermutung nahe, dass sich die steigende Arbeitlosigkeit und vom Staat kaum kompensierte Einkommensausfälle von Selbstständigerwerbenden und Kleinbetrieben bemerkbar machen.

Abbildung 2

Unser Fazit aus dieser Analyse ist, dass die medizinischen und ökonomischen Sorgen bislang viel schwerer wiegen für die Befindlichkeit der Schweizer Bevölkerung als die die psychischen und sozialen Herausforderungen des Lockdown.

Doch wie aussagekräftig sind Sorgentelefon-Anrufe? Wir sehen zwei Argumente für die Nützlichkeit dieses Indikators (zusätzlich zu seiner täglichen Echtzeit-Verfügbarkeit), und eines dagegen.

Erstens sind Sorgentelefon-Anrufe meistens Ausdruck einer echten Notlage – man muss eine gewisse mentale Hemmschwelle überwinden, um von diesem Angebot Gebrauch zu machen (Jux- und Falschanrufe sind in den Daten nicht mitgezählt). Damit unterscheidet sich diese Messgrösse von Umfrage-Antworten, wo die Anreize zur wahrheitsgetreuen Wiedergabe der psychischen Befindlichkeit weniger klar sind. Zweitens dürfte die Option Sorgentelefon in Zeiten von „social distancing“, wo eh ein viel grösserer Teil der Kommunikation elektronisch und per Telefon läuft, besonders in den Vordergrund rücken. Es ist also umso bemerkenswerter, dass unter diesen Umständen kein signifikanter Anstieg der Sorgentelefon-Anrufe zu beobachten ist.

Der eine uns erkenntliche Nachteil der Massgrösse „Sorgentelefon-Anrufe“ liegt ebenfalls an der mentalen Hemmschwelle: Niederschwellige aber daher noch lange nicht vernachlässigbare Sorgen und Leiden münden wohl selten in Anrufen an die Dargebotene Hand. Wir erfassen daher gewiss nicht die gesamte Intensitäts-Spannbreite der Probleme. Aber so lange die zeitliche Veränderung von psycho-sozialen Problemen verschiedener Intensitätsgrade einigermassen parallel verläuft, stellen Sorgentelefon-Anrufe einen wertvollen Indikator dar.

Wo das Interesse an Kurzarbeit am grössten ist

Marius Faber, Andrea Ghisletta und Kurt Schmidheiny

In Folge der Corona-Krise wurden in der Schweiz bis dato 1,85 Mio. Anträge auf Kurzarbeit gestellt und davon 917’000 bewilligt. Damit ist fast jede/r fünfte Erwerbstätige in der Schweiz auf Kurzarbeit gesetzt. Bis Mitte März wurden etwa fünf Millionen Franken als Kurzarbeitsentschädigung ausbezahlt, seither kamen mit 520 Millionen Franken rund hundertmal so viel dazu. Kurzarbeit ist in der gegenwärtigen Krise die gravierendste wirtschaftlichen Konsequenz für weite Teile der Bevölkerung. Doch bisher fehlen detaillierte Zahlen, um die Verteilung dieser Folgen auf die Schweizer Gesellschaft zu verstehen.

Nutzungsdaten des Kurzarbeitsrechners von comparis.ch bringen Licht ins Dunkel

In Zusammenarbeit mit comparis.ch haben wir aggregierte Nutzungsdaten nach Kantonen analysiert, um mehr über die regionale Verteilung der Kurzarbeit zu erfahren. Comparis.ch ist mit etwa 100 Mio. Besuchen pro Jahr eine der populärsten Websites der Schweiz. Ende März hat comparis.ch einen Kurzarbeitsrechner online geschaltet, der es Nutzern erlaubt, die Folgen einer Umstellung auf Kurzarbeit für den eigenen Lohn zu berechnen. Jeder Aufruf des Kurzarbeitsrechners kann einem Nutzer und über die IP-Adresse einem Kanton zugeordnet werden. Bis zum 20. April haben bereits 90’000 Nutzer diesen Rechner verwendet.

Der Kurzarbeitsrechner von Comparis ist ein Angebot, das sich direkt an von Kurzarbeit betroffene Arbeitnehmer richtet. Anhand von dessen Nutzung lässt sich abschätzen, in welchem Ausmass verschiedene Regionen von Kurzarbeit betroffen sind. In unserer Analyse zeigen wir jeweils den Anteil der Nutzer des Kurzarbeitsrechners in Prozent aller comparis.ch-Nutzer des jeweiligen Kantons. So kontrollieren wir für die unterschiedliche Grösse der Kantone wie auch für potenzielle Unterschiede in der Beliebtheit von comparis.ch in den verschiedenen Kantonen. Wir weisen nur die Werte für die deutschsprachigen Kantone aus, da der Kurzarbeitsrechner von Comparis nur in der Deutschschweiz aktiv beworben wurde (via «20 Minuten», einem der reichweitenstärksten Newsportale der Schweiz).

Die Nutzung des Kurzarbeitsrechners im April 2020 unterscheidet sich stark über Kantone hinweg (Abbildungen 1 und 2). Im deutschsprachigen Raum haben die Kantone Graubünden, Basel-Stadt, Basel-Landschaft und Zug mit unter 4,5% die niedrigste Nutzung. Den höchsten Wert weist mit über 7% der Kanton Uri auf. Auch Appenzell Innerrhoden und Nidwalden haben mit über 6% hohe Anteile.

Die grossen regionalen Unterschiede in der Nutzung des Kurzarbeitsrechners deuten darauf hin, dass die Regionen unterschiedlich schwer von Kurzarbeit betroffen sind. So erwarten wir, dass z.B. in den Kantonen Uri, Appenzell Innerrhoden und Nidwalden anteilsmässig deutlich mehr Betriebe Kurzarbeit beantragt haben als in Basel-Stadt oder Zug. Wir hoffen, diese Prognose schon in Kürze mit den tatsächlichen Zahlen abgleichen zu können.

Abbildung 1: Nutzung des Kurzarbeitsrechners auf comparis.ch nach Kanton (Karte)

Abbildung 2: Nutzung des Kurzarbeitsrechners auf comparis.ch nach Kanton (Rangliste)

Warum die Kantone so unterschiedlich betroffen sind

Warum wirken sich die Corona-Massnahmen im Kanton Uri offenbar viel einschneidender aus als z.B. im Kanton Basel-Stadt? Mit den Massnahmen von Mitte März will der Bund die Verbreitung des Coronavirus eindämmen, indem auf enge physische Interaktion im Arbeitsleben und im Alltag verzichtet werden soll. Ausgenommen sind nur essenzielle Bereiche wie das Gesundheitswesen und die Lebensmittelversorgung. Wir haben deshalb in unserem letzten Beitrag den sogenannten Lockdown-Index vorgestellt. Dieser Index misst, wie sehr ein Kanton auf Berufe angewiesen ist, die eine grosse physische Nähe erfordern und somit aktuell in ihrer Tätigkeit eingeschränkt sind. Ausserdem berücksichtigen wir, dass einige Branchen explizit von den Corona-Massnahmen ausgenommen sind.

In Abbildung 3 zeigen wir, wie der Lockdown-Index und die Nutzung des Kurzarbeitsrechners zusammenhängen. Es besteht eine starke positive Korrelation zwischen dem Lockdown-Index und dem Interesse am Kurzarbeitsrechner. Der Lockdown-Index erklärt circa 40% der Unterschiede in der Nutzung des Kurzarbeitsrechners in den 19 deutschsprachigen Kantonen. Die grossen regionalen Unterschiede können zu einem grossen Teil durch die unterschiedliche Wirtschaftsstruktur erklärt werden. So lässt sich z.B. das grosse Interesse an Informationen zu Kurzarbeit im Kanton Appenzell Innerrhoden mit dem hohen Anteil an Beschäftigten im Gastgewerbe erklären. Entsprechend weisen Basel-Stadt mit der grossen Bedeutung des Gesundheitswesens und der Pharmabranche und der Kanton Zug, in dem Finanzdienstleistungen und Grosshandel überwiegen, ein geringeres Interesse auf.

Wir sehen die starke Korrelation in Abbildung 2 auch als Beleg dafür, dass der Lockdown-Index zeitnahe Abschätzungen über die initialen Effekte des Lockdowns erlaubt.

Abbildung 3: Korrelation zwischen Lockdown-Index und Nutzung des Kurzarbeitsrechners nach Kanton

Lockdown-Index bleibt informativ auch nach Lockerung

Der Lockdown-Index hilft nicht nur, die kurzfristigen Effekte der Corona-Massnahmen auf Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit vorherzusagen, solange offizielle Statistiken nicht öffentlich verfügbar sind. Der Lockdown-Index liefert auch einen Anhaltspunkt dafür, wie schwierig es nach dem Lockdown für verschiedene Regionen und Bevölkerungsgruppen sein wird, die geltenden Abstands- und Hygienemassnahmen des Bundes einzuhalten. Das Baugewerbe ist beispielsweise für viele Tätigkeiten auf grosse physische Nähe zwischen Mitarbeitern angewiesen. Nicht umsonst fordern Gewerkschaften, die Arbeit auf allen Baustellen einzustellen, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Mittelfristig werden Berufe, bei denen die Hygieneregeln aufgrund des geringen Abstands bei der Ausführung der Tätigkeiten nur schwer eingehalten werden können, vermutlich die grössten Produktivitätseinbussen erleben. Der Lockdown-Index wird deshalb auch für die mittelfristigen Effekte in Form von Produktivitätsverlusten informativ sein.

Weitere Analysen auf der Projektseite «Auswirkungen der Corona-Massnahmen auf die Erwerbstätigkeit in der Schweiz» der Universität Basel, die laufend mit Ergebnissen und Datenlinks aktualisiert wird.

Wo der Lockdown am stärksten zu spüren ist

Marius Faber, Andrea Ghisletta und Kurt Schmidheiny

Mitte März hat der Bund scharfe Massnahmen ergriffen, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Veranstaltungsverbote, Schliessungen von Geschäften, Restaurants und Bars sowie die Empfehlung, wenn immer möglich von zuhause aus zu arbeiten, schränken die wirtschaftliche Aktivität in beträchtlichem Ausmass ein.
Die wirtschaftlichen Folgen dieser Massnahmen hängen stark davon ab, wie viele Arbeitnehmer und Selbstständige in der Lage sind, ihren Job weiterhin uneingeschränkt auszuüben. US-Ökonomen haben dies kürzlich für die USA in einer Studie quantifiziert. Sie zeigen, dass ca. 37% aller Jobs in den USA von zu Hause aus weitergeführt werden können. Diese Zahl verdeckt allerdings erhebliche regionale Unterschiede: Während in einigen Regionen wie dem Silicon Valley in San Jose, CA über die Hälfte aller Berufe Home-Office erlauben, ist dies in anderen Regionen für nur etwas mehr als ein Viertel möglich.

Grosse regionale Unterschiede
Diese regionalen Unterschiede sind auf die hohe Spezialisierung einzelner Arbeitsmarktregionen auf wenige Branchen zurückzuführen. Solche Spezialisierung auf einzelne Branchen ist auch in der Schweiz stark ausgeprägt. Wir haben deshalb dieselbe Analyse für die 26 Kantone und 16 Arbeitsmarktgrossregionen der Schweiz durchgeführt. Hierfür verwenden wir detaillierte Informationen über Beruf, Wohnort und Arbeitsmarktstatus von knapp 70’000 SchweizerInnen. Die Daten stammen aus der Schweizer Arbeitskräfteerhebung (SAKE) für das Jahr 2018, einer vom Bundesamt für Statistik durchgeführten repräsentativen Stichprobe der Schweizer Gesamtbevölkerung. Den Beruf eines Individuums verknüpfen wir mit einer Reihe von Daten über die konkreten Anforderungen, die jeder dieser fast 1‘000 Berufe mit sich bringt. Diese beinhalten beispielsweise, ob der Beruf im Freien ausgeübt wird oder ob das Bewegen von Fahrzeugen essenziell ist. In beiden dieser Fälle gilt ein Beruf nach dieser Methodik als «nicht von zuhause ausführbar». Die Kategorisierung hierfür stammt aus dem Occupational Information Network (O*NET) des US-amerikanischen Department of Labor. Im Unterschied zur US-Studie berücksichtigen wir in all unseren Analysen, dass die Massnahmen des Bundes eine Ausnahme für essenzielle Sektoren wie Gesundheit, öffentliche Sicherheit und Verkehr sowie Lebensmittelversorgung vorsehen.
Die Resultate dieses «Home-Office-Index» für die Schweiz scheinen sich auf den ersten Blick von denen für die USA zu unterscheiden. Im Durchschnitt kann hierzulande ein verhältnismässig grosser Anteil von 56% der arbeitenden Bevölkerung von zuhause aus arbeiten. Dies ist allerdings dadurch zu erklären, dass wir die Sonderregelung für essenzielle Sektoren berücksichtigt haben. Ohne diese Korrektur läge der Wert bei 40% und damit nur leicht über dem der USA. Der Kanton Basel-Stadt weist mit 67% den höchsten Wert auf, der Kanton Appenzell Innerrhoden mit 27% den niedrigsten (Abbildung 1).

Abbildung 1: Home-Office-Index nach Kanton

Kontakt zu anderen Menschen wichtiger als Home-Office
Die Massnahmen des Bundes zielen primär darauf ab, den physischen Kontakt zwischen Menschen zu reduzieren, und nicht darauf, dass sie unbedingt zuhause bleiben. Entscheidender als die Frage, ob der Beruf von zuhause aus ausgeführt werden kann, scheint uns deshalb, ob er in unmittelbarer Nähe zu anderen Menschen ausgeführt werden muss. Beispielsweise können Lastwagenfahrer, Bauarbeiter oder Essenslieferanten ihren Beruf unmöglich von zuhause aus durchführen, waren während der letzten Wochen aber vermutlich dennoch wenig in ihrer Arbeit eingeschränkt.
Um die konkreten Massnahmen der Schweiz (und vieler anderer Länder) besser einzufangen, haben wir deshalb einen einfachen «Lockdown-Index» gebildet, der einen Beruf als «vom Lockdown eingeschränkt» klassifiziert, wenn er eine geringe physische Distanz zu anderen Menschen mit sich bringt (d.h., direkter Körperkontakt bis hin zu einem geteilten Büro) und als «nicht vom Lockdown eingeschränkt», wenn er weniger engen Kontakt erfordert. Im Unterschied zum Home-Office-Index gelten hier zum Beispiel Lastwagenfahrer, Landwirte oder Reinigungskräfte als nicht eingeschränkt.
Die regionale Verteilung des Lockdown-Index ist in Abbildung 2 dargestellt. Im Vergleich zum Home-Office-Index (Abbildung 1) zeigt diese Karte nun, welcher Anteil der Bevölkerung bei der Ausübung des Berufs auf körperliche Nähe angewiesen und somit vermutlich durch den Lockdown stark eingeschränkt ist. Im Durchschnitt über die gesamte Schweiz hinweg sind demnach etwa 31% aller Jobs vom Lockdown direkt eingeschränkt. Am stärksten betroffen sind die innerschweizerischen Kantone Obwalden (39%) und Uri (37%) sowie Appenzell Innerrhoden (38%) und das Wallis (35%). Verhältnismässig wenig betroffen sind die Kantone Jura (27%), Zug (28%) und Genf (28%) sowie Zürich (29%) und Basel-Stadt (29%).

Abbildung 2: Lockdown-Index nach Kanton

Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn wir den durchschnittlichen Lockdown-Index nicht nach Kanton, sondern nach Arbeitsmarktgrossregion bilden (Abbildung 3). Arbeitsmarktgrossregionen berücksichtigen Pendlerströme und geben so ein genaueres Bild darüber ab, wie sich die Anzahl Arbeitssuchender im Einzugsgebiet von dort ansässigen Firmen entwickelt. Die Regionen Zürich und Genf sind weiterhin unter den am wenigsten betroffenen Arbeitsmärkten. Verhältnismässig stark eingeschränkt sind weiterhin das Wallis und nun auch die Regionen St. Gallen, Winterthur und Aarau-Olten. Die Variation ist auf dieser Ebene zwar etwas geringer, da wir Durchschnitte über weniger, dafür grössere Einzugsgebiete bilden, weist aber dennoch starke regionale Unterschiede im Anteil der durch den Lockdown eingeschränkten Berufe auf.

Abbildung 3: Lockdown-Index nach Arbeitsmarktgrossregion

Es ist aufgrund der begrenzten Datenlage zurzeit noch schwierig, die Vorhersagekraft eines solchen Index zu überprüfen. Beispielsweise existieren derzeit noch keine öffentlich verfügbaren Daten über die Kurzarbeitsanträge nach Kanton oder Branche, die einen Grossteil der Reaktion des Arbeitsmarktes ausmachen. Als ersten Versuch können wir allerdings bereits testen, ob unser Index in der Lage ist, den Anstieg der Arbeitslosigkeit im März 2020 im Vergleich zum Vorjahresmonat über verschiedene Branchen hinweg zu erklären. Abbildung 4 zeigt eine starke positive Korrelation zwischen dem Lockdown-Index und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit in diesem Zeitraum. Der Lockdown-Index alleine erklärt etwa 29% der gesamten Variation im Arbeitslosenanstieg über diese 34 Branchen. Im Vergleich dazu kann der Home-Office-Index lediglich 16% dieser Variation erklären.

Abbildung 4: Korrelation zwischen Lockdown-Index und Anstieg der Arbeitslosigkeit nach Branche

Verfeinerungen nötig, um Effekt der Massnahmen besser abzuschätzen
Wir sehen diese Analyse als einen ersten Vorstoss, mehr Transparenz darüber zu schaffen, welche Regionen der Schweiz aufgrund ihrer Branchenstruktur besonders von den einschneidenden Massnahmen des Bundes betroffen sein werden. Dafür haben wir uns zunächst darauf fokussiert, ob Menschen in der aktuellen Situation weiterhin ihren Beruf ausführen können oder nicht. Dies scheint bereits ein guter Gradmesser für den kurzfristigen Anstieg der Arbeitslosenzahlen nach Branche und Kanton zu sein. Allerdings wird sich dies noch besser überprüfen lassen, sobald detaillierte Daten zu Kurzarbeit verfügbar sind.

Das Ausmass der Effekte in der längeren Frist hängt allerdings auch von anderen Faktoren ab, wie zum Beispiel davon, ob Firmen Produkte herstellen, die nach der Krise mehr nachgefragt werden, oder ob eine Erweiterung der Kapazitäten unmöglich sein wird. Es ist beispielsweise zu erwarten, dass Produzenten von langlebigen Gütern wie Autos, Elektronikgeräten oder Möbeln nach der Krise eine umso höhere Nachfrage bedienen können, während das für kurzlebige Güter wie Pflanzen und Mode oder auch Restaurant-, Bar- und Konzertbesuche nur begrenzt möglich sein wird. Wir arbeiten daran, solche Interaktionen zu quantifizieren.

[Nachtrag vom Di, 21. April 2020:] Eine Analyse von Christian Rutzer und Matthias Niggli von der Universität Basel beleuchtet im Detail, wie gut sich verschiedene Berufe für die Ausübung im Home-Office eignen, und wie sich dies für die einzelnen Wirtschaftssektoren, Regionen und Bevölkerungsgruppen in der Schweiz unterscheidet.