Verschuldung und Demographie: Wann werden Staatsanleihen toxisch?

Ein Meinungsartikel in der Süddeutschen Zeitung hat es kürzlich auf den Punkt gebracht: Staaten sind jetzt die Sorgenkinder der Finanzmärkte. Der Verlauf der Finanzkrise mit ihrem jüngsten Höhepunkt, der Schuldenkrise in der EU, macht deutlich, dass die Kreditaufnahme entscheidend vom Vertrauen der Anleger (und der Gunst der Spekulanten) abhängt. Schwindet das Vertrauen in die Kreditwürdigkeit — sprich die Erwartung, dass die Schulden auch zurückgezahlt werden können — trocknen die Finanzierungsquellen schnell aus und es werden saftige Risikoaufschläge fällig. Bisher dachte man eben, Staaten werden immer ihre Schulden begleichen. Doch plötzlich scheint dieses Grundvertrauen erschüttert, weil nicht mehr klar ist, ob und wie Länder wie Griechenland ihr Defizit reduzieren und ihren Schuldenberg mittelfristig abbauen sollen. Außerdem erscheint in Zeiten historisch niedriger Zinsen auch die Angst vor Staatsbankrotten ein willkommenes Phänomen zu sein, um Zinsforderungen (Risikoprämien) zu erhöhen. Dabei sind die Probleme nicht neu; einige Länder — wie z.B. Griechenland — schieben schon geraume Zeit vergleichsweise hohe Schuldenberge vor sich her.

Ein anderer Aspekt der Schuldenproblematik ist dagegen bisher in der Öffentlichkeit kaum thematisiert worden:  die sich bereits seit längerem abzeichnenden demographischen Verwerfungen. Schliesslich spielt das Entwicklungs- und Produktionspotential einer Volkswirtschaft eine entscheidende Rolle dafür, wieviele Schulden sich ein Land leisten kann. Das Produktionspotential hängt wiederum unmittelbar von der demo­graphischen Entwicklung ab; vor allem davon, wie groß die Erwerbsbevölkerung relativ zur Gesamtbevölkerung ist und wie produktiv diese Erwerbsbevölkerung ist. Alterung und die Pensionierung geburtenstarker Jahrgänge werden hier spürbare Veränderungen auslösen, die nicht unbedingt „defizitfreundlich“ sein dürften. Im Gegenteil: die Belastung der Sozialkassen wird bei gleichzeitig schrumpfender Erwerbsbevölkerung zunehmen. Die aktuelle Vertrauenskrise auf den Finanzmärkten macht dieses Szenario umso bedrohlicher, denn überschuldete Staaten, deren Defizite durch die Krise ansteigen, haben in Zukunft auch mit größeren strukturellen Belastungen zu rechnen.

Ein BIS discussion paper von Cecchetti, Mohanty und Zampolli bringt diese Problematik auf den Punkt: Nimmt man die gegenwärtigen krisenbedingten Defizite und schreibt die demographiebedingten strukturellen Defizite in die Zukunft fort, so kommt man schnell auf Schuldenszenarien, in denen die meisten Länder plötzlich sehr schlecht positioniert sind (interessanterweise besonders die USA und Großbritannien, weniger aber Italien —  was wiederum die Frage nach den zugrundeliegenden Annahmen aufwirft). Wie präzise diese Abschätzung im Detail auch sein mag, der Hauptpunkt ist richtig: Die Strukturprobleme werden sich in den Staatsfinanzen niederschlagen und die Krise verschärft diese Problematik noch weiter. Freilich wirft die Studie implizit die Frage auf, ab wann strukturelle Defizite als nicht mehr tragbar angesehen werden müssen und wann der Schuldenberg einfach zu hoch ist, um je abgetragen werden zu können. Die Anleger werden diese Frage mit entsprechend höheren Risikoprämien beantworten mit dem für sie angenehmen Nebeneffekt höherer Kapitalerträge.

Wer rettet den Euro vor seinen Rettern?

Ein verlängertes Wochenende in Paris als Geschichtslektion: Nicht das Kriegsende vom 8. Mai 1945 lieferte die Schlagzeilen, sondern die vom Staatspräsidenten geforderte „Generalmobilmachung“ gegen die Feinde des Euro.

Aux armes citoyens! — an Munition soll es nicht fehlen. Während ich schreibe, wird ein Hilfspaket von 600 Milliarden Euro geschnürt. Dieses ist allerdings nicht die Lösung, sondern recht eigentlich das Problem.

Ich habe nie ganz verstanden, weshalb der griechische Staatshaushalt ein Problem für den Euro darstellt. Griechenland hätte Zahlungsunfähigkeit erklären können — unangenehm, auch für die Gläubiger(banken), doch was soll das dem Wert des Euro anhaben? Oder Griechenland hätte aus der Währungsunion austreten können; technisch anspruchsvoll und wirtschaftlich schmerzhaft — aber sicher kein Problem für den Euro; eher hätte das Ausscheiden eines bankrotten Staates den Euro noch gestärkt.

Viel gefährlicher ist die Fehlleistung der europäischen Politiker, erstens das Griechenland-Problem zum Euro-Problem zu erklären, und zweitens den Euro „retten“ zu wollen. Bereits beschlossen ist offenbar der Aufkauf der Schulden gefährdeter Mitgliedstaaten. Dies läuft letztlich auf eine indirekte Monetisierung der Staatsschulden hinaus. Die „Rettung“ des Euro kostet soviel Geld, dass die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank in Gefahr gerät. Sobald die Finanzmärkte Inflation wittern, bauen sie diese in die Zinssätze ein. Dann beginnt sich die griechische Spirale für alle Euro-Länder zu drehen. Drum — Rettet den Euro vor seinen „Rettern“!

P.S.: Fast visionär klingt aus heutiger Sicht das Referat von Otmar Issing vom 24. März 1999 (Beispiel: Die Wirksamkeit der „no bail out“ Klausel in Artikel 104b des Maastrichtvertrages müßte ihren Test, der hoffentlich niemals gefragt ist, erst noch bestehen). Die Rede bietet in Kürze alles wichtige zum Thema Geld- und Fiskalpolitik im Euro-Verbund.

Island: Bitte nichts zahlen!

Sollen die isländischen Stimm-Bürger am 6. März ja oder nein sagen zum sogenannten Icesave Deal mit Grossbritannien und den Niederlanden? Sie sollten nein sagen, aber nicht nur das. Island sollte sofort sämtliche Ausslandsschulden widerrufen. Das läge sogar im Interesse der Gläubigerländer und Europas als ganzes.

Inke Nyborg hat die nachstehenden Zahlen (auf der Basis einer detaillierteren Tabelle) zusammengestellt. Island steht ungefähr dort, wo Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg stand. Im Verhältnis zur jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes entsprechen die isländischen Schulden (244%) genau den Reparationsforderungen der Sieger an das besiegte Deutsche Reich.

Deutschland hatte zwar einen höheren Ausgangsbestand an Schulden (648%); diese lauteten aber grösstenteils auf Reichsmark und wurden durch die Hyperinflation von 1922-23 „getilgt“. Die seitens der Sieger von Deutschland geforderten Reparationszahlungen hingegen waren in Gold festgesetzt, so wie die isländischen Schulden auf ausländische Währungen (v.a. Euro) lauten. Diese Schulden sind genauso unbezahlbar wie es die deutschen Reparationforderungen waren.

Der Unterschied: Deutschland ist ein Land in der Mitte Europas mit, damals, 60 Mio. Einwohnern. Island ist eine Insel am Rande Europas mit rund 300’000 Einwohnern. Jeder dieser Einwohner, vom Baby bis zum Greis, schultert Auslandsschulden im Wert von hunderttausend Dollars. Den Isländern bleibt die Wahl zwischen erdrückenden Steuern oder die Emigration (ins Ausland oder in die Subsistenzwirtschaft). Doch für jeden Isländer, der sich entzieht, wird die Bürde noch schwerer für die Zurückbleibenden. Kurz — es gibt keine Alternative zum Default, dem Abstreiten der Schulden und Neubeginn. Am besten jetzt gleich. Die Icesave-Abstimmung ist nur Begleitmusik.

Ein Default läge auch im Interesse der Gläubiger. Ein auf Jahrzehnte zahlungsunfähiges, wirtschaftlich totes Land nützt niemandem; ein Land, das bei null beginnen kann, in dem auch wieder rentabel investiert werden kann, schon. Natürlich sind die Isländer ein Stück weit selbst schuld. Auch die Deutschen waren mitschuldig am Ersten Weltkrieg. Dennoch wäre es traurig, wenn die Sturheit der Gläubiger wieder ein Land in die Katastrophe treiben würde.

Jedenfalls wird die auf morgen, 16. Februar, vorgesehene  Publikation der Isländischen Bevölkerungsstatistik plötzlich zu einem interessanten Ereignis.

Die Bank, dein Hirte

Die Banken sind in letzter Zeit arg gescholten worden für das Voranstellen der eigenen Interessen vor jene der Geldgeber oder der Allgemeinheit (moral hazard). Drum muss man ihnen jetzt auch zugute halten, dass sie ihre Kunden gegenüber den Steuervögten in Schutz nehmen. „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht.“ (Johannes 10, 11-12)

Zwischen weissen und schwarzen Schafen hat der Evangelist nicht unterschieden. Das Zitat habe ich allerdings nicht bei der Suche nach biblischer Rechtfertigung des Bankgeheimnisses gefunden, sondern in einem Konferenzprogramm zu „Ökonomik in der Krise“ (Dank an Diana Festl-Pell).

Asche auf mein Haupt!

Gestern beklagte ich das Schweigen der Banken und lag komplett falsch: In der heutigen Ausgabe des Economist melden sich Paul Colello (CEO Investment Banking Credit Suisse) und der Wilson Ervin (früherer Chief Risk Officer) machtvoll zum Wort. Kurz, verständlich, und fadengrad aufs Ziel zu. Gratulation!

Die beiden schlagen vor, bei einer bedrohten Bank auf Beschluss der Aufsichtsbehörde die Aktionäre weitgehend zu enteignen und Schulden (v.a. nachrangige) in neue Aktien umzuwandeln. Der Vorschlag trifft den Nagel auf den Kopf, weil Insolvenz bedeutet, dass mehr Ansprüche da sind als Vermögen. Wenn niemand Vermögen einschiessen will (auch nicht der Staat), bleibt nur eine Kürzung der Ansprüche. Um diese Grundtatsache der Insolvenzbehebung kommt niemand herum. Bei einer Bank müssen die Ansprüche in einem Federstrich, ohne langwieriges Konkursverfahren, gekürzt werden können.

Der Vorschlag ist zwar gut, aber anders als der Economist glaubt, nicht „neu“. Die Grundidee — häufig verkürzt „debt-equity-swap“ genannt — geht auf Vorschläge zum von Ökonomen wie Lucien Bebchuk und Oliver Hart zurück. Der Grundgedanke ist im schweizerischen Bankengesetz seit der Revision im Jahre 2003 bereits umgesetzt. Weil das Gesetz sehr knapp formuliert ist, lohnt sich ein Blick in den damaligen Erläuterungsbericht oder in meinen Artikel (mit Dominik Egli) in der Schweizerischen Zeitung für Volkswirtschaft und Statistik.

Weshalb die UBS trotzdem nicht durch einen „debt-equity-swap“ gerettet werden konnte? Weil das Schweizerische Bankinsolvenzrecht nicht automatisch für Unternehmensteile im Ausland gilt. Bruchstellen zwischen Schweizer Geschäft und internationalem Geschäft sind also zusätzlich erforderlich.

Trotzdem hätten Colello und Ervin eigentlich eine Wildcard für die Arbeitsgruppe des Bundes zum Too-big-to-fail Problem verdient.

Muttersprache Schweigen

Vor Jahren hatte ich eine Sitzung mit einem Tessiner Bankier. Ich fragte ihn, ob er lieber Englisch, Deutsch oder gar Italienisch spreche. Das sei ihm egal, erwiderte er, „früher war unsere Muttersprache Schweigen“. Ich habe oft an ihn gedacht, zuletzt wieder im Zusammenhang mit der faktischen Staatsgarantie der Grossbanken. Alle Welt redet davon — nur die Banken selber nicht, obwohl sie den Schlüssel zur Lösung des Problems in der Hand hätten. Ich erwähnte das kürzlich im Interview mit NZZ Online (siehe Eintrag vom 15. Januar 2010).

Heute nimmt NZZ Online den Faden wieder auf unter dem Titel „Too big to remain silent“. Der Journalist, Marco Metzler, hat nachgefragt. Die Banken haben geantwortet. Leider in ihrer Muttersprache. Man muss kein Sherlock Holmes sein, um das Schweigen der Banken zu verstehen.

Dr. Watson: „Der Hund hat doch gar nicht gebellt.“ —

Sherlock Holmes: „Eben“.

Woraus er schloss: Der Hund hatte ein Stück Fleisch im Mund (Sir Arthur Conan Doyle, Silver Blaze (1892)).

Das Rezept zum Tag

Alle Pendler im Raum Zürich, die heute dank rechtzeitig erkämpftem Sitzplatz im 20Minuten bis Seite 11 vorgedrungen sind, wissen es jetzt: Es gibt unter der bestehen Rechtslage kein Rezept gegen den Zusammenbruch einer Grossbank — ausgenommen die fatale Staatshilfe. Sagt der Birchler. Für diejenigen, die im Stehen nicht lesen konnten, sei der Link hier nachgeliefert. Die Internet-Suche nach „Birchler 20 Minuten“ führt nämlich unter Umständen zu einem anderen Rezept. (Dessen Zubereitungszeit beträgt 20 Minuten, und mit dem Namen pflegten mich meine Schulkollegen zu hänseln.) Immerhin stimmt die Grundidee: Gesunde Zutaten und ausgewogene Diversifikation — das wäre schon fast eine Vorbeuge der Banken gegen die Notwendigkeit staatlicher Kraftspritzen.

Daumendrücken für Philipp Hildebrand

Die Pole-Position in diesem Wirtschaftsblog ist schnell vergeben. Für mich kommt kein anderer in Frage als Philipp Hildebrand, der neue Präsident des Direktoriums der Schweizerischen Nationalbank. Zugegeben, ich bin voreingenommen. Philipp Hildebrand war während gut zwei Jahren mein Chef. Deshalb darf ich ihn auch nicht loben; dies würde nach indirektem Selbstlob riechen. Zudem haben es andere gesagt: Sein Pech, kaum 100 Tage vor dem Ausbruch der Finanzkrise das für die Finanzstabilität zuständige II. Departement der SNB zu  übernehmen, war unser Glück.

Wenn er nun in der Mitte der SNB-Kommandobrücke steht braucht Philipp Hildebrand selber Glück. Er steht nämlich vor einer für die SNB neuen Herausforderung. Bisher ging es darum, die Reputation in der Geldpolitik nicht aufs Spiel zu setzen mit einem Misserfolg in der Finanzmarktstabilität. In nächster Zukunft liegt die Sache genau umgekehrt. Die SNB darf sich keinen Fehler in der Geldpolitik leisten, um ihre Reputation in der Finanzmarktstabilität nicht zu gefährden.

Philipp Hildebrand hat sich nämlich auf die Fahne geschrieben, endlich die verhängnisvolle faktische Staatsgarantie für grosse oder anderweitig systemrelevante Banken abzubauen. Ohne das gegenwärtige Prestige der SNB und ihres neuen Präsidenten in der Finanzmarkt- und Bankenstabilität gelingt dieser Kraftakt nicht. Zu gross sind die Widerstände der betroffenen Banken, die ihr Privileg verteidigen — mit Angriff direkt auf den Mann: bereits liest man “von Ehrgeiz getriebener Aktivist”, “Regulator mit missionarischem Eifer” (NZZ am Sonntag). Auch verbal haben unsere Grossbanken einiges im Giftschrank.

Drum drücke ich Philipp Hildebrand beide Daumen. Möge er das das notwendige Quentchen Glück in der Geldpolitik haben, damit seine Gegner in der Diskussion zur Bankenregulierung wenigstens Sachargumente auspacken müssen. Diese möchte ich nämlich nach über zwei Jahrzehnten bei der Nationalbank endlich auch gerne kennen.