Katzengold

Urs Birchler

Wir haben gestern berichtet, dass die Goldinitiative die goldene Gelegenheit ist, auf die dubiose Goldspekulanten seit langem gewartet haben. Matterhorn Asset Management und deren Unterorganisationen Gold Money Foundation und GoldSwitzerland sammeln international Geld für die Gold-Initiative. Hier aus ihrem Video-Fundus zwei Beispiele für das Katzengold, das diese Goldspekulanten ihren Kunden verkaufen wollen:

  1. Behauptung 1: Die Notenbanken haben das Gold gar nicht, dass sie zu behaupten vorgeben. Im Video behaupet dies ein Bill Murphy, „Chairman of the Gold Anti-Trust Action Committee“ (GATA). Dieses Committee ist nicht etwa ein offizielles Gremium, sondern eine Erfindung von Murphy selbst. Dazu Wikipedia: „Murphy and GATA are widely dismissed as cranks, and their beliefs as fringe by reputable economists, business leaders and government officials“.
  2. Behauptung 2:Die ausstehenden Goldkontrakte führen früher oder später zu einer Goldpreisexplosion, da sie den Bestand physischen Goldes übersteigen. Das Video mit dem Interview spricht Bände.

Natürlich ist beides Quatsch. Man könnte solche Behauptungen als Verschwörungstheorien abtun, würden sie nicht dazu missbraucht, den Goldpreis über den Umweg über die Schweizer Bundesverfassung zu massieren.

P.S.: Natürlich gibt es seriöse Argumente für eine Goldwährung und ebenso seriöse dagegen. Nur hat die Goldinitiative ausser dem Namen wenig mit einer wirklichen Goldwährung zu tun. Sie ist vielmehr eine naive Fehlkonstruktion. Darüber später mehr bei batz.ch.

Félicitations, Jean Tirole!

Monika Bütler und Urs Birchler

Mit Jean Tirole hat heute nicht nur ein brillanter Forscher den Wirtschaftsnobelpreis zuerkannt bekommen, sondern auch ein toller Lehrer und ein äusserst liebenswürdiger Mensch.

Wir haben beide unabhängig voneinander Kurse von Jean Tirole im Studienzentrum Gerzensee besucht. Beeindruckt waren wir von Jeans Flair, komplizierte Sachverhalte zunächst auf einfache Modelle zurückzuführen. Dies braucht Mut: mit der Abstraktion macht sich ein Forscher auch angreifbar gegen den Vorwurf übermässiger Vereinfachung. Uns schien eine andere Gefahr wichtiger: Vieles kommt bei Jean Tirole derart elegant daher, dass es fast trivial aussieht. Aber wehe: Wer glaubt, das Gehörte an der Prüfung oder im eigenen Unterricht locker wiedergeben zu können, kann eine böse Überraschung erleben! Wir sprechen aus Erfahrung.

Jean Tiroles Forschung ist ein Musterbeispiel für den Umgang mit ökonomischen Modellen. Einerseits: Ohne Modell sieht der Ökonom genause wenig wie der Kurzsichtige ohne Brille. Je einfacher das Modell, desto schärfer die Brille. Andererseits: Das richtige Modell hängt vom Zweck ab, wie Jean Tirole auf dem Gebiet der Industrieökonomik immer wieder gezeigt hat.

Am meisten freut uns, dass mit Jean Tirole ein Ökonom geehrt wurde, der mit ungeheurem Einsatz an Arbeit und völlig ideologiefrei wichtige Fragestellungen angegangen ist.

Bankenrettung ohne Staat?

Urs Birchler

Der portugiesische Banco Espírito Santo muss (trotz Werbung durch Cristiano Ronaldo) gerettet werden. „Ohne Staatsgeld“, lügen die Verantwortlichen. Die Elemente der Rettung:

  1. Die Bank wird aufgespaltet in eine „bad bank“ und eine gute namens Novo Banco.
  2. Der Novo Banco erhält eine Finanzspritze von 4,9 Mrd. Euro.
  3. Der Novo Banco wird (bis zu einem Verkauf) übernommen von einem Auffang-Fonds, den die Banken selbst gebildet haben. Der Fonds hat aber nur wenig Mittel; der grösste Teil der 4,9 Mrd. Euro bestehen deshalb in einem Hilfskredit des Staates (aus Geldern der „Troika“, genauer: aus dem IMF/EU-Hilfsprogramm für Portugal).
  4. Die normalen Einleger kommen in die gute Bank; Aktionäre (von der Börse seit Juni schon mit einem Verlust von 90% gebeutelt) sowie nachrangige und „junior“ Gläubiger und erhalten die „bad bank“.

Die gute Seite: Aktionäre und ungeschützte Gläubiger werden nicht gerettet. (Ob auch Cristiano Ronaldo die bis 2022 versprochenen Werbeeinnahmen verlieren wird?). Die schlechte Seite: Ohne Geld vom Staat geht es immer noch nicht. Erstens ist auch Geld aus einem Banken-Rettungsfonds Steuergeld, nur wurde es anstatt von den allgemeinen Steuerzahlern von den Banken erhoben. Die guten Banken zahlen also für die schlechten. Zweitens war der Hilfskredit von knapp 5 Mrd. Euro kaum zu den geltenden Bedingungen am Markt erhältlich. Der portugiesische Staat subventioniert also den Novo Banco durchaus — trotz allen gegenteiligen Beteuerungen. Und hinter ihm (falls er nicht zahlen kann) die europäischen Geldgeber und der IMF (also ein kleines bisschen auch der Schweizer Steuerzahler).

May the force be with you!

Urs Birchler

Star Wars-Fans kennen diesen Satz als Abschiedsgruss zwischen Jedis. Als George Lucas, der Regisseur der Star Wars-Filmreihe, bei einer deutschen Privatfernsehstation sagte, „May the force be with you!“, übersetzte der anscheinend leicht überforderte deutsche Simultanübersetzer (x) jedoch: „Am vierten Mai sind wir bei Ihnen.“ [hat tip: Michael Laricchia]

Warum berichten wir darüber in einem Blog zur Wirtschaftspolitik? Erfunden hat die Pointe die Partei von Margaret Thatcher als Glückwunsch zu deren Amtsantritt als britische Premierministerin am 4. Mai 1979: „May the fourth be with you!“. Seither feiert die Star Wars-Gemeinde den 4. Mai als (Star Wars Day). Umstritten bleibt laut NZZ, welche Schweizer Partei das geistige Erbe von Frau Thatcher vertritt. Die wahren Jedis unter unseren Politikern erkennt man am kommenden Sonntag, 4. Mai, am blauen Laserschwert.

lightsaber

Die abschliessende — je nach dem, gute oder schlechte — Nachricht: Es folgt noch eine Folge Star Wars VII, das ist dann aber scheint’s die letzte.

[Jonas Kocher teilt per Twitter mit: Es geht weiter mit VII bis IX]

Ritalin-Schwindel zum zweiten

Urs Birchler

Die Anti-Ritalin-Sekte hat wieder zugeschlagen. Der Tages-Anzeiger online entblödet sich nicht, heute dieselben Legenden nochmals abzudrucken, die wir in der NZZaS, bzw. hier und hier bereits entlarvt haben.

Wiederum spiel der Soziologe Pascal Rudin eine Hauptrolle. Er zitiert diesmal auch eine Studie, genauer „die amerikanische MTA-Studie (Multimodal Treatment Approach)“ (ohne den altmodischen Luxus einer genaueren Quellenangabe). Da aber die Studie an 579 Kindern durchgeführt wurde, kann man sie identifizieren. Und siehe da: Die Studie stammt aus dem Jahr 1999 und findet eine klare Überlegenheit der (von Rudin verteufelten) medikamentösen Behandlung gegenüber von Verhaltensorientierten Therapien (Rudin sVorliebe) [sehr ähnlich eine Studie aus von 2001]:

Conclusions For ADHD symptoms, our carefully crafted medication management was superior to behavioral treatment and to routine community care that included medication. Our combined treatment did not yield significantly greater benefits than medication management for core ADHD symptoms, but may have provided modest advantages for non-ADHD symptom and positive functioning outcomes.

Rudin behauptet laut TA, „dass die Einnahme von Methylphenidat nach 14 Monaten zwar Vorteile zeigte. Nach drei Jahren Einnahme jedoch waren diese nicht mehr nachweisbar und es zeigten sich sogar Nachteile gegenüber nicht-medikamentöser Hilfen.“ Diese Behauptung ist einmal mehr erlogen und erstunken. Wie schon die im TA wiederholte Behauptung Rudins, in der Schweiz seien 95 Prozent der Ritalin-Verschreibungen überflüssig.

Der TA meint, Ritalin werde jahrelang ohne Diagnose verschrieben. „Dies bestätigen auch Erfahrungsberichte von Betroffenen.“ Wir können versichern: Wir haben nach unserem Artikel in der NZZaS fast zwei Dutzend Zuschriften erhalten von Betroffenen, die uns alle gedankt haben. Niemand hat geschrieben: Ich hätte kein Ritalin bekommen sollen.

Ungeeignete Leverage Ratio?

Urs Birchler

Der Tages-Anzeiger lobt die Universität Zürich für die Wahl der Bankenkritikerin Anat Admati zur Ehrendoktorin: „Ihre Ehrung markiert Distanz zum Bankenplatz: zur UBS, die ein eigenes Kompetenzzentrum sponsert [das UBS Center for Economics in Society], und zum Swiss Finance Institute, das von den Banken finanziell unterstützt wird. Regulierungsfragen werden dort mehr als zurückhaltend behandelt.“ [Hyper-Links von uns eingesetzt.]

Dass uns der TA Unabhängigkeit attestiert, ist erfreulich. Er hätte noch erwähnen können: Am Institut für Banking und Finance und dessen Zentrum für Finanzmarktregulierung (ZeFiR) nehmen wir ständig zu Regulierungsfragen Stellung. (Das Institut erhält m.W. keine Gelder von Grossbanken und ist nicht zu verwechseln mit dem bankenfinanzierten SFI.)

Ferner hat der TA mit dem Zitat „Ungewichtete Kapitalquoten sind völlig ungeeignet, um das «Too big to fail»-Problem zu managen“ ein unglückliches Beispiel erwischt. Die Aussage stammt aus einem White Paper des SFI, verfasst unter der Leitung von Prof. Jean-Charles Rochet (UZH). Das Paper zieht Bilanz zur Diskussion um die Kapitalkosten und kommt zum — keineswegs bankenfreundlichen — Schluss, dass der Nutzen höherer Eigenmittel der Banken die Kosten vor allem aus gesamtwirtschaftlicher Sicht klar übersteigen dürfte.

Eine Leverage-Ratio als einzige Eigenmittelanforderung für Banken ist gleichwohl ungeeignet. Eine solche würde das Bankgeschäft in die riskantesten Ecken abdrängen. Wenn Anat Admati fordert, die Banken sollen Eigenmittel von 20% der Bilanz haben, heisst dies nicht, dass diese Eigenmittel durch eine alleinige Leverage-Ratio erzwungen werden sollen.

Wir können Anat Admati selber fragen. Morgen Dienstag, 17 Uhr, hält sie einen öffentlichen Vortrag an der UZH.

Ehrendoktor an Banken-Kritikerin

Urs Birchler

Die Ökonomin Anat Admati ist seit heute Ehrendoktorin der Universität Zürich. Damit wurde diese Ehre nach Doug Diamond zum zweiten Mal hintereinander an eine(n) Vertreter(in) der Banken- und Finanztheorie vergeben.

Die ehemalige Studentin der Hebrew University, Jerusalem, ist heute (mit einem PhD von Yale) Professor of Finance and Economics in Stanford (CV). Ihre Forschung und Publikationen gelten Fragen der Informationsverarbeitung auf den Finanzmärkten und anderen Fragen auf dem Gebiet der sogenannten Mikrostruktur der Märkte.

Anat Admati gehört aber auch zur Gruppe jener Ökonomen, die nach der Finanzkrise aktiv die Öffentlichkeit gesucht haben und den Argumenten der Banken entgegengetreten sind. Das Buch The Bankers‘ New Clothes, verfasst mit Martin Hellwig, räumt auf mit den Argumenten der Banken, weshalb hohe Eigenmittel schädlich seien. Für Eilige: Eine kurze Zusammenfassung durch Admati im Video-Clip. Eine Zusammenfassung auf deutsch bei iconomix, in der FuW und in der FAZ.

Von selbsternannten Experten und schlafenden Medien

Monika Bütler

Eigentlich hatte ich gehofft, die NZZaS würde die Sache um einen angeblichen UNO Berater aus eigenem Antrieb aufnehmen. Mit „meinem“ Sonntagsblatt verbindet mich immerhin eine fast vierjährige Zeit als Kolumnistin. Es geht mir hier auch gar nicht um die NZZaS, ähnliche Phänomene lassen sich immer wieder beobachten. Wenn jetzt meine Lieblingssonntagszeitung Prügel erhält, dann auch deshalb, weil ich mir im konkreten Fall die Zeit für eine Recherche genommen habe – aus ganz persönlicher Betroffenheit.

Der Anlass: In der NZZaS vom 30. März wurde der Soziologe und „UNO Berater“ Pascal Rudin zum Thema ADHS und Ritalin interviewt.  Auf der Frontseite der NZZaS war sogar von einer bald eintreffenden UNO Rüge an die Schweiz die Rede. Nur: Rudin ist keineswegs UNO Berater sondern lediglich Repräsentant der International Federation of Social Workers (IFSW) an der UNO in Genf. Weder bei der IFSW noch bei der UNO in Genf taucht der selbstbewusste junge Mann für die Öffentlichkeit sichtbar in irgendeiner offiziellen Funktion auf. Auf eine entsprechende Rückfrage gibt Rudin unumwunden zu, dass er nicht UNO Berater ist. Er habe allerdings auf die Titelsetzung keinen Einfluss.

Der vermeintliche ADHS Experte hat somit – anders als den Lesern suggeriert wird – bei der UNO null und nichts zu husten. Die UNO wird auch die Schweiz so schnell nicht rügen und schon gar nicht auf „grundlegende ethische Prinzipien verweisen: Ärzte sollten uns therapieren, nicht unsere Leistung steigern.“ Dumm ist an dieser Aussage ohnehin, dass sie unter Bioethikern alles andere als unumstritten ist, wie ein richtiger Experte, der Bioethiker Udo Schuklenk in seinem Online Kommentar zum NZZaS Artikel schreibt.

Selbst wenn man vom haarsträubenden Inhalt des Interviews absieht (siehe dazu unsere Replik hier im batz.ch): Es ist schon bemerkenswert, wie weit es ein selbsternannter Experte bringen kann und noch mehr, dass niemandem die Täuschung auffallen will. Eine Woche später bezeichnet die NZZaS den Mann nämlich noch immer als UNO Berater.

Etwas ist hier schief gelaufen.

Fangen wir einmal beim Experten selber an. Die Situation erinnert ein wenig an die vermeintliche NASA Astronautin Barbara Burtscher vor einigen Jahren. Mit einem fundamentalen Unterschied: Barbara Burtscher lebte lediglich ihren naiven Traum aus und schadete ausser sich selbst niemandem – vielleicht mit Ausnahme einiger gutgläubiger Journalisten. Sie instrumentalisierte auch nicht die NASA, um ihre Sicht der Welt zu verbreiten. Dies ganz im Gegensatz zu Rudin, der die vorgespielte Nähe zur UNO benutzt, seine Weltanschauung unter dem Mäntelchen einer angesehenen Internationalen Organisation anderen aufs Auge zu drücken. Oder wie es der oben erwähnte Bioethiker Udo Schuklenk treffend formulierte: „Naja, dann muss es ja stimmen. Berufung auf Autoritäten hat ja oft schon Argumente ersetzen können, gelle?“

Natürlich kann man Rudin – wie damals Barbara Burtscher – nicht beweisen, die falsche Bezeichnung selber in die Welt gesetzt zu haben. Rudin hat allerdings auch nichts unternommen, als ihn die Medien fälschlicherweise zum Experten machten – immerhin war die NZZaS nicht die erste Zeitung, die ihn als UNO Berater bezeichnete. Nicht gerade ein ethisches Verhalten für jemanden, der mit Zeigefinger und Moralkeule die Gesellschaft nach seinen Vorstellungen verändern will.

Zum Gelingen der Geschichte reichte dies aber noch lange nicht. Es braucht dazu die Gutgläubigkeit der Medien, der Leser, sowie das Schweigen der richtigen Experten. Es ist schon erstaunlich: Aufschneider und selbsternannte Gurus gab es schon immer, aber noch nie war es so einfach, jemanden mit ein paar Klicks zu entlarven. Ein fünfminütiges Studium von Pascal Rudins Homepage hätte dazu genügt.  Diese zeigt ein ziemlich breit ausgewalztes und bunt ausgeschmücktes Portrait eines von sich selbst sehr überzeugten jungen Mannes mit noch nicht gerade berauschendem Leistungsausweis – aber keine eigentliche Fehlinformation. Die mediengerechte Selbstpromotion von Besserwissern und Weltverbesserern ist nur möglich, wenn die Medien nicht richtig hinschauen. Die Parallelen zur NASA Astronautin sind augenfällig.

Hellhörig müssten nicht nur die Medienschaffenden selber sein, sondern auch die Verwerter der Informationen, die Leser. Dies insbesondere dann, wenn respektierte internationale Organisation wie die UNO vorgeschoben und instrumentalisiert werden, um die Anliegen von Interessengruppen durchzusetzen. Die Online Kommentatoren und Leserbriefschreiber diskutierten zwar die Inhalte des Interviews, die Herkunft der „Expertenmeinung“ hingegen kümmerte kaum jemanden.

Zu guter Letzt gehört auch den richtigen Experten ein Tritt ans Bein. Für die Medien ist es nämlich oft fast unmöglich, von ausgewiesenen Fachleuten eine für die Allgemeinheit gut verständliche, wissenschaftliche Sicht auf ein Thema zu erhalten. Ich habe dies vor einiger Zeit in der NZZaS bereits thematisiert. Dass gewisse Forscher ihre Forscherkolleg(inn)en, welche ihr Wissen dem Publikum zur Verfügung stellen, abschätzig als Journalisten bezeichnen, spricht Bände.

Am Schluss vertraut also der selbsternannte Experte auf die Gutgläubigkeit der Journalistin, diese vertraut den Angaben des Interviewten. Die Leser und weitere Medien wiederum vertrauen der Zeitung und die richtigen Experten schütteln zwar den Kopf, schweigen aber.  Manchmal ist Kontrolle eben tatsächlich besser.

Ritalin-Verteufelung als Geschäftsmodell

Urs Birchler und Monika Bütler

Publiziert in der NZZ am Sonntag vom 6. April 2014.

Unwissenschaftlich – gefährlich – beängstigend. Das Interview mit dem Ritalin-Kritiker, Soziologen und angeblichen Uno-Berater Pascal Rudin in der NZZaS vom vergangenen Wochenende ist für uns als Familie mit einem ADHS-Buben ein Schlag in die Magengrube.

Ritalin ist das führende Medikament gegen die meist bei Kindern diagnostizierten Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Laut Rudin seien 95 Prozent der Ritalin-Verschreibungen in der Schweiz überflüssig. Diese Zahl ist frei erfunden. Umgekehrt weiss niemand, wie viele ADHS-Kinder Medikamente bräuchten, aber nicht bekommen. Noch dreister die längst widerlegte Behauptung: Ritalin führe zu Parkinson. Die Wirklichkeit: Ritalin wird heute als Mittel gegen Parkinson getestet! Es hat tatsächlich Nebenwirkungen – nur: Schlimmere Nebenwirkungen hat die Verweigerung von Ritalin an Kinder, die stattdessen den Verlockungen anderer beruhigender Substanzen (Alkohol, Nikotin, Drogen) erliegen.

Für Ärzte ist klar: ADHS ist keine gesellschaftliche Fehlentwicklung, sondern eine Krankheit. Und nur weil sie im Kopf ist, bringt man sie nicht einfach mit gutem Willen weg. Wir deuteten die Zappeligkeit und Wutanfälle bei nichtigstem Anlass im Kindergartenalter bei unserem Sohn noch als normales Kindsein. Spaghetti-Teller, die an die Wand flogen, wurden mit „ohne Znacht ins Bett“ bestraft. Die Schule ging zunächst gut; auch andere Kinder verlieren die Jacke oder lassen den Thek im Tram stehen. In der zweiten Klasse aber löste sich das Schriftbild unseres Älteren auf, er schaffte einfache Legomodelle nicht mehr, Anrufe der sehr verständnisvollen Lehrer wurden häufiger, Kameraden wandten sich ab, sein Selbstvertrauen zerfiel.

Ein befreundeter Arzt empfahl uns den Jugendpsychiatrischen Dienst. Familiengespräche, Abklärungen, Verhaltenskurs und die Diagnose: ADHS. Ganz zuletzt die verzweifelte Hoffnung namens Ritalin. Und tatsächlich: Unser Sohn ist heute ein immer noch zappeliger und zerstreuter Sechstklässler – von „ruhiggestellt“ keine Spur –, aber man kann seine Schrift lesen, er liest, liebt Mathe. Am allerwichtigsten: er hat wieder Freunde.

Die gängige Ritalin-Verteufelung verunsichert Eltern und zerstört Familien. Wissenschaftlich eindeutig belegt ist: Kinder mit ADHS-Symptomen haben – bei gleicher Intelligenz und Herkunft – schlechtere Noten, schlechtere Karrierechancen,und eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, eine Klasse zu repetieren und in der Drogensucht oder Kriminalität zu enden. Erwachsene mit unbehandeltem ADHS haben ein deutlich höheres Unfallrisiko. Wer diesen Kindern Ritalin vorenthält, prellt sie um die Chance auf einen Schulabschlusses, der ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht, auf ein entspanntes und gewaltfreies Leben.

Ritalin-Kritiker behaupten, ADHS habe es früher nicht gegeben. Tatsächlich sprach man nicht von ADHS, sondern band die unruhigen Störenfriede an die Stühle, warf sie später aus der Schule oder in die Sonderschule und sandte sie als billige Hilfskräfte auf einen Bauernhof.

Rudin haut auch wacker in die Kerbe „Ritalin versus Kreativität“. Wie bei der Angst vor den Ausländern scheint die Verteufelung von Ritalin umso ausgeprägter, je weiter jemand vom Problem entfernt ist. Besteht Kreativität in Schreikrämpfen, in verzappelten Nachmittagen über dann doch nicht gelösten Hausaufgaben und in Haarbüscheln von Bruders Kopf? Oder heisst Kreativität, auch mal stillsitzen können, Gedanken ordentlich aufschreiben und sich am Ende über eine gelöste Aufgabe oder eine gelungene Zeichnung freuen?

Kurz: Ritalin ist ein Segen für die Kinder, die es brauchen und – zugegebenermassen – für ihre Eltern. Es ist auch ein Segen für um Aufmerksamkeit ringende Geschwister, die, wie unser Jüngerer, das Glück haben, ihr Potential ohne Medikamente ausschöpfen zu können. Keine Mutter und kein Vater geben ihrem Kind leichtfertig Ritalin. Für viele ist es der letzte Ausweg.

Weshalb denn stürzt sich die Gesellschaft plötzlich auf ADHS-Kinder? Müssen Diabetiker fürchten, sich bald vor Insulingegnern rechtfertigen zu müssen? Sollen wir nächsten Winter heimlich zur Grippeimpfung gehen?

Das untrüglichste Anzeichen für Hexenjagd liefert Rudin gleich selbst: Die Mütter sind schuld. Sie seien es, die gegenüber den zögernden Vätern die Pille durchsetzen. Dass die Mütter auch den grössten Anteil an ADHS-bedingten Krisen abzuwettern haben, geht vergessen. Wetten, dass Mütter auch die meisten Fieberzäpfchen geben?

Damit bleibt die Kernfrage: Woher kommt die gesellschaftliche Ritalin-Hysterie, die zunehmende Bevormundung der Eltern? Und wie werden wir sie wieder los? Hier, endlich, wäre die Soziologie gefragt. Und genau hier bleibt Soziologe Rudin – mucksmäuschenstill.

Professor Shylock

Urs Birchler

Die Bretter, die das Geld bedeuten. Die Theaterregisseurin Claudia Brier inszenierte in Baden-Baden die erste Folge einer Trilogie des Geldes. Und der Professor, angeheuert als Berater im Hintergrund, steht plötzlich auf der Bühne. Gottlob: Die Zeitungen sind ganz zufrieden mit mir. Die Kommentare (Schauspieltalent, Glücksgriff) klingen jedenfalls eine Spur generöser als jeweils meine „teaching evaluations“.

Eine Enttäuschung blieb mir gleichwohl nicht erspart: In der Probe trug ich meinen Shylock-Text in meinem besten Bühnendeutsch vor. Mit meinem Vorschlag, den Wucherer doch besser mit Schweizer Akzent zu geben, stiess ich auf Begeisterung. „Ja, genau so, wie Du ihn eben vorgetragen hast!“ Ich gab dann kleinlaut doch noch eine Probe mit Akzent. „Nee, das verstehn’se nich.“ Sollte ich wirklich einmal Hochdeutsch sprechen müssen, bleibt mir nur die Entgegnung von Friedrich Dürrenmatt: „Ich kann nicht höher.“